Der chilenische Fußballnationalspieler Arturo Vidal ist für flotte Muster in seinen kurzen Haaren immerzuhaben. Das wissen sicher auch die Fußballerfrisurenfans bei “Bild” und Bild.de.
Nun hat Vidal vor einigen Tagen betrunken einen Autounfall gebaut. Und soll ohne jegliches Haarmuster vor Gericht erschienen sein:
Doch keine Sorge: Vidal hat noch immer Sterne am Hinterkopf. Das Foto, das “Bild” und Bild.de verwendeten, zeigt nämlich gar nicht Arturo Vidal, sondern seinen Bruder Sandrino. Steht so auch in der Bildbeschreibung der Agentur:
Sandrino Vidal (R), brother of Chile’s national team player Arturo Vidal (not pictured)
Am vergangenen Sonntag behauptete die britische “Sunday Times”, dass sowohl der russische als auch der chinesische Geheimdienst einen Großteil der rund 1,7 Millionen Datensätze entschlüsselt hätten, die Edward Snowden bei der NSA mitgehen ließ. Als Folge habe der britische Auslandsgeheimdienst MI6 Agenten abziehen müssen, weil deren Sicherheit nicht mehr garantiert sei. Klar, dass so ein Knaller auf die Titelseite kommt:
Der Artikel der “Sunday Times” stützt sich ausschließlich auf anonyme Regierungsquellen, bietet keinerlei Belege und beinhaltet faktische Fehler. Der Snowden-Vertraute Glenn Greenwald hat schon ausführlich über das Stück “journalism at its worst” geschrieben. Sowohl beim schottischen Journalisten Ryan Gallagher als auch beim “Guardian” hinterließ der Artikel viele Fragen. Und “Spiegel Online” wunderte sich ebenfalls über den Text “voller Ungereimtheiten”. Wie dünn die Recherche bei der “Sunday Times” offenbar war, beweist Tom Harper, einer der Autoren, eindrucksvoll in einem CNN-Interview.
Für einen aber war die zweifelhafte “Sunday Times”-Geschichte ein Geschenk: Bild.de-Chef Julian Reichelt.
Nicht nur, dass Bild.de die angeblichen Enthüllungen der “Sunday Times” übernahm, ohne sie in Frage zu stellen:
Der anonyme Verfasser nutzte die Gelegenheit auch, um Snowdens Nähe zu Putin zu belegen:
Snowden war sich der Brisanz seiner Tat von Anfang an bewusst. Als er mit der Veröffentlichung der Geheim-Dokumente von Hongkong aus begann, bat er Russland um Asyl. Kreml-Chef Wladimir Putin zögerte nicht und stellte Snowden zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr aus, die dann noch einmal um 3 Jahre verlängert wurde – gültig also noch bis Sommer 2017. Die USA erklärten daraufhin Snowdens US-Pass für ungültig und stellten einen internationalen Haftbefehl aus. Seither lebt er in Russland – er flog von Hongkong über Kuba nach Moskau – weitgehend in der Isolation.
Klingt nach einer klaren Sache: Snowden wollte Asyl, Putin sagte sofort ja.
Das Problem dabei: Die Bild.de-Darstellung ist nicht nur ein- oder zweifach falsch und auch nicht drei- oder vierfach.
Der Rechercheverbund aus NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” hatte bereits im Januar Edward Snowdens Fluchtroute genauer nachgezeichnet. Demnach …
… bat Snowden nicht von Hongkong aus um Asyl in Russland, sondern erst, als er im Transitbereich des Moskauer Flughafens feststeckte.
… zögerte Wladimir Putin anfangs durchaus und ließ Snowden nicht ins Land. Erst nach zwei Monaten erteilte Russland ihm Asyl. In der Zwischenzeit hatte Snowden bei 21 Staaten ein Asylgesuch eingereicht, alle lehnten ab oder antworteten nicht.
… erklärten die USA Snowdens Reisepass schon früher für ungültig als von Bild.de behauptet. Der annullierte Reisepass war der Grund, warum Snowden von Moskau aus nicht weiter nach Havanna fliegen konnte.
… wurde auch der internationale Haftbefehl schon früher ausgestellt als Bild.de angibt. Ein Versuch der US-Behörden, Snowden schon in Hongkong zu stoppen, scheiterte nur daran, dass in einem Festnahmeantrag als zweiter Vorname des Gesuchten fälschlicherweise James statt Joseph angegeben war.
… flog Snowden nicht von “Hongkong über Kuba nach Moskau”, sondern von Hongkong nach Moskau. Von dort aus wollte er weiter nach Kuba.
Auch Bild.de-Chef Julian Reichelt machte sich Gedanken zur Reiseroute des Whistleblowers:
(Zur besseren Lesbarkeit zusammenmontiert)
Bereits vor zwei Jahren hat Edward Snowden erzählt, dass er als NSA-Zulieferer nicht, wie Reichelt behauptet, “VORHER ungehindert in JEDES Land der Welt reisen” konnte: Auslandsaufenthalte habe er 30 Tage im Voraus anmelden müssen, es habe die Möglichkeit gegeben, dass ihm eine Reise verboten wird. Daher habe Snowden seinen Hongkong-Plan nicht angekündigt.
Snowden scheint auch nicht, wie Reichelt es darstellt, von Anfang an überlegt zu haben, von “Hawaii über Hongkong und Moskau nach Südamerika” zu reisen. Vielmehr wählte er nach eigener Aussage erst einmal Hongkong, weil er dort weniger Zugriffsmöglichkeiten der USA vermutete. Nach Recherchen von NDR, WDR und “SZ” ist der Plan, über Moskau nach Kuba zu fliehen, erst entstanden, als Mitarbeiter von WikiLeaks in Hongkong zu Snowden stießen.
Und “FREIWILLIG” in Moskau? Nun ja, wenn die Definition eines freiwilligen Aufenthalts so aussieht, dass man eigentlich schon ins nächste Flugzeug steigen will und nicht darf, weil der Reisepass annulliert wurde, und man dadurch nicht mehr aus Moskau wegkommt, dann hat Julian Reichelt recht. Für seine Argumentation schmiedete er sogar ganz neue Allianzen mit RT-Deutsch-Mitarbeitern.
Die einzelnen Zwischenhalte Snowdens und die Frage, wann er wen und wo um Asyl gebeten hat, sind deswegen interessant, weil seine Kritiker momentan versuchen, ihn über diese Details zum Überläufer zu degradieren. Allen voran Reichelt:
So sieht die allgemeine Definition von Überläufer sicher nicht aus. Denn die setzt voraus, dass jemand vom einen zum anderen Geheimdienst wechselt. Snowden müsste als ehemaliger Mitarbeiter des US-Geheimdienstes also nachweislich mit dem russischen Geheimdienst kooperieren. Das mag Julian Reichelt vermuten, Beweise dafür liefert er aber keine.
Über John Schindler verrät Bild.de am Ende des Artikels:
John R. Schindler ist ein Sicherheitsberater und ehemaliger Beamter der NSA-Spionageabwehr.
Ein ehemaliger NSA-Mann also, der über den vermutlich meist gehassten Mann innerhalb der NSA schreibt. Und so bezeichnet Schindler etwa Snowdens Flucht als einen “Umzug nach Moskau”, bringt ihn mit einer “beispiellosen Hack-Attacke auf Datenbanken der US-Regierung” in Zusammenhang und behauptet, dass “Peking” Snowden “auf seinem Weg nach Moskau Asyl gewährte”.
Das war selbst Bild.de-Lesern zu doof. Nur einer war über den Gastbeitrag richtig “happy”:
Mit Dank an Jonas N., Martin P., Frederik S. und Daniel B.!
1. “Raabs späte Rache an ‘Bild’ und Co.” (stern.de, Jens Maier)
Jens Maier glaubt, die Ankündigung, Stefan Raab werde sich vom Fernsehen zurückziehen, sei um 22:11 Uhr versendet worden, um die Boulevardmedien zu ärgern: “Sein Dogma, nichts über sein Privatleben preiszugeben, wurde von den meisten Journalisten akzeptiert. Recht passen wollte es nie. Ausgerechnet er, der in seiner Sendung ‘TV Total’ wildfremde Menschen wie Lisa Loch durch den Kakao zog, zeigte sich bei Details aus seinem eigenen Umfeld als empfindlich und sensibel, sogar nachtragend. Paradox. Aber so tickt er eben, der medienscheue Stefan Raab.” Siehe dazu auch “Der Ehrgeiz des Stefan Raab” (stefan-niggemeier.de).
2. “Tim Hunt und der Twitter-Mob” (scilogs.de/relativ-einfach, Markus Pössel)
Markus Pössel hinterfragt die Existenz eines “Twitter-Mobs”: “Eine Äußerung eines Haupt-Vortragenden auf einer Konferenz, zu der nicht zuletzt auch Journalisten geladen sind, ist eine öffentliche Äußerung. Und wer diese Äußerung weitergibt, selbst und gerade wenn sie unangenehm und für viele potenzielle Leser ärgerlich ist, der macht genau das, was sich die FAZ im Zusammenhang mit der Presseratsentscheidung zum Germanwings-Absturz als edelste Aufgabe der Presse auf die Fahnen schreibt: Tatsachen nennen, auch wenn sie unangenehm sind.”
3. “Zersetzung für Anfänger” (taz.de, Daniel Kretschmar)
Daniel Kretschmar stellt fest, dass sich Medien, “wenn es zu Fragen der Staatssicherheit (der aktuellen, nicht jener aus der DDR) kommt, bisweilen wie Handlanger von Behörden und Diensten aufführen. Kaum bekommt Journalist X ein Zuckerchen im Hintergrundgespräch mit dem Ministerialbeamten Y oder der Geheimdienstkoordinatorin Z, kennt er keine kritische Distanz mehr, keine Nachfrage, keinen Faktencheck.”
6. “Der Ghostwriter-Report” (zeit.de, Oskar Piegsa)
Oskar Piegsa mit einer ausführlichen Recherche über akademische Ghostwriter: “Die Ghostwriter können nach geltendem Recht nicht belangt werden, doch wer eine fremde Arbeit als seine eigene ausgibt, riskiert seine Creditpoints und seinen Studienplatz. ‘Der eigentliche Täter ist immer der Prüfling, der die Leistung einer Agentur in Anspruch nimmt’, sagt Henning Rockmann von der Hochschulrektorenkonferenz.”