Archiv für Februar 24th, 2010

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Fakten schaffen mit Don Quijote

Nirgendwo auf der Welt weiß man mit größerer Gewissheit zu verkünden, dass der Iran an einer Atombombe arbeitet, als im Axel-Springer-Haus zu Berlin. Insbesondere Julian Reichelt, Chefreporter der “Bild”-Zeitung, scheint über ganz besondere Quellen zu verfügen — anders sind die steilen Thesen in seinem “Bild”-Kommentar vergangene Woche nicht zu erklären. In diesem Beitrag fordert Reichelt nämlich:

Frieden schaffen mit Atomwaffen!

Zunächst schreibt Reichelt da:

Sogar die Internationale Atomenergiebehörde geht jetzt davon aus, dass der Iran an einem Sprengkopf baut.

Was selbst dem aufmerksamen “Bild”-Leser nicht sofort unbedingt auffällt: Das wichtigste Wort in diesem Satz ist das kleine “sogar”. In den letzten Wochen sind in Sachen Iran nämlich exakt zwei Neuigkeiten zu vermelden gewesen: Der Iran hat den Anteil des Isotopes U235 seines Urans [Nachtrag d. Verf.] auf 20 Prozent angereichert (wobei es 80 prozentigem Urans für eine Atomwaffe bedarf). Und es wurde bekannt, dass bereits vor 2003 mit Hilfe eines russischen Ingenieurs Träger für Raketen  gebaut worden waren, auf denen möglicherweise auch Atomsprengköpfe angebracht werden können.

Und so ist man bei der IAEA ob der Vorgänge im Iran zwar auch äußerst besorgt, aber doch deutlich weniger panisch als Julian Reichelt. Die IAEA schreibt in einem aktuellen Dokument zum Iran unter Punkt 41 auf den Seiten 8 und 9 nämlich lediglich, dass die aktuelle Informationslage Fragen zu einer möglichen Entwicklung von Atomsprengköpfen im Iran aufwerfe.

Es wird im IAEA-Report sogar ausführlich erwähnt, dass diese Entwicklung von Atomsprengköpfen nicht unbedingt aktuell sein müsse, sondern auch in der Vergangenheit habe stattfinden können — im Übrigen ein Umstand, der in sämtlichen Medien und auch in der “Bild”-Zeitung selbst vor einigen Tagen bereits vermeldet worden war (Bildblog berichtete).

Während Reichelt suggeriert, der IAEA-Bericht enthalte neue, schockierende Erkenntnisse, verhält es sich eher so, dass die Pressemeldungen der vergangenen Wochen nun auch von offizieller Seite bestätigt werden.

Von dieser konstruierten Neuigkeit kommt Julian Reichelt alsbald zu einer ähnlich fadenscheinigen Schlussfolgerung:

Lieber 8000 amerikanische Bomben als eine einzige iranische.

Der hier suggerierte Gegensatz beruht, nun ja, im besten Falle auf Unwissen. Tatsächlich steht die Welt nämlich in keiner Weise vor der Wahl zwischen US-amerikanischen und iranischen Atomwaffen. Einer gerade vom US-amerikanischen Think Tank “Carnegie Endowment” veröffentlichten Weltkarte der Atomsprengköpfe hätte der Bild-Reporter zum Beispiel entnehmen können, dass insgesamt acht Staaten weltweit über Atomwaffen verfügen.

Neben Russland (14.000 Atomsprengköpfe) und China (mehr als 125 Atomsprengköpfe) verfügen beispielsweise auch Israel (80 Sprengköpfe), das beunruhigend instabile Pakistan (60 Sprengköpfe) und Indien (50 Sprengköpfe) über Atomwaffen — allesamt Staaten in der Nachbarschaft des Irans.

Überhaupt: Über die für den Iran besonders wichtige Regionalpolitik zwischen den notorischen instabilen Ländern Irak,  Afghanistan und Pakistan verliert Reichelt in der “Bild” eben kein Wort. Ebenso wenig Erwähnung findet auch die Tatsache, dass die in Israel und den USA, aber auch in “Bild” lauter werdende Forderung, den Iran anzugreifen, die Kriegsgefahr tendenziell eher steigert denn senkt.

Aber nicht allein Reichelts Faktenwissen ist ungenügend. Auch sein Wutausbruch gegen die von ihm “Abrüstungs-Groupies” genannten Gegner atomarer Aufrüstung ist allein schon deshalb irritierend, weil Reichelt wie ein neorealistischer Don Quijote Positionen bekämpft, die überhaupt niemand vertritt. Gleich zu Beginn seines Kommentars entwirft er ein reichlich abwegiges Schreckensbild:

Es gibt nur ein Szenario, das furchterregender ist als eine Welt, in der es 25 000 Atomsprengköpfe gibt. Eine Welt, in der es nur noch eine Bombe gibt. Eine Bombe, auf der steht: “Mit Grüßen aus Teheran.”

Dass niemand ernsthaft fordert, allein die USA oder gar alle acht Atommächte mit einsamer Ausnahme des Iran mögen ihre Atomwaffen abschaffen (was im Falle Nordkoreas eine besonders abstruse Vorstellung ist), stört Reichelt wenig. Er keilt weiter gegen seine selbst ausgedachten Kontrahenten:

Gern jammern Abrüstungs-Groupies, man könne die Welt mehrere Hundert Male mit den vorhandenen Atomwaffen zerstören. Absurde Mathematik: Denn nach dem ersten Mal wäre es eh egal.

Und als wäre das des Unsinns nicht genug, löst Reichelt auch einen zentralen Widerspruch seines Kommentar nicht auf: Wenn Atomwaffen, wie Reichelt unterstellt, denn nun Frieden schaffen – was ist dann eigentlich das Problem mit dem vermuteten Atomwaffenprogramm des Irans?

Motorsport, Schmähkritik, Burma VJ

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Motorsportjournalismus – Wo ist der hin?”
(racingblog.de, Don Dahlmann)
Don Dahlmann sieht bei den Printprodukten zum Thema Motorsport eine enge Verzahnung zwischen Industrie, Agenturen und Redaktionen. “Es ist kein Zufall, wenn nach einer doppelseitigen Anzeige für ein Pflegeprodukt man genau diese vier Seiten weiter ‘redaktionell’ empfohlen bekommt. Es ist auch kein Zufall, wenn Promi XY interviewt wird und dessen Film dann ein paar Seiten später als ‘Tipp der Woche’ auftaucht.”

2. “Acht Regeln für Amok-Berichte”
(mediummagazin.de, Annette Milz)
Psychologen haben zur Berichterstattung über Amokläufe “acht konkrete Regeln für das Verhalten der Medien formuliert”. Der kommende 11. März ist der Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden.

3. “Das Elend der Debatte um ARD und ZDF”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier weiss, wie “die Verlage vielleicht, möglicherweise, wenn das Wetter stimmt, in der Lage sein” werden, “auch in Zukunft Qualitätsjournalismus anzubieten, und womöglich sogar im Netz”. Nämlich so: “Die Verlage müssen von der (ohnehin schon reduzierten) Mehrwertsteuer befreit werden, Google muss verboten oder zur Zahlung von Lizenzgebühren verpflichtet werden, ARD und ZDF müssen das Internet verlassen, das Zitatrecht muss drastisch eingeschränkt, das kostenlose Anbieten von Informationen untersagt und die Gratis-Kultur im Internet insgesamt vernichtet werden.”

4. “300 Folgen Schmähkritik”
(blogs.taz.de/popblog, Christian Ihle)
“300 Folgen lang haben jetzt schon Zeitschriften, Magazine und Stars über Platten, Filme, Politiker und Bands böse geredet. Zeit also, ein komplettes Inhaltsverzeichnis der 300 Folgen Schmähkritik zum Stöbern aufzubereiten…”

5. “Achtung, Kamera!”
(falter.at, Florian Klenk und Barbara Toth)
Der tschechische Journalist Janek Kroupa recherchiert, verdeckt unter dem Namen Radvít Pokorny, in einem österreichisch-tschechischen Rüstungsgeschäft und deckt so “einen der größten politischen Skandale der letzten Jahre” auf.

6. “Burma VJ”
(plus7.arte.tv, Video, 84 Minuten)
Für sieben Tage online: Der Film “Burma VJ” von Anders Østergaard (Trailer).