Archiv für Oktober 1st, 2010

Im “Westen” nichts Neues

Seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 musste Deutschland Reparationszahlungen für den ersten Weltkrieg ableisten, die letzten Zinsen werden übermorgen fällig.

Nicht ganz so lange, sondern erst seit dem 28. September 2010 steht auf “Der Westen” ein Artikel aus der “Westdeutschen Allgemeinen Zeitung”, der wie folgt beginnt:

Essen. Reparationszahlungen belasten den Bundeshaushalt bis heute. Dieses Jahr überweist Berlin die letzten 70 Millionen. Beinahe hätte das auch John Babcock noch mitbekommen.

Der Kanadier John Babcock war der letzte Veteran des Ersten Weltkriegs. Er starb im Februar dieses Jahres.

Seit dem 29. September weist ein Kommentator darauf hin, dass diese Behauptung so falsch ist:

Nur eine Korrektur, John Babcock war der letzte KANADISCHE Veteran des ersten Weltkriegs! Es gibt aber noch drei lebendige – alles Briten.
#2 von Thomas , am 29.09.2010 um 07:47

Hier noch der Link dazu:

http://en.wikipedia.org/wiki/
Last_surviving_World_War_I_veteran_by_country
#3 von Thomas , am 29.09.2010 um 07:49

Mit seiner Einschätzung “alles Briten” liegt “Thomas” zwar falsch (es handelt sich um einen Briten, eine Britin und einen US-Amerikaner), aber die Drei leben eben noch. Erst wenn zwei von ihnen gestorben sind, wird man wissen, wer wirklich der letzte Veteran des Ersten Weltkriegs war.

Obwohl die Leserkommentare offensichtlich gelesen werden (einige von ihnen wurden nämlich gelöscht oder editiert), hat der “Westen” den Fehler bisher nicht korrigiert. Aber zwei Tage sind natürlich ziemlich wenig, verglichen mit mehr als 90 Jahren.

Mit Dank an Stefan M.

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Unehrlich, unbedarft und mysteriös

Es folgt: Eine ziemlich langweilige und konfuse Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Ulm und der Polizeidirektion Ulm. Lesen Sie sie bitte trotzdem genau, es könnte sich lohnen.

Ulm / Unehrlicher Finder meldete sich anonym

Der Finder eines hohen Geldbetrags konnte im April offenbar der unredlichen Versuchung nicht widerstehen. Er hat das Geld unterschlagen. Doch sein Gewissen trieb ihn offensichtlich dazu, sich beim Verlierer zu melden.

Verloren hat den Geldbetrag Anfang April ein 56-Jähriger. Mit 14.000 Euro in der Hosentasche radelte er durch das Stadtgebiet. Prompt fiel seine Geldbörse aus der Hose, ohne dass der Ulmer dies bemerkte. Erst bei der Ankunft in der Bank in der Ulmer Innenstadt bemerkte er den Verlust. Obwohl er sich sofort auf die Suche nach dem Geld machte, blieben die vielen 500-Euro-Scheine verschwunden.

Am nächsten Tag lag die Geldbörse samt Ausweisen und Bankkarten des Ulmers in seinem Briefkasten. Deshalb entschied er sich, an das Gewissen des Finders zu appellieren. Er gab eine Annonce in einer Ulmer Zeitung auf und bot einen ehrlichen Finderlohn an. Die Annonce blieb nicht unbemerkt: Der Finder wandte sich mit einem anonymen Brief an den 56-Jährigen, in dem er seine Tat zu rechtfertigen versuchte. Offenbar plagte den Findern doch das Gewissen. Daraufhin annoncierte der Ulmer erneut. Auch diese Anzeige blieb nicht unbemerkt. Zumindest erweckte sie beim unbedarften Leser einen dubiosen Eindruck. Sie wurde mittlerweile sogar mit einer Entführung im Kreis Heidenheim in Verbindung gebracht. Staatsanwaltschaft und Polizei stellen aber klar, dass diese Verbindung offensichtlich nicht besteht.

Der unehrliche Finder hat sich bislang nicht mehr gemeldet. Der 56-Jährige Ulmer hat noch im April Strafanzeige bei der Ulmer Polizei erstattet. Die ermittelt jetzt wegen der Fundunterschlagung.

“Unbedarfte Leser”, das ist doch mal eine schöne Umschreibung für die Mitarbeiter der “Bild”-Zeitung:

Mordfall Maria Bögerl: Rätsel um diese mysteriöse Anzeige

Mit Dank an Martin M.

Bei Ronald Schill ist wer im Busch

Wenn Sie mal schauen wollen: Hier sehen wir den Ex-Politiker Ronald Schill, wie er mit drei Personen durch Hamburg läuft, in der lokalen “Bild”-Ausgabe vom 28. September:

Schill feiert sich durch die Nacht

Dann aber muss jemand in der Redaktion die blonde Frau auf dem Foto wiedererkannt haben: Jessica Stockmann, Ex-Frau des Ex-Tennisspielers Michael Stich. Das ist natürlich eine sehr viel spannendere Geschichte, als wenn Schill “zwei Herren, eine Dame” trifft oder “zwei hübsche Frauen (eine blond, die andere brünett)” — und damit ein Fall für die Bundesausgabe und für Bild.de:

Was macht die Ex von Stich mit Richter Gnadenlos?

Diese Kombination wirft natürlich ganz neue Fragen auf:

 Reine Zufallsbegegnung? Ronald Barnabas Schill und Jessica Stockmann in Hamburg

Oder auch: Wie hat sich der Mann am rechten Bildrand innerhalb weniger Augenblicke in einen Busch verwandeln können?

Mit Dank an Carsten Z. und Thomas C.

Britische Studien sind ja so 2009

Bei Bild.de gehört es offensichtlich zum Standardprogramm, die britischen Boulevard-Zeitungen “Daily Mail” und “The Sun” regelmäßig nach neuen Artikeln über unsinnige Studien – im Idealfall aus den Bereichen Sex, IQ oder einer Mischung aus Sex und IQ – zu durchforsten.

Sobald man fündig geworden ist, werden die erstaunlichen Erkenntnisse mehr oder weniger unfallfrei ins Deutsche übersetzt, wobei Bild.de die Tatsache großzügig ignoriert, dass sich britische Verhältnisse nicht 1:1 auf deutsche übertragen lassen. Das Ergebnis wird mit einer knackigen Überschrift versehen und dann veröffentlicht.

Beispiele gefällig? Bitteschön:

Kluge Männer haben mehr Sex

Narben machen Männer sexy

Studie: Reiche Männer sexen besser

Guter Sex erhöht Fruchtbarkeit

Teenager sollen Sex üben

Bikini-Mädchen-Gucken macht schlau

Handys machen Schüler dumm

Cabrios können taub machen

Linkshänder werden schneller wütend

Manchmal werden aus einer einzigen Studie sogar zwei Artikel. Besonders dann, wenn Bild.de einmal selbst darüber schreibt und sich dann noch von den Kollegen von der “B.Z.” beliefern lässt:

 Intelligente Mä¤nner sind treu

Fremdgeher haben einen niedrigeren IQ!

Apropos “B.Z.”: Ein ganz besonders schönes Beispiel, wie die Verwertungskette bei Bild.de funktioniert, versteckt sich hinter diesem Artikel von Mittwoch:

Drei Viertel aller Paare betrinken sich vor dem Sex: Sind Sie auch ein "Promille-Popper"?

Dort heißt es:

Eine Studie aus Großbritannien ergab jetzt: 75 Prozent aller Paare trinken Alkohol bevor sie Sex haben. Nüchtern betrachtet läuft also ohne Wein, Bier, Sekt oder Schnaps einfach nichts in unseren Betten.

Dumm nur, dass die Studie nicht “jetzt” erschienen ist, sondern vor über einem Jahr, wie man auf “Mail Online” seit dem 23. September 2009 nachlesen kann. Schon am 24. September 2009 berichtete die Onlineausgabe der “B.Z.” darüber: “Drei Viertel aller Paare betrinkt sich vor dem Sex. Sie auch?”

Bild.de übernahm den Artikel und veröffentlichte ihn ebenfalls am 24.9.2009 unter der etwas direkteren Überschrift “Sind Sie auch ein Promille-Popper?”.

Das, was Bild.de seinen Lesern am Mittwoch als aktuell verkaufte, ist derselbe alte Artikel — nur etwa ein Jahr später unter neuem Datum.

Das ist aber noch nicht alles: Abgesehen davon, dass fraglich ist, inwiefern britische Gewohnheiten Rückschlüsse auf “unsere Betten” zulassen, ist das, was seit einem Jahr auf bz-berlin.de, auf Bild.de und jetzt wieder auf Bild.de behauptet wird, auch einfach falsch.

Auf “Mail Online” steht nämlich folgendes zum Sexualverhalten geschlechtsreifer Briten zur Paarungszeit:

Vier von zehn Frauen gaben an, “immer” leicht angetrunken gewesen zu sein, wenn sie zum ersten Mal mit einem Partner geschlafen haben. Erstaunliche 48,5 Prozent sagten sogar, sie zögen Sex im alkoholisierten Zustand vor. Die Studie kam außerdem zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der befragten Frauen es mögen würden, etwas zu trinken, bevor sie mit ihrem Mann oder Freund ins Bett gehen.
(Übersetzung von uns.)

Wir halten fest: 75 Prozent der befragten Frauen mögen es laut Studie, etwas vor dem Sex zu trinken bzw. 48,5 Prozent finden, sie hätten alkoholisiert mehr Spaß bei der Sache. Dass sich deshalb 75 Prozent “aller Paare” vor dem Sex betrinken, lässt sich aus solchen Angaben beim besten Willen nicht ableiten.

Man darf gespannt sein, mit welchen faszinierenden Erkenntnissen britische Forscher uns demnächst überraschen. Und dank Bild.de müssen wir auch keine Angst haben, etwas zu verpassen — spätestens in einem Jahr wird’s ja wiederholt.

Frauentausch, Blokkmonsta, Betty Bossi

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “RTL entschuldigt sich für dramatischen Amok-Bericht”
(dwdl.de, Alexander Krei)
“In eigener Sache” bedauert Programmchef Jörg Zajonc die “deutlichen Irritationen”, die die Berichterstattung über einen Amoklauf im Köln ausgelöst hat. “Aus Sicht der Kritiker” wurde “deutlich zu spät explizit erklärt, dass es sich um eine Übung handelt”.

2. “Der war richtig sauer”
(jetzt.sueddeutsche.de, Martin Zips)
Nach einer Plattenkritik erhält der Chefredakteur von rap.de, Marcus Staiger, Besuch von Rapper Blokkmonsta. “Im Büro stellte sich der Rapper dann fünf Zentimeter neben mir auf und brüllte mich nieder. Fünf seiner Freunde standen direkt daneben und verboten mir zu gestikulieren. Als einer meiner Mitarbeiter geschubst wurde, warf ich mich dazwischen. Danach schlug man mich bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, waren die Rapper schon weg.” (Bericht zum Vorfall auf rap.de)

3. “Sofort- Kultur”
(screen.tv, Felix Schwenzel)
Felix Schwenzel schreibt über die so genannte “Kostenlos-Kultur”, die sich angeblich über das Internet verbreitet habe.

4. “Ich bin durch die Hölle gegangen”
(nwzonline.de, Traute Börjes-Meinardus)
Eine Teilnehmerin der RTL2-Sendung Frauentausch wirft der Produktionsfirma vor, sie zu Aussagen gedrängt zu haben: “Ich wollte das nicht, aber die von der Produktion haben gesagt, wenn ich mich weigere und die Sendung abbreche, sei das Vertragsbruch und ich müsse ein Bußgeld von 60 000 Euro zahlen.” RTL2 dementiert: “Beim Casting, beim Dreh und der Produktion unserer Sendungen lassen wir stets die größtmögliche Sorgfaltspflicht gelten.”

5. “Der grosse Auf-einem-Auge-blind-Test”
(20min.ch, Joel Bedetti)
Joel Bedetti beleuchtet die Verbindung zwischen dem Medienunternehmen Ringier (“Blick”, “SonntagsBlick”) und der Handelsgruppe Coop. Verbunden sind die beiden Konzerne durch die Betty Bossi Verlag AG, die beiden zur Hälfte gehört.

6. “BILD macht Dieter Nuhr zu Sahra Wagenknecht”
(danielgrosse.com)