Archiv für November 25th, 2009

Der Kult ums Horrorhaus

Schade, dass Halloween schon wieder vorbei ist. Die Stuttgarter Lokalredaktion von “Bild” hätte da nämlich noch ein passendes Thema:

Es ist Stuttgarts grusligste Immobilien-Anzeige.

Um was es sich dabei wohl handeln mag? Ein Spukschloss? Eine Geisterbahn? Eine Gruft?

Hier wird das Haus angeboten, in dem Amok-Killer Tim K. (17) lebte. Er hatte im März in Winnenden 15 Menschen und sich selbst erschossen.

Nun möchte man vor dem Hintergrund eines derartigen Verbrechens ungern Haare spalten, aber an dieser Stelle sollte man zumindest sicherheitshalber noch einmal daran erinnern, dass Tim K. seine Opfer nicht in seinem Elternhaus erschossen hat.

Auch das “Schwäbische Tagblatt” ereifert sich berichtet heute über die “Internet-Offerte”, die “aus dem Rahmen des Üblichen” falle:

Dass in diesem Elternschlafzimmer jene ungenügend gesicherte Pistole des Typs Baretta im Kleiderschrank gelegen haben soll, mit der Tim über 200 Mal geschossen hat, wird nicht erwähnt. Überhaupt unterbleibt jeder Hinweis auf die Besitzer des Hauses.

Auch wenn das “Tagblatt” und “Bild” die fehlenden Hinweise implizit und explizit “merkwürdig” finden: Es besteht keine Pflicht, in der Immobilienanzeige darauf hinzuweisen, wer die vorherigen Bewohner oder Besitzer sind.

Hans-Eberhard Langemaack, Geschäftsführer des Immobilienverbands Deutschland (IVD), sagt uns auf Anfrage, dass es in einem derart schweren Fall zwar durchaus zur Aufklärungspflicht des Immobilienmaklers gehöre, potentielle Interessenten beim Beratungsgespräch auf die Geschichte des Hauses hinzuweisen. In der Anzeige, die ja nur den Erstkontakt darstelle, könne man auf solche Informationen aber verzichten.

Natürlich ist es denkbar, dass mögliche Interessenten Abstand von einer Immobilie nehmen, in der ein Massenmörder gewohnt und sich auf seine Tat vorbereitet hat. Andererseits soll es ja auch Menschen geben, die eine gewisse Faszination fürs Morbide hegen und vielleicht gerne im Haus des “Amok-Killers von Winnenden” (“Bild”) leben würden. Ihnen kommt das “Schwäbische Tagblatt” mit großen Schritten entgegen, wenn es unter der Überschrift “Elternhaus des Amokläufers von Winnenden wird verkauft” nicht nur über die genaue Lage der Immobilie aufklären, sondern gleich noch den Namen der Maklerin und die genaue Exposé-Nummer des Objekts verrät.

Solche Gedanken finden Sie makaber? Na, dann warten Sie mal ab:

Dazu Farbfotos vom Koi-Teich, 50-Quadratmeter-Wohnzimmer, Kamin, Schlafzimmer, Terrasse.

Und der makabere Hinweis für Eltern mit Kindern: “…alle weiteren Schularten finden Sie in Winnenden!”

(“Bild”)

Vor dem Hintergrund des Amoklaufs an der Albertville-Realschule liest es sich durchaus makaber, wenn in einem Hinweis auf Grundschule und zwei Kindergärten im Ort noch erwähnt wird, “alle weiteren Schularten finden Sie in Winnenden”.

(“Schwäbisches Tagblatt”)

Der Artikel im “Tagblatt” endet übrigens mit folgendem Absatz über den anstehenden Prozess wegen fahrlässiger Tötung gegen den Vater des Amokläufers:

Wegen großen Medieninteresses und der Vielzahl der Nebenkläger wird die Verhandlung mit großer Wahrscheinlichkeit in Stammheim stattfinden. Beim dortigen Gefängnis gibt es dafür den größten Raum.

Das “Tagblatt” erwähnt zwar nicht, wer da schon alles auf der Anklagebank gesessen hat, aber das ist vermutlich nur die Rache für den fehlenden Hinweis auf die Baretta Beretta.

Mit Dank an Sibylle B.

Nachtrag, 26. November: Die Redaktion des “Tagblatts” als Lokalzeitung hat den Verkauf des Hauses nicht selbst aufgegriffen. Der Artikel ist gestern in der “Südwestumschau” der “Südwest Presse” erschienen und auf www.tagblatt.de übernommen worden.

Bild  

Erinnerungslücken

Es geht um Terror. Nein, nicht um den Raucher-Terror und auch nicht um die schöne Terror-Anwältin. In der Berliner Brunnenstraße wurde gestern ein Haus geräumt, das vor 16 Jahren besetzt wurde und in dem “Bild” ein linkes Terror-Nest vermutete.

Eine Woche zuvor hatte die Zeitung die Räumung eben dieses Hauses gefordert und dabei an eine alte Bekannte erinnert:

Nach BILD-Informationen wohnte der mutmaßliche Auto-Brandstifter Tobias P., dessen Vater für "Die Linke" in der BVV Lichtenberg sitzt, dort mit Alexandra R. (21) zusammen. Zur Erinnerung: Sie saß fünf Monate in U-Haft, weil sie ein Auto angesteckt haben soll. Anfang November war sie trotz vieler Indizien freigesprochen worden.

Diese Interpretation darf “Bild” exklusiv für sich beanspruchen.

Zur Erinnerung: Alexandra R. wurde Anfang November freigesprochen, weil es nach Ansicht des Amtsgerichts “durchgreifende Zweifel” an ihrer Schuld gab. Die Richter sagten, am “sicheren Wiedererkennen” der Angeklagten durch den Hauptzeugen gäbe es Zweifel. Und bei Alexandra R. seien keinerlei Spuren festgestellt worden, “die etwas mit Grillanzünder zu tun haben”.

Zum damaligen Richtersspruch schrieb der “Tagesspiegel”:

Innerhalb der Justiz wird unter der Hand zugestanden, dass die Festnahmen nach zwei Jahren ohne jeden Ermittlungserfolg die “erste Chance” waren – und die sollte genutzt werden. Möglichst harte Strafen sollten vor dem nächsten 1. Mai die Krawalllust dämpfen, Presse, Öffentlichkeit und Opposition hatten schließlich reichlich Druck gemacht.

Aber die Realität kann “Bild” nicht viel anhaben — die Deutungshoheit über die Schuld von Angeklagten gibt die Zeitung nicht her.

Nowottny, Netbooks, Schirrmacher

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Das ist ein jämmerliches Schauspiel”
(dradio.de, Gerd Breker)
Ex-WDR-Intendant Friedrich Nowottny äußert sich zum Fall Nikolaus Brender und findet es an der Zeit, “dass man über die gesetzlichen Grundlagen des ZDF nachdenkt”. “Die Parteien leiten doch ihren Anspruch zur Mitsprache davon ab, dass ihnen das Bundesverfassungsgericht attestiert hat, jedenfalls den Ländern, dass sie die Träger der Rundfunkhoheit sind, und das nutzen die nach Gutsherrenart aus – jedenfalls im ZDF.”

2. “Qualitaetsprobleme bei Netbooks oder deutschen IT-Journalisten!?”
(netbooknews.de, Sascha)
Sascha zweifelt am Gehalt einer Studie, die als Grundlage für Artikel bei Golem.de, Bild.de und anderen dient.

3. “1999 – 2009”
(blog-cj.de/blog, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz zieht sein persönliches Fazit zu 10 Jahren Journalismus im Internet: “Um noch einmal auf das ZDF zurückzukommen: 1999 existierte dort eine Zuschauerredaktion, die routiniert Fragen beantwortete und Kritiker halbwegs ruhigstellte. Wäre man böse, man würde sagen: eine Kommunikationsattrappe. Heute kann sich kein ernst zu nehmendes Medium und kein Journalist mehr erlauben, nicht mehr zu kommunizieren.”

4. “Sparen, wo es am wenigsten schmerzt”
(kleinreport.ch)
Der Kleinreport hat sich das ab 2010 geltende Spesenreglement des Ringier-Verlags angesehen. Die Vergütung von Tagespauschalen im Zusammenhang mit der Verpflegung entfallen, es werden nur “die effektiven Kosten vergütet” – “Aufwendungen für Raucherwaren, Digéstifs und Ähnliches” gehen zulasten des Mitarbeiters.

5. “Swine Flu Deaths”
(media.mercola.com, Bild, englisch)
Zahlen verschiedener Todesarten im Vergleich, unter anderem auch dabei: die Schweinegrippe.

6. Die Deutschen, das Internet und Frank Schirrmacher
(ichwerdeeinberliner.com, Wash Echte, englisch)
“As it was established before, German people quickly feel uncomfortable when there is nothing to be offended or worried about. If they currently have no personal reason to be offended or worried about anything, they will go to a bookstore to buy a book written by what they consider to be a much more intelligent person, who happens to be altruistic and kind enough to lecture them about recent developments that they should better be offended or worried about, and that person, more often than not, is Frank Schirrmacher.”