Archiv für August 9th, 2016

Vollkommen normale Katastrophen

Mal angenommen, man würde einen ziemlich spektakulären Betrug planen. Wie ginge man vor?

Am wichtigsten wäre wohl, dass man nicht auffällt. Man müsste wie jemand erscheinen, der in ganz normaler Absicht ganz normale Dinge erledigt. Man müsste sich perfekt an die Umgebung anpassen, wie ein Schauspieler in eine Rolle schlüpfen und sich mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit so verhalten, dass der Betrogene keine Chance hat, auch nur irgendeinen Verdacht zu schöpfen.

Ralf Heimann hat vor ein paar Jahren aus Versehen einen Zeitungsbericht über einen umgefallenen Blumenkübel berühmt gemacht. Seitdem lassen ihn abseitige Meldungen nicht mehr los. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt zusammen mit Jörg Homering-Elsner “Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst — Perlen des Lokaljournalismus”. Im August erscheint von Daniel Wichmann und ihm “Hier ist alles Banane — Erich Honeckers geheime Tagebücher 1994 – 2015”. Fürs BILDblog kümmert er sich um all die unwichtigen Dinge, die in Deutschland und auf der Welt so passieren.
(Foto: Jean-Marie Tronquet)

In Amberg in der Oberpfalz ist ein 43-jähriger Mann am vergangenen Freitag in eine Bank gegangen, hat einen Barscheck über 150 Millionen Euro auf den Tisch gelegt und den Bankangestellten angewiesen, das Geld auf mehrere Konten im Ausland zu verteilen.

Als wäre das nicht schon genug, standen auf dem Scheck laut “Mittelbayerischer Zeitung” auch noch die gefälschten Unterschriften zweier Vorstände der Deutschen Bank. Man hätte von fast 82 Millionen Menschen in Deutschland einen beliebigen fragen können, wie dieser Fall ausgehen wird, und alle hätte richtig gelegen. Nur dieser eine Mann nicht. Und ausgerechnet der hatte den Scheck dabei.

Aber es ist ja nicht nur bei Betrügereien, sondern eigentlich immer sehr wichtig, dass man den Anschein von Normalität erweckt. Sonst können schlimme Dinge passieren. Diese Annahme ist jedenfalls weit verbreitet.

Ich weiß nicht genau, was Pressesprecher in ihrer Ausbildung lernen, aber ich stelle mir vor, dass in jeder Pressesprecher-Ausbildung irgendwann auch Situationen auf dem Lehrplan stehen, in denen man einfach nicht mehr weiter weiß. Irgendwas ist schiefgelaufen, das nicht nur auf den ersten Blick nach heilloser Trotteligkeit aussieht. Jemand aus der Belegschaft hat etwas von großer öffentlicher Wirkung angestellt, das schon im eigenen Laden niemand versteht. Oder ganz allgemein: Es ist etwas passiert, das kein Mensch, schon gar nicht man selbst erklären kann.

In diesen Situationen gibt es immer noch eine letzte Rettung. Dann sagt man einfach: “Es handelt sich um einen ganz normalen Vorgang.”

In Erharting sollten in dieser Woche zwei Polizisten einen Pflegeheim-Besucher begleiten. Letztlich haben sie ihn erschossen. Der “Münchner Merkur” zitiert den Polizei-Sprecher mit dem Satz:

Das Zitat bezieht sich darauf, dass die Staatsanwaltschaft nun prüft, ob die Polizisten richtig gehandelt haben.* Es können die größten Katastrophen passieren, trotzdem geht alles unbeirrbar seinen ganz normalen Gang. Außerirdische landen am Brandenburger Tor? Dass die Polizei da mal vorbeifährt, ist ja wohl ein ganz normaler Vorgang.

Die Formulierung ist so etwas wie das “Bitte gehen Sie weiter”-Schild der Kommunikationsbranche. Sie ist mittlerweile sehr populär, auch jenseits von Pressestellen.

Wenn ein Trainer nach zwei gewonnenen Spielen zurücktritt, Archäologen in einem Neubaugebiet auf ein 7000 Jahre altes Haus stoßen, oder Polizisten bei einem Kollegen 25.000 Kinderporno-Bilder finden, kann man sich ziemlich sicher sein, dass das alles letztlich nur Folge eines ganz normalen Vorgangs ist.

Deswegen habe ich mich auch sehr gewundert, dass die Formulierung fehlte, als am Montag die Meldung von dem Chinesen die Runde machte, der angeblich nur einen Diebstahl melden wollte, aber aus Versehen einen Asylantrag unterschrieb.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass jemand Dokumente ungelesen unterzeichnet und sich nachher wundert, was er damit angerichtet hat. Ging Franz Beckenbauer damals wahrscheinlich ganz ähnlich. Plötzlich hat man die WM im eigenen Land.

Jetzt habe ich gerade mal gesucht. Und tatsächlich:

“Damals war das für uns ein ganz normaler Vorgang, weil wir dieses Konto von der Firma genannt bekommen haben, die damals das Ticketbüro der Fifa betrieb”, sagte der frühere DFB-Generalsekretär der Deutschen Presse-Agentur.

Aber noch mal zu dem Chinesen. Wer schon die Geschichte selbst unglaublich fand, hat die Bebilderung bei “Focus Online” wahrscheinlich noch nicht gesehen:

Schade eigentlich, dass die Leute bei “Focus Online” so wenig auf Zack sind. Mit dem Bild hätte sich aus der Story ja noch viel mehr machen lassen: Schnell alternder Chinese (31) unterschreibt aus Versehen Asylantrag und flüchtet auf fahrendem Koffer aus Flüchtlingsheim.

Das klingt doch gleich noch besser. Vielleicht hätte der Sachverhalt dann auch endlich alle Voraussetzungen erfüllt, um als ganz normaler Vorgang abgestempelt zu werden.

Diese Chance ist wohl vertan. Aber ich hätte hier noch was anderes. Das klingt jetzt wahrscheinlich weit hergeholt, aber haben Sie schon mal einen Seehund gefunden? Einen jungen Seehund?

Man weiß ja gar nicht, wie man sich verhalten soll, wenn so ein hilfloses Tier vor einem auf dem Boden liegt. Muss man es mitnehmen? Verhungert es sonst? Was, wenn die Mutter zurückkommt? So ein Seehund kann ja recht groß werden und ist wahrscheinlich auch nicht ungefährlich, wenn es um den Nachwuchs geht.

Aber das Baby einfach liegen lassen? Kann man das machen? Auf Anhieb schwer zu sagen. Doch keine Sorge. Die Polizeidirektion Osnabrück hat dazu am Montag eine Pressemitteilung herausgegeben:

Es ist natürlich alles ganz einfach. Fassen Sie den Seehund nicht an. Wählen Sie die Nummer der Seehundstation, wenn Sie sich nicht sicher sind, ob er Hilfe braucht, aber auf keinen Fall den Notruf, denn dazu gibt es keinen Anlass. Höchstwahrscheinlich ist alles in Ordnung. Vermutlich ist die Mutter nur schnell was zu essen holen und wird bald mit frischem Fisch zurück sein. Um es in den Worten der Osnabrücker Polizei zu sagen: “Es ist ein ganz normaler Vorgang”.

*Korrektur: Ursprünglich stand im Text, das Zitat des Polizeisprechers aus dem “Münchner Merkur” (“Ein ganz normaler Vorgang in einem solchen Fall”) beziehe sich darauf, dass die Polizisten sich gewehrt und geschossen haben. Es bezieht sich allerdings darauf, dass die Staatsanwaltschaft den Fall nun untersucht. Wir haben das korrigiert. Pardon für den Fehler!

Heinz Buschkowsky und das falsche “Pokémon”-No-Go im Islam

Jeden Mittwoch darf Heinz Buschkowsky “Klartext” reden. Immer wieder geht es in seiner Kolumne in der Berlin-Brandenburg-Ausgabe der “Bild”-Zeitung um Zuwanderung, genauer: um die negativen Aspekte der Zuwanderung. Darin ist der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln schließlich selbsternannter Experte.

In seinem aktuellen Text aber behandelt Buschkowsky ein ganz anderes Thema:

Bei Bild.de wird in der leicht abgewandelten Überschrift auch direkt klar, welche “Monster” er genau meint:

Auch nach mehrfachem Lesen seines Textes und entgegen dem Titel seiner Kolumne wird nicht ganz klar, wofür Buschkowsky nun eigentlich plädiert: mehr Spielhallen, weniger “Pokémon”? Mehr Monster, weniger Glücksspiel? Immerhin einen seiner Gedanken umreißt er eindeutig: Für Muslime sei “Pokémon Go” ein — Achtung, Wortspiel — No-Go.

Junge und Mittelalte starren auf ihr Handy und rennen scheinbar ziellos durch die Gegend. Autofahrer kümmert ihr Handy mehr als die Ampel, es werden Partys gefeiert oder mit Taschenlampen bis morgens um 5 Uhr Grünanlagen durchstöbert.

Das ist ziemlich irre, bringt Menschen aber in Bewegung. Die israelische Marine soll damit Soldaten anwerben, im Islam ist das Spiel bereits mit einer Fatwa verboten worden, weil die Figuren auf der Evolutionstheorie basieren.

War ja klar, der Islam wieder, ein weiteres Lieblingsthema von Buschkowsky.

Einziges Problem: Heinz Buschkowsky schreibt Quatsch. Nicht “im Islam” ist “Pokémon Go” per Fatwa verboten worden, sondern in Saudi-Arabien. Und das auch nicht erst gerade, sondern bereits vor 15 Jahren. Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal einen “Pokémon”-Hype. Die Fatwa von damals wurde in Saudi-Arabien nun für “Pokémon Go” erneuert.

Die “Deutsche Welle” schreibt dazu:

Der Rechtsgelehrte Scheich Saleh al-Fausan erklärte Medienberichten zufolge, das neue Spiel sei grundsätzlich wie das alte. In der Fatwa von 2001 wird Pokémon mit einem Glücksspiel verglichen. Weiter heißt es, die Figuren schienen auf der Evolutionslehre von Charles Darwin zu basieren. Beides wird vom Islam abgelehnt.

Der Islam in Saudi-Arabien, der Islam weltweit — solche Feinheiten interessieren Heinz Buschkowsky nicht, wenn er in “Bild” so richtig “Klartext” dampfplaudert.

Mit Dank an Martin für den Hinweis!

Nachtrag, 16:05 Uhr: Am vergangenen Samstag wurde “Pokémon Go” auch im Iran verboten, einen Tag zuvor hatten “Malaysias oberste islamische Autoritäten den Muslimen ihres südostasiatischen Landes das beliebte Handyspiel verboten”, schreibt heise.de. Sofern Heinz Buschkowsky nicht über seherische Fähigkeiten verfügt, konnte er davon aber nichts wissen — sein Text erschien am Mittwoch vergangener Woche.

Olympia-Gigantismus, Echtzeit-News, Anzeigenschwund

1. Das teuerste Nischenprogramm aller Zeiten
(faz.net, Frank Lübberding)
Der Journalist Frank Lübberding ächzt in seiner TV-Olympia-Kritik über die Rund-um-die Uhr-Berichterstattung von ARD und ZDF. Zu viel, zu pausenlos, zu hektisch. Und wer schaut eigentlich das Nachtprogramm? Lübberding schlägt einen Reset vor: “Da wäre es durchaus eine interessante Überlegung, wenn bei den nächsten Spielen ein Nischensender wie Eurosport aus Tokio berichten würde. Es wäre ein wirkungsvoller Beitrag, um die Olympischen Spiele von ihrem derzeitigen Gigantismus befreien, der in dieser Form der grenzenlosen Berichterstattung seinen öffentlich-rechtlichen Ausdruck findet.”

2. Britische Zeitungen: Gemeinsam gegen Facebook
(spiegel.de)
Seit Jahren verlieren Zeitungen Anzeigenkunden an Internetunternehmen wie Google und Facebook. In Großbritannien wollen sich nun Medienhäuser verbünden, die auf den ersten Blick nichts miteinander gemein haben: Die Zeitungen “The Sun”, ” The Guardian”, “The Daily Mail” und “The Times” wollen in einer “Machbarkeitsstudie” herausfinden, wie man das schrumpfende Anzeigengeschäft beleben kann.

3. Was immer geschieht, Sie sind live dabei
(faz.net, Fabienne Hurst)
Für den französischen Nachrichtensender “BFM TV” ist Schnelligkeit alles. Der private Nachrichtenkanal hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr der Echtzeit-Berichterstattung verschrieben und nimmt dabei in Kauf, auch falsche Informationen zu verbreiten. Fabienne Hurst hat sich für die “FAZ” den erfolgreichen, aber umstrittenen Kanal näher angeschaut und lässt u.a. Mitarbeiter und Verantwortliche zu Wort kommen.

4. Der albanische Medienmarkt: Zu klein zum Überleben?
(de.ejo-online.eu, Rrapo Zguri)
Albanien hat nur um die drei Millionen Einwohner, verfügt aber über eine relativ hohe Anzahl an Medienunternehmen: Mit 22 überregionalen Tageszeitungen wies das Land bis vor kurzem eine der höchsten Zeitungsdichten in der Region auf. Nun mache die Wirtschaftskrise den Medien jedoch schwer zu schaffen. In den vergangenen Monaten seien einige große Zeitungen und Fernsehsender eingestellt worden, so Rrapo Zguri in seinem Bericht über die derzeitige Lage der Medien in seinem Heimatland.

5. Olympische Medien-Spiele: Innovatives Storytelling zu #Rio2016
(medium.com, Frederic Huwendiek)
In Zeiten von Olympischen Spielen drehen die Medien besonders hochtourig und versuchen mit kreativen Innovationen zu glänzen. Frederic Huwendiek berichtet in seinem fortlaufend aktualisierten Beitrag über spannende neue Ansätze des Storytellings, von 360-Grad-Video bis Roboterjournalismus.

6. Last Week Tonight with John Oliver: Journalism (HBO)
(youtube.com, Video, 19:22 Min.)
In dieser Ausgabe der US-amerikanischen satirische Late-Night-Show “Last Week Tonight” nimmt sich John Oliver den Journalismus, insbesondere den Lokaljournalismus vor. Dem CEO der “Newspaper Association of America” David Chavern gefällt Olivers satirisch überspitzte Sichtweise ganz und gar nicht, wie seiner Stellungnahme zu entnehmen ist. Die Kolumnistin der “New York Times” Margaret Sullivan kommentiert dies wie folgt: “And I, in turn, have a suggestion for Mr. Chavern. When someone hilariously and poignantly celebrates the industry that you are paid to defend and protect, you ought to laugh at the funny parts and then simply say “thank you.” Or maybe nothing at all.”