Archiv für März 30th, 2012

Unsinn über irgendeinen Soli (2)

“Bild” ist nicht das einzige Blatt, in dem Solidarpakt und Solidaritätszuschlag (“Soli”) munter durcheinander gewirbelt werden (BILDblog berichtete). Das Nachrichtenmagazin “Stern” etwa zeigt in seiner aktuellen Ausgabe diese Forsa-Umfrage:

Umfrage

Zuschlag vs. Pakt Der Solidaritätszuschlag wurde eingeführt, um zu helfen, die Kosten der Wiedervereinigung zu decken. Allerdings ist er eine Steuer (die übrigens sowohl in West- als auch in Ostdeutschland erhoben wird), die allein dem Bund zusteht und nicht zweckgebunden eingesetzt werden muss. Der Solidarpakt II hingegen ist eine Vereinbarung, nach der der Bund sich verpflichtet, den neuen Bundesländern von 2005 bis 2019 im Zuge des Länderfinanzausgleichs insgesamt 156,5 Milliarden Euro zukommen zu lassen.

Diese Umfrage ist ziemlich sinnlos, denn der Solidaritätszuschlag (=Soli) wird schon lange nicht mehr “ausschließlich für den Aufbau Ost verwendet” und kann somit auch nicht “weiter ausschließlich” dafür verwendet werden. Die Antwortmöglichkeit “…auch ärmeren Städten und Gemeinden im Westen zugute kommen” lässt erahnen, dass sich die Umfrage auf die Klagen mehrerer Bürgermeistern aus dem Ruhrgebiet bezieht. Nur beklagten die sich nicht über den Solidaritätszuschlag, sondern über den Solidarpakt II.

Noch wilder werden der Solidaritätszuschlag und Solidarpakt II in der Vorankündigung von stern.de, die via Pressemitteilung einige Verbreitung erfahren hat, miteinander verrührt:

stern-Umfrage "Soli" auch für arme West-Regionen

Ein Großteil der Deutschen unterstützt die Forderung von verschiedenen Oberbürgermeistern aus dem Ruhrgebiet nach einer Neuordnung des Solidarzuschlags (sic!). In einer Umfrage des stern plädierten 57 Prozent der befragten Bürger dafür, den Solidaritätszuschlag künftig auch ärmeren Städten und Gemeinden im Westen zukommen zu lassen. Nur sechs Prozent fänden gut, wenn der “Soli” wie bislang ausschließlich in den Aufbau Ost gesteckt würde. 35 Prozent waren dafür, den Solidaritätszuschlag ganz abzuschaffen. Zwei Prozent äußerten keine Meinung.

Noch einmal: Der Solidaritätszuschlag ist eine Bundessteuer, die direkt in den Bundeshaushalt fließt, und nichts mit den Klagen der Ruhrgebietsbürgermeister zu tun hat, die sich auf den Solidarpakt II bezogen hatten. Es ist wenig verwunderlich, dass im stern.de-Text sogar der Solidaritätszuschlag-Solidarpakt-Hybridbegriff “Solidarzuschlag” fällt.

Solidarpakt hin, Solidaritätszuschlag her — die Kosten hierfür hätte man sich auf alle Fälle sparen können:

Für diese stern-Umfrage wurden 1001 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger am 22. und 23. März 2012 befragt.

Mit Dank an Philipp.

Bild  

Monster erschaffen

Im Fall des am Samstag in Emden ermordeten Mädchens hat die Polizei am Dienstagabend einen Verdächtigen festgenommen. Der junge Mann wurde am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt.

“Bild” verkündete am gestrigen Donnerstag entsprechend:

Polizei sicher: ... von Schüler getötet!

Dass die Staatsanwaltschaft am Montag auf einer Pressekonferenz darum gebeten hatte, den Namen des Mädchens nicht zu veröffentlichen (BILDblog berichtete), war “Bild” weiterhin egal.

Die Zeitung schrieb:

Der miese Kindermörder von Emden (Niedersachsen): Er missbrauchte die kleine […], tötete sie und ließ ihre Leiche in einer Blutlache im Parkhaus liegen! Die Kripo ist sicher:

DER KILLER IST EIN SCHÜLER (17)!

Außerdem wusste “Bild” zu berichten, dass “ein Junge (15) den entscheidenden Tipp gegeben” hatte (“BILD-Informationen zufolge”, natürlich) und ein Mitschüler zu “Bild” gesagt habe, der 17-Jährige sei ein Einzelgänger und spiele “gern brutale Ballerspiele am Computer”.

Ganz so “sicher” wie “Bild” es darstellte, waren sich die Behörden offenbar nicht. Stern.de berichtete gestern:

Bernard Südbeck hat überlegt, wie er am diplomatischsten sagt, was ihn umtreibt. Der Auricher Oberstaatsanwalt ist seit Jahren “im Geschäft”. Doch das, was sich hier in Emden im Fall des getöteten elfjährigen Mädchens in den vergangenen Tagen abgespielt hat, macht ihn wirklich ärgerlich. In verschiedenen Medien und sozialen Netzwerken werden blanke Spekulationen als Tatsachen hingestellt, Verdächtige als Täter benannt, der Wunsch der Familie des Mädchens, doch bitte nicht den Namen des Kindes zu nennen, konsequent ignoriert.

Doch nicht nur das:

Und: Dienstagnacht hätte ein Mob selbsternannter Rächer fast das Polizeikommissariat gestürmt.

Uff!

Laut stern.de soll sich dieser Mob via Facebook verabredet haben. Oberstaatsanwalt Südbeck habe auf der gestrigen Pressekonferenz dann noch einmal an die Verantwortung der Medien appelliert und ausdrücklich darum gebeten, von Vorverurteilungen abzusehen.

“Bild” stand jetzt vor einem Problem, denn Lynchjustiz findet die Redaktion dann offensichtlich auch nicht so gut. Der Drahtseilakt sah heute so aus:

Facebook-Aufruf nach Mord an ... : 50 Jugendliche wollten Verdächtigen lynchen

Den üblichen “BILD-Informationen zufolge” hätten die Teilnehmer Parolen wie “Hängt ihn auf, steinigt ihn” skandiert, einige hätten T-Shirts mit der Aufschrift “Todesstrafe für den Killer!” getragen.

Die gleichen Autoren, Thomas Knoop und Astrid Sievert, die gestern geschrieben hatten, die “Schlinge” um den Hals des Schülers habe sich “zugezogen”, hantierten plötzlich mit der Bezeichnung “Verdächtiger”, als seien sie so einen halbwegs seriösen Journalismus gewohnt:

Die Ermittler warnten trotz des erlassenen Haftbefehls vor einer Vorverurteilung des Verdächtigen. Dieser bestreitet die Tat.

Doch so richtig überzeugt schien “Bild” von diesen rechtsstaatlichen Details dann auch nicht zu sein, denn der nächste Absatz lautete schon wieder:

Doch: Es gibt immer mehr Indizien gegen ihn! Eines der wichtigsten: Der Schüler hat kein Alibi! “Er verwickelte sich in Widersprüche”, so Werner Brandt, Leiter der 40-köpfigen Mordkommission “Parkhaus”.

Doch heute kam es zu einer “spektakulären Wende” (Bild.de): Der tatverdächtige Schüler wurde am Vormittag freigelassen, weil er “als Täter auszuschließen sei”.

Unschuldig! Festgenommener Schüler im Mordfall ... wieder frei!

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Dokusoaps, Gabor Steingart, Plagiatoren

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie Twitterer Rob Vegas als Harald Schmidt bild.de reinlegte”
(rhein-zeitung.de, Lars Wienand)
Bild.de, Blick.ch und Tagesanzeiger.ch halten Tweets von @BonitoTV für Aussagen von Harald Schmidt.

2. “10 weitere bemerkenswerte Dokusoaps”
(fernsehkritik.tv, Video, 27 Minuten)
Ein Blick auf verschiedene aktuelle gescriptete und nicht gescriptete Sendungen im deutschen Fernsehen. Ab Minute 12 die RTL-Sendung “Jugendliebe”: Briefe, die auf deutsch geschrieben werden, erhält der Empfänger auf wundersame Weise in englischer Sprache.

3. “Offener Brief an Gabor Steingart: Über Verlage, freie Autoren, Urheberrecht und innere Pressefreiheit”
(immateriblog.de, Matthias Spielkamp)
Matthias Spielkamp antwortet auf einen Brief von “Handelsblatt”-Chefredakteur Gabor Steingart: “Daher möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass erstens Ihre Behauptung falsch ist, dass ‘seit jeher’ mit jeder Honorarzahlung alle diese Rechte ausschließlich an Sie abgetreten wurden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass das eine dreiste Lüge ist, denn Sie bzw. Ihr Justiziariat (müssten) wissen, dass das nicht so ist.”

4. “Interview mit carta.info: Meinungsjournalismus statt Nachrichten”
(netzpiloten.de, Stefan Mey)
Stefan Mey befragt Tatjana Brode von “Carta”: “Wir werden versuchen, die Strukturen dezentraler zu organisieren, die Arbeit stärker zu verteilen. Natürlich wäre es schön, wenn wir einen guten Vermarkter finden, und noch besser, wenn wir außerdem eine Förderung bekämen. Aber wir haben nicht den Anspruch, dass sich Carta unbedingt sofort tragen muss.”

5. “The 4 types of serial plagiarists in journalism”
(poynter.org, Craig Silverman, englisch)
Craig Silverman identifiziert vier Typen von Plagiatoren im Journalismus: “The Early Bird, The Keener, The Blank Slate, The Dinosaur”.

6. “Viele leiden darunter, dass sie es jedem recht machen wollen”
(zeit.de, Harald Martenstein)
“Einige Fotografen verhalten sich wie Raubtiere, die vom Fleisch ihrer Beute leben. In Heiligendamm stand nach ein paar Sekunden Lesung eine Fotografin auf, ging nach vorne, stellte sich etwa sechzig Zentimeter vor der Bühne hin, sodass ich ihren Atem riechen konnte, und machte eine Aufnahme nach der anderen mit Blitzlicht. Der Apparat gab dabei ein schnarrendes Geräusch von sich, welches durch Mark und Bein ging. Nach etwa zehn Fotos habe ich einen Wutanfall bekommen. Als die Lesung vorbei war, kam die Frau, um sich zu beschweren.”