Vor gut einem Monat ist im “Spiegel” ein großer Artikel über “Die perfekte Bombe” erschienen (online nur mit Abo lesbar, als englische Übersetzung auch ohne Abo lesbar). Die Autoren Uwe Buse, Christoph Reuter und Thore Schröder rekonstruieren darin, wie es im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut zu der riesigen Explosion kommen konnte, die Anfang August mehr als 200 Menschen tötete und weite Teile Beiruts verwüstete.
Der “Spiegel” hat Dokumente zusammengetragen, mit vielen Leuten vor Ort gesprochen und den Weg der 2750 Tonnen Ammoniumnitrat nachgezeichnet, die für die Explosion sorgten. Das Ergebnis dieser Recherche widerspricht Behauptungen der “Bild”-Medien in entscheidenden Punkten.
Zur Erinnerung: Keine 48 Stunden nach der Explosion stand für die “Bild”-Autoren Julian Röpcke und Mohammad Rabie schon fest, wer Schuld hat. Sie hatten ihre grobe Freund-Feind-Schablone über das Thema gehalten – und siehe da:
Das war dann vielleicht doch etwas zu flott formuliert. Bild.de änderte die Überschrift und fügte immerhin ein Fragezeichen hinzu:
Schon einen Tag zuvor schrieben dieselben “Bild”-Autoren über eine mögliche Rolle der Hisbollah:
Unterlagen oder Aussagen, die belegen, dass die Terrormiliz Hisbollah etwas mit dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen zu tun hatte, sind bis heute nicht bekannt. Röpcke und Rabie ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken und schrieben am 6. August:
BILD-Recherchen zeigen: Die Terrororganisation Hisbollah trägt zumindest eine Mitverantwortung, wenn nicht gar die alleinige Schuld an der Tragödie [in Beirut].
Ihr “Verdacht”: Das Ammoniumnitrat sollte gar nicht, wie offiziell angegeben, nach Mosambik geliefert, sondern im Beiruter Hafen “in Hisbollah-Reichweite” gebracht werden. Und es wird …
Es wird noch irrer: Die libanesische Firma “Majid Shammas & CO.”, fast gleichnamig mit der 1967 von Israel eroberten Stadt “Majdal Shams” im Golan, bietet Anfang 2014 an, die knapp 3000 Tonnen Sprengstoff zu kaufen. Die Firma hatte bereits 2013 heimlich Sprengstoff an Syrien-Diktator Assad verkauft – einen der engsten Verbündeten der Hisbollah.
Das ist die Verbindung, die Röpcke und Rabie zwischen dem Ammoniumnitrat und der Hisbollah herstellen und auf der der Schuldspruch der “Bild”-Redaktion fußt: Die Firma “Majid Shammas”, die Hisbollah-nah sein soll:
Unterlagen des Zolls, die BILD vorliegen, enthüllen: Zwei Zolldirektoren drängen im August 2016 und Juni 2017 ein libanesisches Gericht, dem Kauf durch die offenbar der Hisbollah nahe Firma zuzustimmen. Erstens handele es sich um “gefährliche Materialien”, die “unter unangemessenen Außenbedingungen im Lager aufbewahrt” würden. Zweitens könne “die Fracht auch, wie von der Armee empfohlen, an das libanesische Sprengstoff-Unternehmen ‘Majid Shammas’ verkauft werden”.
(Die Episode, in der Julian Röpcke und Mohammad Rabie anfangs den Namen des Unternehmens falsch mit “Majdal Shams” übersetzt und daraus eine ziemlich wilde Spekulationskette entwickelt haben, lassen wir in diesem Beitrag mal komplett weg – man kann sie detailliert hier nachlesen.)
In der ausführlichen “Spiegel”-Rekonstruktion geht es auch um den Vorschlag der libanesischen Armee, das Ammoniumnitrat an eine Sprengstofffirma zu verkaufen:
Die zwischenzeitlich angefragte libanesische Armee teilte mit, sie habe keinen Bedarf an 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Stattdessen schlug sie vor, die Säcke an einen Sprengstoffhändler zu verkaufen. Der lehnte ebenfalls ab: Er sei nicht interessiert an Ammoniumnitrat unklarer Herkunft und Qualität.
Christoph Reuter, einer der “Spiegel”-Autoren, sagte uns auf Nachfrage, dass es sich bei diesem Sprengstoffhändler um die Firma “Majid Shammas” handelt. Es liege ein Schreiben der Firma vor, aus dem klar hervorgehe, dass sie kein Interesse an dem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen habe.
Das heißt: Die angeblich Hisbollah-nahe Firma, die laut “Bild” endlich dafür sorgen sollte, dass das Ammoniumnitrat in die Hände der Hisbollah gelangen kann, wollte das Ammoniumnitrat gar nicht haben und lehnte einen Kauf ab.
Auch die Mutmaßung von Röpcke und Rabie, warum der Richter den Bitten der Zolldirektoren nicht nachkam, basiert auf einer falschen Grundannahme. Die “Bild”-Autoren schrieben:
Doch der Richter bleibt stur. Aus bislang unklaren Gründen antwortet er weder mit Ja noch mit Nein. Ein Insider zu BILD: Dies könnte ein Akt zivilen Ungehorsams gewesen sein, um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.
Im “Spiegel” steht:
Zollchef Shafiq Merhi will die Ladung offenbar nicht entsorgen. Im Gegenteil: Beim Eilgericht beantragt er, das Schiff beschlagnahmen und versteigern zu dürfen. Das Schiff, argumentiert er, könne jederzeit sinken, es stelle eine Gefahr für den Hafen dar.
Da das Eilgericht nur für Notfälle zuständig ist, ordnet der Richter am 27. Juni 2014 lediglich an, die Ladung “an einen sicheren Ort zu bringen” und das Schiff anschließend aus dem Hafenbecken zu ziehen. (…)
Ende Oktober 2014 werden die 2750 Säcke ausgeladen und in die Halle 12 gefahren, eine Art Resterampe für Gefahrgüter aller Art. Zuständig für diese Art von gefährlichen Gütern: Shafiq Merhi, der Zollchef, und Badri Daher, beim Zoll verantwortlich für die Ladungskontrolle.
Dass die beiden nicht wussten, dass das Eilgericht für Eigentumsfragen gar nicht zuständig war, ist unwahrscheinlich. Vermutlich wollten sie nur dokumentieren, wie sie ihrer Verantwortung gerecht wurden – ohne dass sich etwas änderte. Noch drei Jahre lang werden sie denselben Antrag immer wieder an dasselbe Gericht stellen und immer dieselbe Antwort erhalten: dass dieses Gericht die Eigentumsverhältnisse der Ladung nicht klären und folglich auch keinen Verkauf genehmigen könne.
Anders als von “Bild” behauptet, hat das Gericht also durchaus geantwortet: dass es nicht zuständig ist. Es handelte sich damit nicht, wie “Bild” schreibt, um einen “Akt zivilen Ungehorsams”, “um die Terror-Organisation Hisbollah davon abzuhalten, in Besitz des Sprengstoffs zu kommen.”
Im “Spiegel”-Artikel spielt die Hisbollah generell keine Rolle, sie wird nicht einmal erwähnt. Christoph Reuter sagte uns, dass er und seine Kollegen bei der Recherche auf keine nennenswerten Verbindungen zur Miliz gestoßen seien. Und Reuter steht nun wahrlich nicht im Verdacht, rücksichtsvoll mit der Hisbollah umzugehen: Im September erst schrieb er in einem “Spiegel”-Artikel über die düsteren Machenschaften der Terrororganisation.