Archiv für Januar 16th, 2014

Journalistische Handtaschenspielertricks

Am Montag hat die grüne Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner ihre Handtasche am Frankfurter Flughafen vergessen. Sie bemerkte das erst, als sie im Flugzeug saß und die Türen schon verschlossen waren. Sie hatte aber Glück: Der Start des Flugzeuges verzögerte sich wegen Nebel. Der Kapitän entschied, dass noch genügend Zeit sei, um die Tasche an Bord bringen zu lassen. So geschah es.

Klingt spontan nicht nach einer Geschichte, die die Republik in Wallung bringt? Weit gefehlt.

Der Hauptstadt-Korrespondent des “Berliner Kurier” erzählt die Geschichte nämlich anders: als einen Aufreger über die unglaublichen Privilegien, die deutschen Politikern zuteil werden — auf Kosten der normalen Bevölkerung:

Lufthansa-Flieger stoppt für Politikerin

(…) Grünen-Politikerin stoppt Lufthansa-Flugzeug! Klingt unglaublich, ist aber wahr.

In größter Ausführlichkeit schildert er, wie die Menschen in der Maschine saßen, wie alles bereit zu sein schien zum Start, wie die Gangway zurückgefahren und das Schleppfahrzeug eingehakt gewesen sei. Doch plötzlich:

Doch plötzlich wirbelt in der Businessklasse Tabea Rößner (47) mit den Händen durch die Luft und ruft um Hilfe. (…) Ihre Handtasche ist weg.

In noch größerer Ausführlichkeit schildert der “Berliner Kurier” nun, wie die Politikerin mit dem Bordpersonal verhandelt habe, wie ein Flughafen-Mitarbeiter ins Terminal geeilt sei, wie der “Taschen-Retter mit einem Steigerfahrzeug an die Tür” gebracht worden sei, “an der normalerweise das Bord-Essen angeliefert wird”.

Er lässt keinen Zweifel, dass die zwanzig Minuten Verspätung dadurch entstehen, dass Rößners Tasche besorgt werden musste:

Taschen-Gate am Gate!

Dabei weiß es der “Kurier” besser. Gegen Ende des Artikels zitiert er unauffällig in einem Nebensatz, dass laut Rößner “die Verspätung auch schon wegen einer fehlenden Starterlaubnis erfolgt sei”. Und fügt hinzu, dass die Lufthansa das bestätigt: Die Verspätung sei “aufgrund des zugewiesenen Zeitfensters” erfolgt.

Diese Tatsachen haben die “Kurier”-Leute aber ausgeblendet, um die Geschichte von einer Politikerin, wegen deren Schusseligkeit ein Flug gestoppt wird, erzählen zu können.

Bis hierher ist es eine Geschichte über den “Berliner Kurier” und seiner Schwesterblätter “Express” und “Morgenpost”, die sie übernehmen.

Aber dabei bleibt es natürlich nicht.

Bild.de steigt ein:

Ohne Rückfrage bei Rößner übernimmt Bild.de die Darstellung des “Berliner Kurier”, ergänzt sie um ein paar weitere falsche Details und spricht von einer “peinlichen Anekdote”.

Nun kopiert die “Rhein-Zeitung” die Geschichte* und bringt sie online unter der Überschrift:

Flieger wartete: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche gebracht

Erst später — laut Rößner nach einem Anruf von ihr — wird sie geändert zu:

Flieger wartete ohnehin: Mainzer Abgeordnete bekommt vergessene Handtasche in Flieger gebracht

Die “Mainzer Allgemeine” und der Landesdienst der Nachrichtenagentur dpa machen etwas Ungeheures: Sie rufen in Rößners Büro an und fragen nach. Die “Mainzer Allgemeine” veröffentlicht daraufhin einen ausführlichen Artikel; dpa beschließt vorläufig, dass die Geschichte kein Thema ist.

Andere Medien verzichten auf Recherche und steigen unter Verweis auf den “Berliner Kurier” in den Ring. Darunter sind die Online-Auftritte von “Focus”

“Bunte”

… und “Rheinischer Post”:

Schließlich schaltet Rößner einen Anwalt ein, der unter anderem erreicht, dass Bild.de den Artikel löscht.

Von den anderen Medien will Rößner nun eine Unterlassungserklärung fordern.

*) Nachtrag/Korrektur, 17:00 Uhr. Die “Rhein-Zeitung” widerspricht unserer Formulierung, sie habe die Geschichte “kopiert”. Der Autor sagt, er habe vor der Veröffentlichung bei der Lufthansa nachgefragt und von Anfang an im Artikel erwähnt, dass die Maschine wegen des Nebels wartete.

Nachtrag, 17. Januar. “Focus Online” hat die Meldung nun einfach gelöscht; “RP-Online” hat sie überarbeitet.

Nachtrag, 15:30 Uhr. Nun hat auch der “Berliner Kurier” seine Geschichte gelöscht.

Nachtrag, 21. Januar. Inzwischen hat auch Bunte.de die Falschmeldung ohne Erklärung entfernt.

Unwort, Daily Mirror, Prokon

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Nachdenken hilft auch”
(deutschlandfunk.de, Peter Zudeick)
Die Wahl des Unworts des Jahres renne “meistens offene Türen ein, zumindest beim denkenden Teil der Bevölkerung”: “Vielleicht gibt es ja Menschen, die derlei Sprachmüll benutzen, weil er halt gang und gäbe ist. Journalisten zum Beispiel, die nachplappern, was so geplappert wird, weil sie nicht verstanden haben, was ihr Beruf ist: Nämlich höchst reflektiert mit ihrem Material, mit ihrem Hand- respektive Mundwerkzeug umzugehen.”

2. “‘Der FC Bayern wird mich niemals haben!'”
(11freunde.de, Andreas Bock)
Fußball: Andreas Bock fragt telefonisch beim “Daily Mirror” nach, ob ein dort veröffentlichtes Zitat von Marco Reus tatsächlich der Wahrheit entspricht. Daraufhin wird die Verbindung unterbrochen.

3. “Prokon bläst zum Gegenangriff auf die Medien”
(ndr.de, Video, 6:08 Minuten)
Das von Insolvenz bedrohte Unternehmen Prokon und seine Anleger (einige davon organisiert unter Freunde-von-prokon.de) kritisieren die Journalisten für ihre Berichterstattung. Doch diese sehen keinen Grund, nicht zu berichten: “Unvollständige Zahlen, keine Antworten auf kritische Fragen. Stattdessen: Angriffe.”

4. “SPIEGEL macht blöd. Warum auch positive Computerspiel-Artikel nicht besser sind als ihr Ruf”
(videogametourism.at, Christian Huberts)
Christian Huberts schreibt zur aktuellen “Spiegel”-Titelgeschichte: “Nicht die Computerspielkultur selbst steht im Fokus, sondern ihre Schnittpunkte mit der bildungsbürgerlichen Komfortzone. Game-Berichterstattung im Print-Journalismus, das ist ewige Annäherung an das Zumutbare, ohne je mit diesem obszönen Gegenstand in Berührung zu kommen, der angeblich unsere Zeit vernichtet und nicht mit offensichtlichem Nutzwert entschädigt.”

5. “Bitte vergib mir, Sascha!”
(ueberschaubarerelevanz.wordpress.com)
Muriel liest “Wir brauchen einen neuen Glauben an die Politik!” (faz.net, Evgeny Morozov), die Replik auf den Text von Sascha Lobo.

6. “Mit Stricken zum Nobelpreis”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.de, Thomas)