Archiv für September 1st, 2009

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Stasi-Akten-Recycling mit Verena Becker

Es sah aus wie eine Enthüllung, was die “Bild”-Zeitung gestern zum Thema der wieder verhafteten ehemaligen RAF-Terroristin Verena Becker zu bieten hatte:

Die Akten über Verena Becker und ihre Kontakte zum Verfassungsschutz hält das Innenministerium unter Verschluss. BILD liegen dagegen die Stasi-Akten über Verena Becker vor. Daraus geht hervor: Die RAF-Terroristin, die 1989 begnadigt wurde, soll bereits 1972 Kontakt zum Verfassungsschutz gehabt haben. Also bereits fünf Jahre vor dem brutalen Mord an Buback. Im Aktenvermerk der Hauptabteilung II/2 vom 2. Februar 1978 heißt es: "Es liegen zuverlässige Informationen vor, wonach die B.(ecker) seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird."

“Bild” fragte den Sat.1-Moderator Stefan Aust, was das zu bedeuten habe, und Aust antwortete:

“Wenn sich jetzt herausstellt, dass Verena Becker schon 1972 Kontakt zum Verfassungsschutz hatte, dann muss man diesen Informationen nachgehen.”

Er vermutet “irgendeine Art Deal mit den Ermittlungsbehörden oder dem Geheimdienst”.

Spannende Sache, nur: Da hat sich jetzt nichts herausgestellt. Der Inhalt der Stasi-Akten, aus denen “Bild” zitiert, war erstens längst bekannt und ist zweitens mit größter Wahrscheinlichkeit anders zu interpretieren.

Der Südwestrundfunk berichtete schon im Juni 2007 über die Formulierung, über die “Bild” jetzt gestolpert ist. Die SWR-Reporter Tobias Hufnagl und Holger Schmidt fragten damals, anders als “Bild” heute, sogar bei dem zuständigen Stasi-Mitarbeiter nach, was dahinter steckte.

Nach den Worten Hufnagls bedeutet die Formulierung “von gegnerischen Diensten bearbeitet” nicht, dass Verena Becker schon 1972 in irgendeiner Weise für den Verfassungsschutz gearbeitet habe, sondern nur, dass sie Terroristin sei und von den Diensten als solche behandelt werde. “Unter Kontrolle halten” sei Stasi-Jargon für “beobachten”, als “Terrorist führen”. Auch das Bundeskriminalamt und die Generalbundesanwältin seien zu diesem Schluss gekommen.

Über den Satz aus der Stasi-Akte von Verena Becker ist seit 2007 immer wieder berichtet worden, zum Beispiel im Juli 2007 in der “taz”, im Oktober 2007 in der “Frankfurter Rundschau”, im Dezember 2007 in der “Zeit”, im November 2008 in der “Süddeutschen Zeitung”.

Aber weil die “Bild”-Zeitung im August 2009 so tut, als sei er erstens neu und zweitens spektakulär, glauben es viele Nachrichtenagenturen und Medien. Die Agentur AFP meldete gestern:

Laut “Bild” soll Becker bereits fünf Jahre vor dem Buback-Mord Kontakt zum Verfassungschutz gehabt haben. Die Zeitung zitiert einen Aktenvermerk der Stasi-Hauptabteilung II/2 vom 2. Februar 1978. Dort heißt es dem Blatt zufolge: “Es liegen zuverlässige Informationen vor, wonach die B.(ecker) seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen wegen der Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppierungen bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird.”

Die Agentur AP demonstrierte ihre Ahnungslosigkeit mit einer Meldung unter der Überschrift:

Verfassungsschutzkontakt offenbar schon vor Buback-Mord / Laut “Bild” entsprechende Stasi-Akten über Verena Becker.

Und auch die Agentur ddp verbreitete die alte Geschichte unter Berufung auf “Bild” treuherzig als brisante Neuigkeit.

Am Nachmittag brachte AFP immerhin das nüchterne Dementi:

Die Bundesanwaltschaft bezeichnete den in den Stasi-Akten erhoben Vorwurf als bekannt und bereits widerlegt.

Und auch die Stasi-Unterlagenbehörde wies gestern laut “FAZ” darauf hin, “dass nach ihrer Lesart der Akte Frau Becker das Objekt, nicht die Kontaktperson für Aktivitäten des Verfassungsschutzes gewesen sei”.

Schöne Medienwelt: Am Montag bringt “Bild” eine alte und grob irreführende Geschichte. Am Dienstag steht sie in ungezählten vermeintlich seriösen Medien.

Porsche 611

Zu den ganz großen Rätseln der Menschheitsgeschichte hat sich ein weiteres gesellt: Was zum Henker war mit den Redakteuren der “Auto Bild” los, als sie mit einer Vehemenz, die ihresgleichen sucht, den Fall der Berliner Mauer und die zeitgleich stattfindende Verleihung des Springer-Autopreises “Goldenes Lenkrad” auf den 6. November 1989 vorverlegten?

Die Geschichte des Goldenen Lenkrads. Mit der Verleihung der Goldenen Lenkräder sind seit 34 Jahren viele Geschichten verbunden. Eine wurde legendär. [...] Eine Verleihung wurde allerdings aus einem ganz anderen Grund legendär. Es war das 14. Goldene Lenkrad am 6. November 1989. Nachdem die Preisträger im Erdgeschoss des Berliner Verlagshauses (direkt an der ehemaligen Mauer gelegen) geehrt waren, fuhren die Gäste in den Journalistenklub im 18. Stock zur Feier. Und erlebten dort live, was die Welt veränderte: Die Mauer ist offen. Bürgermeister Walter Momper eilte sofort an den Ort des Geschehens, und viele Gäste taten es ihm gleich. Wer dabei war, wird das Goldene Lenkrad ewig mit dem Anfang vom Ende der deutschen Teilung in Verbindung bringen. [...] 6. November 1989. Die Mauer ist offen. Zigtausend stürmen die Grenzübergänge nach Westberlin. Die ganze Stadt wird zur riesigen Partymeile. Deutschland jubelt. [...] Friede Springer am 6. November 1989 mit Berlins Bürgermeister Walter Momper. Der verließ die Feier im Laufschritt, als die Nachricht vom Mauerfall kam.

Dass man den Mauerfall nicht richtig an jenem “Schicksalstag der Deutschen” verortet, kann ja mal passieren — auch wenn jeder, der mal überraschend im Geschichtsunterricht drangenommen wurde, weiß, dass “9. November” in mindestens einem Drittel der Fälle die richtige Antwort ist. Aber wenigstens an die Verlagseigene Preisverleihung hätte man sich ja wohl korrekt erinnern müssen.

So stand es doch sogar am 10. November 1995 im Springer-Blatt “Welt”:

Der Autopreis der Zeitschrift “Bild am Sonntag” war vor 20 Jahren vom Verleger Axel Springer ins Leben gerufen worden. Daran erinnerte der Vorstandsvorsitzende des Axel Springer Verlages, Jürgen Richter, und sprach noch einmal die denkwürdige Preisverleihung am 9. November 1989 an: “Die Mauer fiel buchstäblich vor den Augen dieser Festversammlung.” Als sich kleine Trabis mutig in den Westberliner Straßenverkehr stürzten, habe sich auch in diesem Zusammenhang das Auto als Symbol der Freiheit gezeigt.

Andererseits ist “Auto Bild” dieses Jahr zum ersten Mal Gastgeber bei der Verleihung des “Goldenen Lenkrads”. Da muss man das ja noch nicht wissen.

Mit Dank an Dirk O.

Heinze, Tatort, Ditz

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Suspendierte ‘Tatort’-Chefin kaufte auch eigene Drehbücher ein”
(spiegel.de, Markus Brauck)
NDR-Fernsehfilmchefin Doris Heinze kaufte Drehbücher von sich selbst ein und machte sich dabei jünger. Ein fiktiver Lebenslauf von Heinze steht im ARD-Presseheft: “Marie Funder-Donoghue, geboren 1981 in Heidelberg, studiert Wirtschaftswissenschaften und Jura in Dublin, lebt mit Ehemann David und Sohn Sean an der Ostküste, schreibt Kurzgeschichten.”

2. “Wird der Tatort abgesetzt?”
(cicero.de, Josef Girshovich)
Josef Girshovich macht sich Gedanken über die Zukunft des ARD-Krimis “Tatort”: “Wie soll man es, lieber NDR, mit Heinzes Kreationen halten? Heinze ist Spiritus Rector von Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) und Borowski & Jung (Axel Milberg, Maren Eggert). Können aber diese Kommissare nach einem solchen Skandal noch rechtschaffen ermitteln?”

3. “German Viewers Love Their Detectives”
(nytimes.com, Michael Kimmelman, englisch)
Auch die “New York Times” schreibt über den “Tatort”: “Crimes happen in distinctly German locales like the little city garden plots called schrebergarten, where nature-loving Germans grow their own tomatoes and show off their odd taste for plastic gnomes. The ‘Tatort’ detectives in Cologne invariably stop at their favorite büdchen, the little beer and bratwurst stands typical of the Rhineland.”

4. “Autorisierung: DJV mahnt fairen Umgang an”
(djv.de)
Der DJV-Bundesvorsitzende Michael Konken erklärt in einem (autorisierten?) Zitat, dass eine Autorisierung nur sachliche Darstellungsfehler korrigieren sollte: “Das nachträgliche Glätten von Interviews schadet dem kritischen Journalismus. Interviewpartner aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dürfen das Instrument der Autorisierung nicht missbrauchen, um aus Interviews nachträglich Werbebotschaften in eigener Sache zu machen.”

5. Interview mit Rüdiger Ditz
(onlinejournalismus.de, Michael Soukup)
Spiegel.de-Chefredakteur Rüdiger Ditz fragt sich, warum sein Medium ein Vorreiter von Bezahlinhalten sein soll: “Wir sind das Erfolgsmodell im deutschsprachigen Raum. Für Spiegel Online hat sich das reine Werbefinanzierungsmodell bisher ausgezahlt, wir können uns ohne Gebührenpflicht sehr gut refinanzieren.”

6. “I Love Free Food!”
(probablybadnews.com)
Manchmal scheitert kontextbezogene Werbung.

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“Wer hat geil Krebs?”

Der “Spiegel” hat ein langes Gespräch mit der Fernsehmoderatorin (und BILDblog-Freundin) Charlotte Roche geführt, in dem es am Rande auch um die “Bild”-Zeitung geht:

SPIEGEL: Über die private Charlotte Roche weiß man kaum etwas von Belang.

Roche: Ich bin ein riesenaggressiver Beschützer meiner Privatsphäre. Ich will nicht, dass die “Bild”-Zeitung über meine Familie schreibt. Ich klage gegen alles. Wenn “Bild” schreibt, Charlotte Roche ist 29, dann erstreiten wir eine Gegendarstellung, dass ich 31 bin. Ich gehe gegen wirklich alles vor, was die machen. (…)

SPIEGEL: Wie finden Sie die aktuelle “Bild”-Werbekampagne mit Prominenten?

Roche: Widerlich. Es gibt eine Liste in meinem Kopf, und da werden Personen gestrichen: Supernanny – fand ich nett, ist jetzt gestorben. Werbung für “Bild”, völlig untendurch, egal, was die noch sagt. Es sind ja auch Leute darunter, die selbst viel gegen “Bild” klagen. Das ist doch eine fiese Doppelmoral. Ich bin da viel nachtragender.

SPIEGEL: Alice Schwarzer?

Roche: Gestorben.

SPIEGEL: Richard von Weizsäcker?

Roche: Gestorben.

SPIEGEL: Johannes B. Kerner?

Roche: Auch gestorben. Sind die denn alle echt so eitel und denken: Toll, so viele Plakate in ganz Deutschland mit meinem Gesicht drauf?

SPIEGEL: Es gab einen langen Rechtsstreit mit “Bild” über die Berichterstattung zum Tod Ihrer drei Brüder bei einem Verkehrsunfall. Bekommen Sie nach wie vor Anfragen von “Bild”?

Roche: Ja, da weiß eine Hand nicht, was die andere tut. Es arbeiten sicher ganz nette und unschuldige Menschen dort. Sie kommen trotzdem alle in die Hölle. Ich rede mit denen niemals. Das ganze Blatt basiert nur auf Esoterik, auf Fragen wie: “Wer ist gestorben?”, “Wer hat geil Krebs?” und “Wer hat sich getrennt?”

(Das ganze Gespräch steht im aktuellen “Spiegel”.)