Archiv für Juni 29th, 2011

Weniger ist oft mehr

Zu den regelmäßigen Steuervereinfachungsvorschlägen des ehemaligen Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof kann man ja stehen wie man will. “Bild” und Bild.de beispielsweise brechen jedesmal in Jubelarien aus, wenn “Deutschlands klügster Steuerexperte” bzw. “einer der besten Köpfe für das Amt des Finanz- und Haushaltsministers” ein System fordert, bei dem die Steuererklärung auf einen Bierdeckel passt.

Die Reaktion von Bild.de auf Kirchhofs jüngsten Vorstoß ist daher wenig überraschend:

Das Kirchhof-Modell: Weniger Steuerlast für alle! BILD.de erklärt den Plan von Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof, über den plötzlich wieder alle reden
Er ist 68 Jahre alt, sehr klug – und war schon in der Versenkung verschwunden. Jetzt ist Ex-Verfassungsrichter Prof. Paul Kirchhof wieder da, stellte ein radikal vereinfachtes Steuersystem vor. (…)

Steuern zahlen soll wieder Spaß machen! Der Ehrliche soll nicht mehr der Dumme sein! Das soll kein Traum bleiben, sondern kann sofort Wirklichkeit werden, sagt Prof. Paul Kirchhof. (…)

• Das Allerwichtigste: Weniger Steuerlast für alle!

Wen genau Bild.de in der Überschrift mit “alle” meint, wird gegen Ende des Artikels deutlich:

Allerdings muss das Modell (…) dem Praxistest standhalten. Erste grobe Berechnungen deuten auf eine mögliche Mehrbelastung geringerer Einkommen hin.

• Demnach könnte ein Alleinstehender mit 2000 Euro Bruttoeinkommen/Monat im Kirchhof-Modell 291 Euro statt 229 Euro Steuern bezahlen.

• Wer 3000 Euro brutto im Monat verdient, könnte mit 541 Euro statt 494 Euro belastet werden. Bei 3500 Euro/Monat ist die Steuerbelastung mit rund 650 Euro in etwa gleich.

• Bei höheren Einkommen dürfte die Steuerlast dann deutlich sinken. Ein Single mit 5000 Brutto/Monat könnte fast 200 Euro pro Monat sparen.

Da ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung weniger als 3500 Euro brutto verdient, wäre damit immerhin geklärt, wen “Bild” und Bild.de meinen, wenn sie mal wieder Begriffe wie “Deutschland” oder “alle” verwenden: Besserverdienende.

Höhenflug durch Raum und Zeit

Irgendwann ist den Journalisten aufgefallen, dass Politik nichts ist, womit man die Leser begeistern kann: Trockene Sachfragen, lange Debatten und Ausschusssitzungen und viel zu wenig Tore.

Zur Hilfe kamen ihnen da die Meinungsforschungsinstitute, die der Politik die sportliche Komponente gaben, die ihr bisher fehlte: Die wöchentliche Tabelle in Form von Meinungsumfragen. Forsa etwa befragt jede Woche für die Illustrierte “Stern” und den TV-Sender RTL rund zweieinhalbtausend Wahlberechtigte, die Ergebnisse dieser Umfrage kann man dann – nach Verbreitung durch die Nachrichtenagenturen – quasi überall nachlesen.

Zum Beispiel bei “Welt Online”:

Wahltrend: Grüner Höhenflug vorbei – FDP bei fünf Prozent. Beim ihrem Sonderparteitag haben die Grünen einen Grundsatzkonflikt überstanden. Trotzdem verlieren sie in der Gunst der Wähler.

Nun könnte man einwenden, dass der “grüne Höhenflug” so vorbei noch nicht sein kann, wenn die Partei mit 24 potentiellen Prozenten immer noch vor der SPD (23) liegt. Oder dass die Partei womöglich nicht trotz des Sonderparteitags bei ihren treuen Wählern verloren hat, sondern deswegen — immerhin hatten die Grünen lange darüber gestritten, ob sie den Plänen der Bundesregierung zustimmen sollen, bis zum Jahr 2022 aus der Kernenergie auszusteigen.

Doch das wäre alles überflüssige Gedankenleistung.

“Welt Online” selbst schreibt:

Für den Wahltrend befragte Forsa vom 20. bis 24. Juni 2506 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger.

Der Sonderparteitag der Grünen fand aber erst am 25. Juni statt.

Und wenn Sie glauben, so etwas ähnliches schon mal bei uns gelesen zu haben: ja.

Deutsche Welle, Yogeshwar, Klotzek

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Deutsche Welle nutzt kundenkunde.de als ‘Inspiration'”
(kundenkunde.de, Peter Soltau)
Ein aktueller Beitrag von dw-world.de erinnert Peter Soltau an einen eigenen Text, den er im Mai 2010 veröffentlicht hatte.

2. “Experten fordern nach Fukushima Besinnung auf journalistische Grundtugenden”
(kas.de)
In der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung wurde eine Bilanz zur Fukushima-Berichterstattung gezogen. Dem Fernsehen attestierte Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar eine “miserable Rolle”, was bemerkenswert sei, denn anders als 1986 bei der Katastrophe von Tschernobyl sei zahlreiches aktuelles Bildmaterial vorhanden gewesen. Siehe dazu auch einen Bericht von pro-medienmagazin.de.

3. “‘Neon’-Gründer soll SZ-Magazin aufpolieren”
(dradio.de, Georg Gruber)
Georg Gruber porträtiert den neuen SZ-Magazin-Chefredakteur Timm Klotzek. “Um sich überhaupt nicht angreifbar zu machen, finde ich ist es wirklich wichtig, dass man Geld verdient mit seinem Titel und dass man sagt: diese Freiheit, Geld auszugeben für Recherchen, die erarbeitet man sich besser und ist nicht auf verlegerische Gönner angewiesen.”

4. “Ein Tag vorm Fernseher”
(katalogvonallem.wordpress.com, Florian Leu)
Nach sechs Jahren TV-Abstinenz verbringt Florian Leu einen Tag von 8 Uhr bis 20 Uhr vor dem Fernseher: “2 Stunden und 31 Minuten sitze ich erst hier, doch ich habe schon die halbe Welt gesehen: einen Zoowärter, der mit einer Giraffe redet, sprechende Katzen, Präsident Obama, die U-17-Nationalmannschaft, handverlesene Nazis, Rentner als Talkshow-Claqueure. Ich vermute: Fernsehsender haben Verträge mit Altersheimen geschlossen und teilen sich die Betreuung.”

5. “The Brain on Trial”
(theatlantic.com, David Eagleman, englisch)
Aussergewöhnliche kriminelle Taten werden von Boulevardmedien gerne zum Mysterium hochgeschrieben. In einzelnen Fällen sind die Ursachen banaler – es handelt sich um neurologische Gründe.

6. “10 Fragen an Yang Yanyi”
(de-cn.net)
Yang Yanyi, “Expertin für komparatistische musikpädagogische Forschung zu Deutschland und China”, erzählt, wie sie Deutschland und die Deutschen wahrnimmt.