Auch wenn Sie kein Twitter-Nutzer sind, kommen Sie an dem Internetdienst kaum vorbei: Bei Fußballübertragungen im Fernsehen lesen die Moderatoren vor, was dieser oder jener User über das Spiel geschrieben habe, und Medien wie Bild.de geben sich größte Mühe, möglichst viel von dem zu dokumentieren, was täglich auf Twitter los ist.
Zum Beispiel jetzt, als Justin Timberlake im Weißen Haus zu Gast war:
Was macht R&B-Superstar Justin Timberlake (32), wenn er zu Gast bei Barack Obama (51) ist? Handyvergleich! Ein Fotograf hielt fest, wie der Sänger dem US-Präsidenten etwas auf seinem Smartphone zeigte. Obama fand das offenbar so cool, dass er es jetzt mit seinen 32 Millionen Twitter-Followern teilte.
Auf-re-gend! Wird aber noch besser:
Der Sänger freute sich mächtig über die große Ehre, auf einem Foto mit dem Präsidenten zu sein. Er kommentierte das Bild bei Twitter: “Was auf Justin Timberlakes Handy drauf ist, könnte sehr gut das größte Geheimnis im Weißen Haus sein.”
Diese Behauptung widerlegen die Internet-Experten von Bild.de gleich selbst, indem sie den angeblichen Dialog zwischen Obama und Timberlake in den Artikel eingebunden haben:
Denn, siehe da: Die Antwort kam vom Twitter-Account @JTfansite, einer … nun ja: Fansite, nicht von Justin Timberlake selbst. Der twittert unter dem verifizierten Account @jtimberlake und hat sich bisher noch nicht zu seinem Besuch im Weißen Haus geäußert.
Mit Dank an Martin R. und Christian W.
Nachtrag, 31. Mai, 14.15 Uhr: Bild.de hat den Artikel gerade überarbeitet und um diesen Hinweis ergänzt:
PS: Liebe Leser, ursprünglich haben wir an dieser Stelle berichtet, Justin Timberlake habe das Foto selbst kommentiert. Tatsächlich wurde der Kommentar von einem Fan-Account geschrieben, wie einige von Ihnen bemerkt und in der Community kritisiert haben. Vielen Dank dafür!
Anfang Dezember 2012 wurde eine 47-jährige Frau tot in ihrem Bett aufgefunden. Die Frau war nicht das, was man gemeinhin als “prominent” bezeichnet, Hinweise auf Fremdverschulden gab es keine — dennoch berichteten “Bild” und Bild.de groß über den Fall:
Ein bisschen prominent war die Frau laut “Bild” nämlich schon:
Sonnenbrille, Kette, tiefes Dekolleté – und ein verruchtes Lächeln: Wir sehen […] († 47), die Frau, die im Frühjahr als “Nymphomanin von München” Schlagzeilen machte.
Damals schloss sie einen Discjockey (43) in ihrer Wohnung ein, wollte immer wieder Sex mit ihm – bis der Mann aus ihrem Bett auf den Balkon floh, die Polizei rief.
JETZT IST DIE FRAU TOT.
Ihr letzter Liebhaber (31, ein Nachbar) wachte am Freitag gegen 6.30 Uhr neben ihrem leblosen Körper auf.
Er versuchte noch Mund-zu-Mund-Beatmung, rief den Notarzt. Dieser konnte aber nichts mehr tun.
Fremdverschulden schließt die Polizei aus. Doch wie starb […]? Kann Dauer-Sex die Ursache sein?
Ein Leser sah in der Berichterstattung einen Verstoß gegen den Pressekodex, da sie massiv Opfer- und Persönlichkeitsrechte verletze, und beschwerte sich über Bild.de beim Deutschen Presserat. Es bestehe kein öffentliches Interesse an der Veröffentlichung des Fotos der Frau.
Die Rechtsabteilung der BILD digital GmbH & Co. KG sah das wieder mal anders: Die Betroffene habe in den vergangenen Monaten häufig mit ihrer Nymphomanie für Aufstehen gesorgt und sei bundesweit Thema in den Medien gewesen. Sie sei erstmals aufgefallen, weil sie einen ihrer Liebhaber im April 2012 acht Mal zum Liebesakt getrieben habe, bis dieser auf den Balkon geflohen sei, um die Polizei zu rufen. Über den “ausgesprochen kuriosen Fall” hätten damals zahlreiche Medien berichtet, darunter auch “Bild”, die sich auf die entsprechende Pressemitteilung der Polizei bezogen habe. Obwohl die Redaktion auch damals im Besitz eines Fotos der Betroffenen gewesen sei, habe sie sich bewusst gegen eine Veröffentlichung dieses Fotos entschieden.
Das stimmt. Die Berichterstattung von “Bild” sah im April 2012 so aus:
Die Zeitung hatte ihren Lesern damals sogar erklärt, was so eine “Nymphomanin” überhaupt ist:
* Bezeichnung für eine Frau mit übermäßigem Verlangen nach Geschlechtsverkehr
Danach habe sich noch ein weiterer Vorfall ereignet, über den wieder zahlreiche Medien aus der gesamten Republik berichtet hätten: Die Betroffene habe einen Mann eineinhalb Tage lang eingesperrt, ihm das Handy abgenommen und ihn zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Auch hier habe “Bild” wieder bewusst auf die Veröffentlichung des Fotos verzichtet.
Erst als die Betroffene in Folge ihres Rauschmittelkonsums gestorben sei, hätten “Bild” und Bild.de das Foto nach sorgsamer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht der Verstorbenen und dem öffentlichen lnteresse veröffentlicht.
Die Rechtsabteilung baute sich zu diesem Zweck ein argumentatives Perpetuum Mobile: Zum Zeitpunkt ihres Todes sei die Betroffene nämlich bereits durch ihre monatelange exzessive Sexsucht in der Öffentlichkeit bekannt gewesen. Aufgrund der aufsehenerregenden Vorgeschichte habe ein hohes Interesse der Öffentlichkeit bestanden, zu erfahren, was aus der Betroffenen geworden sei.
Die Frau sei auf dem Foto* aufgrund einer Sonnenbrille nicht für Außenstehende erkennbar, ihr Name sei immer abgekürzt worden. Im Text habe die Redaktion nicht abwertend berichtet, weil Drogenkonsum und Sexsucht mit einer Krankheit zu tun haben könnten.
Vielleicht nicht “abwertend”, aber so:
In der Bar, so berichtet ein Bekannter, trinken die beiden ein paar Bier, zwei Wodka und etwas Wein. Auch “weißes Zeug” sollen sie geschnupft haben.
Dann nimmt […] den Heizungsmonteur mit nach Hause. Doch anders als sonst geht es nicht gleich zur Sache. Stattdessen sitzen die beiden zusammen und reden – und plötzlich schläft die Blondine ein.
Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats sah in der Berichterstattung von Bild.de einen Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex.
Die Betroffene sei durch die Angaben zu ihrer Person und das Foto für einen großen Personenkreis erkennbar geworden. Für das Verständnis des Unfallgeschehens sei das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Über den Todesfall hätte daher nur in vollständig anonymisierter Form berichtet werden dürfen, da es sich weder um ein Ereignis von zeitgeschichtlicher Bedeutung gehandelt habe, noch besondere Begleitumstände vorgelegen hätten. Vielmehr habe die Redaktion über Ereignisse aus der lntimsphäre berichtet, deren Schutz von besonderer Bedeutung sei.
Einstimmig sprach der Ausschuss eine öffentliche Rüge aus und bat die Redaktion darum, die Rüge “zeitnah zu veröffentlichen und in dem Online-Beitrag eine Anonymisierung vorzunehmen”.
Bild.de kam dieser Bitte nach, wies auf die Rüge hin und ersetzte den Vor- und den abgekürzten Nachnamen der Verstorbenen an den meisten Stellen der Berichterstattung.
*) Übrigens haben auch die Münchener Boulevardzeitung “tz” und diverse ausländische Medien das Foto verwendet. Die “Daily Mail” gibt als Quelle “BILD-Zeitung/privat” an.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
2. “Schluss mit kostenlos” (freitag.de, Jakob Augstein)
“Freitag”-Verleger Jakob Augstein wünscht dem neuen Bezahlmodell von “Bild” im Netz Erfolg. “Wenn Journalismus eine Zukunft haben soll, muss der Leser zahlen. Aber der Leser hat im Netz das Zahlen für Inhalte verlernt.”
3. “Prof. Norbert Bolz über ein ‘echt attraktives Angebot’ der BILD-Zeitung” (carta.info, Peter Ruhenstroth-Bauer)
Auch Medienwissenschaftler Norbert Bolz lobt “das echt attraktive Angebot”, das “viele Interessenten finden” wird. “Prof. Norbert Bolz ist für die Macher der Springer-Medien kein Fremder: Mal wird er dort als ‘Medienwissenschaftler’, mal als ‘profiliertester Kenner der Medienwissenschaft’ dann wieder als ‘Medienphilosoph’ apostrophiert. Im ARD-Beitrag urteilte er jedoch über die BILD-Online-Bezahlschranke nicht als BILD-Autor, als Referent im ‘Salon’ des Axel Springer Verlags oder als ‘Welt’-Interviewpartner. Hier wurde der unabhängige Medienwissenschaftler befragt.”
4. “Der Einfluss der Eliten auf deutsche Journalisten und Medien” (ruhrbarone.de, Michael Voregger)
Michael Voregger befragt Uwe Krüger zu seiner Doktorarbeit über die Nähe von Journalisten zur Elite: “Je näher sie den Machthabern und Entscheidern kommen, desto weiter entfernen sie sich von Kritik und Kontrolle. Die Nähe ist meist erkauft mit Konformität.”
6. “Warrens Warnung” (medienspiegel.ch, Edgar Schuler)
80 Zeitungen besitzt Investor Warren Buffett inzwischen teilweise oder ganz. “Die Hoffnung, die Warren Buffett der gedruckten Zeitung scheinbar verleiht, kann man also durchaus auch als Warnung sehen: Nur zum Schnäppchenpreis lohnt die Investition in eine Zeitung. Und auch dann wohl höchstens vorübergehend.”