“Solchermaßen webten und webten wir vor uns hin, als ich aufschrak
bei einem so seltsamen Ton, so langgezogen und wild harmonisch
und übernatürlich, dass mir das Knäuel des freien Willens aus der
Hand fiel und ich dastand und nach den Wolken aufstarrte, aus
welchen jene Stimme herabsank wie eine Flügelschwinge.” (Herman Melville: “Moby Dick”, Kapitel XLVII)
Polizeiprosa
“Eine 14-jährige Radfahrerin ist heute in Tempelhof vom Anhänger eines LKW erfasst und tödlich verletzt worden.
Nach den bisherigen Erkenntnissen befuhr die Jugendliche mit ihrem Fahrrad gegen 13 Uhr 10 den Tempelhofer Damm in Richtung Mariendorf. Aus bisher noch ungeklärter Ursache geriet sie kurz hinter der Kreuzung Ecke Alt-Tempelhof unter den Anhänger eines 38-jährigen LKW-Fahrers. (…)”
Kein Scherz: Wenn plötzlich etwas unabänderlich Schreckliches passiert, wenn also beispielsweise das eigene Kind bei einem Autounfall stirbt, sucht das Gehirn nach Gründen. Oder nach Möglichkeiten, wie das Geschehene nur hätte ungeschehen bleiben können. Und wenn wir unseren Frieden nicht in Vorsehung und Gottes Willen finden wollen, stellen wir fest: Das Leben ist eine Kette von Ereignissen in einem unentwirrbaren Netz anderer Ereignisketten, kurzum: ein deterministisches Chaos, das irgendwann im Urknall oder Urschleim seinen Anfang nahm.
Peter Sawicki ist nicht bei allen beliebt. Insbesondere die Pharmaindustrie ist offenbargar nicht gutauf ihnzu sprechen. Denn Sawicki untersucht als Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) Medikamente und Behandlungsmethoden auf ihren tatsächlichen Nutzen. Und auch in der Diskussion um Ärztepfusch hat Sawicki sich offenbar nicht nur Freunde gemacht. Denn er gehört zu den 17 Ärzten, Therapeuten, Krankenschwestern und Pflegern, die sich Ende Februar zu eigenen Behandlungsfehlern bekannten(auch “Bild” berichtete groß darüber). In der Ärzteschaft war anschließend von “Nestbeschmutzung” und “Tabubruch” die Rede.
“Bild” berichtet heute allerdings etwas ganz anderes über Sawicki:
Es ist nicht so, dass es diesen “internen Prüfbericht”, aus dem “Bild” zitiert, nicht geben würde. Auch zitiert “Bild” ihn korrekt, wie man uns beim zuständigen IKK-Bundesverband bestätigt. Und dennoch ist die Meldung, vorsichtig ausgedrückt, grob irreführend.
Denn der Prüfbericht, “der BILD vorliegt”, wie Autor Hanno Kautz vielsagend schreibt, ist nicht neu. Die Prüfung, um die es geht, begann im Dezember 2007 und ist abgeschlossen. Bereits Mitte Februar präsentierte der IQWiG-Vorstand in einer Pressekonferenz die Ergebnisse. Das “Ärzteblatt” schrieb damals:
Einen Schlussstrich unter die “IQWiG-Affäre” hat dessen Vorstand gezogen. (…) Der Leiter des IQWiG, Prof. Dr. med. Peter T. Sawicki, wurde wegen formaler Fehler ermahnt. Gleichzeitig sprach ihm der Vorstand aber sein Vertrauen aus. Denn eine persönliche Vorteilsnahme sei nicht festzustellen.
Der Pharmakontrolleur Peter Sawicki ist rehabilitiert. Der Vorwurf der Vetternwirtschaft ließ sich nicht beweisen. Er beging nur “formale” Fehler.
Warum “Bild” den Prüfbericht einen Monat später noch einmal hervorkramt, den Eindruck erweckt, es handele sich um ein laufendes Verfahren, und meint, Sawicki “hat ein Problem”, wissen wir nicht. Ein Sprecher des IKK sagt uns, das, was heute in “Bild” stehe, sei im Prinzip der Stand, der “am 11. Februar den Journalisten mitgeteilt” wurde. Aber: Für das IQWiG sei der Fall abgeschlossen, Sawicki habe keine negativen Folgen zu erwarten. Der “Bild”-Autor Hanno Kautz, mit dem er gesprochen habe, hätte ihm allerdings gesagt, er habe den Eindruck, “die Zahlen seien neu”.
Wir sind ja einiges gewohnt. Von “Bild”. Aber manchmal ist ihre Ekelhaftigkeit dann doch schockierend. Heute ist wieder so ein Tag.
Denn ja: Viele, vielleicht zu viele Menschen (insbesondere, wenn sie eine gewisse Prominenz erreicht haben) breiten ihr Privatleben gern in der Öffentlichkeit aus. Dann erzählen sie in Talkshows, Boulevard-Magazinen und -Zeitungen freimütig über ihr Leben, ihre Gefühle, Schicksalsschläge.
Andere tun das nicht.
Lippenbekenntnisse
“Grundsätzlich ist das Privatleben tabu. Das gilt aber nicht für diejenigen, die mit ihrem Privatleben das Licht der Öffentlichkeit suchen.” (Diekmann in der “Weltwoche”)
“Wer sein Privatleben privat lebt, bleibt privat. (…) Wer nicht selbst das Spiel eröffnet, muß auch nicht mitspielen.” (Diekmann in der “FAZ”)
“Wer Privates schützen will, kann das in der Regel auch.” (Döpfner im “Spiegel”)
Dazu, dass letztere von der “Bild”-Zeitung nicht in die Öffentlichkeit gezerrt würden, gibt es unmissverständliche Aussagen — vom “Bild”-Chef Kai Diekmann ebenso wie von Diekmanns Chef Mathias Döpfner, dem Vorsitzenden der Axel Springer AG (siehe Kasten). Sie haben, wie die heutige “Bild”-Ausgabe wieder eindrücklich zeigt, keine Bedeutung.
Denn “Bild” berichtet heute bereits auf der Titelseite über das “traurige Geheimnis” der “schönen Co-Pilotin Nachrichtensprecherin” Judith Rakers – und hat dafür sogar einen Kausalzusammenhang entdeckt. Lesen Sie selbst:
Ab heute ist sie Miss Tagesschau: Die schöne Judith Rakers (32) führt um 20 Uhr zum ersten Mal durch die Hauptnachrichten-Sendung der ARD. Ihr charmantes Lächeln wird Deutschland verzaubern. Dabei hat sie selbst ein so trauriges Geheimnis. (Hervorhebung von uns.)
Der fast sechs Jahre alte [!] Schicksalsschlag, den “Bild” anschließend (unter Berufung auf den Bruder eines Ex-Freundes und einen “Freund”) ausbreitet und mit einem Privatfoto illustriert, hat nichts mit Rakers’ Beruf zu tun, nichts mit ihrem öffentlichen Auftreten. Wir möchten uns nicht ausmalen, wie es sich anfühlt, wenn man wie Rakers – zumal heute, an einem der wichtigsten Tage in ihrer bisherigen beruflichen Karriere – mit den sensationsheischenden, heuchlerischen Schlagzeilen konfrontiert sieht. Dabei hat sich Rakers in der Vergangenheit weder selbst über ihr Privatleben geäußert*, noch wäre bekannt, dass sie sich sonst irgendetwas hätte zuschulden kommen lassen, wodurch sich – selbst in der abstrusen Fahrstuhllogik der “Bild”-Zeitung – die Berichterstattung rechtfertigen ließe.
Der Eingriff in Rakers Privatleben ist kalkuliert. Insgesamt fünf Autorennamen stehen über dem “Bild”-Artikel: Dennis Brosda, Miriam Krekel, Jupp Ley, Bettina Lüke und Markus Brekenkamp. Und was haben die Fünf in den vergangenen Tagen gemacht? Wer hat den Bruder des Ex-Freundes ausgehorcht? Wer den “Freund”? Wer hat das Privatfoto beschafft? Wer in vergilbten Ausgaben des “Westfälischen Volksblatts” nach Todesanzeigen gesucht? Wer hat versucht, Rakers zu erpressen davon zu überzeugen, dass es bestimmt besser für sie wäre, wenn sie mit “Bild” kooperiert? Und wo steht der Spind, in dem sie ihren Anstand weggeschlossen haben?
Der “Bild”-Artikel endet mit dem Satz:
Der Schmerz sitzt immer noch tief. In BILD wollte Judith Rakers über nicht sprechen.
*) Nachtrag, 17.30 Uhr(mit Dank an Gregor G.): In einem Interview mit der “Neuen Westfälischen”, bei der Rakers journalistische Karriere begann, beantwortet sie zwar auch Fragen zu ihrer Familie (“Meine Mutter hat Pferde…”) und ihrem Alltag (“Ich dusche morgens, wasche mir die Haare…”). Aber auf die Frage “Spüren Sie langsam die Schattenseiten, wenn man prominenter wird?” antwortet sie noch entspannt, aber entschieden: “Das gehört wohl dazu. Konsequenz könnte sein, dass ich einfach mit niemandem länger rede als sieben Minuten (schmunzelt). Nein im Ernst: Hamburg ist eine Medienstadt, da muss man aufpassen. Vermutlich ist das Interesse an meinem Privatleben auch deshalb da, weil ich dazu partout nichts sage. Privat ist Privat.”
Usability im Web-2.0-Zeitalter (infoweek.ch, Angie Born und Peter Hogenkamp)
“Rich Internet Applikationen” stellen nicht weniger als eine kleine Revolution bei der Bedienung von Websites dar. Allerdings ist die Sicherstellung der Usability wichtiger denn je.
Die Youtube-Armee (blick.ch, Adrian Schulthess)
Trotz Verbot. YouTube ist voll von Armee-Filmchen. Jetzt machen zwei Militär-Schnüffler im Internet Jagd auf die Handy-Filmer in Uniform. (vgl. dazu auch den Text auf medienlese.com vom 13.12.2007 mit dem Titel “YouTube-Armee Schweiz“)
Eine Heimat für Migranten (taz.de, Gabriele Dietze)
In Castingshows finden Jugendliche mit Migrationshintergrund das, was ihnen nur allzu oft verwehrt wird: Aufstiegschancen unabhängig von Staatsbürgerschaft und Herkunft.
Das burschikose Innenleben einer Zuger Webfirma (tagesanzeiger.ch, Christian Bütikofer)
Eine eng vernetzte deutsche Abzocker-Szene agiert aus der Schweiz heraus im Internet. Dies belegen umfangreiche Akten im Besitz des “Tages-Anzeigers”.
ORF und SF im Vergleich (tink.ch, Bernhard Braun und Lena Tichy)
In diesem Punkt sind sich Österreich und die Schweiz ziemlich einig: Die Öffentlich-Rechtlichen Sender taugen nicht viel. Höchste Zeit also, dass wir ihnen vor der Euro noch ein bisschen genauer auf die Finger schauen.
Es ist schon erstaunlich, mit welchem Selbstverständnis manch ein Boulevard-Journalist seiner Arbeit nachgeht: Im November vergangenen Jahres sind offenbar zwei Reporter auf der Jagd nach einem Mann, der, obwohl er wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war, soziale Stunden in einem Kindergarten abgeleistet hatte. Sie verfolgen einen Wagen, in dem sie den “dreifach verurteilten Kinderschänder” vermuten, bremsen ihn aus, stoppen ihn und schießen Fotos vom Fahrer. Der hat aber mit der Sache überhaupt nichts zu tun und ist schon gar nicht der “Sex-Täter”.
Zum Glück erfuhren die Reporter, die von der “Bild”-Zeitung sind und nach unbestätigten Angaben für die “BamS” unterwegs gewesen sein sollen, noch am selben Tag, dass sie den Falschen verfolgt, ausgebremst und abgelichtet hatten. Die Polizei soll sie nämlich wenig später in dem Kindergarten angetroffen haben, wo sie, ähm, Zeugen vernahmen. Das geschossene Foto erschien nicht. Dafür erstattet der Fotografierte aber Anzeige wegen Nötigung.
Wie uns eine Sprecherin des Amtsgerichts Osnabrück mitteilt, wurde jetzt Strafbefehl in Höhe von 15 Tagessätzen à 50 Euro gegen die Reporter erlassen. Zwei Wochen haben sie nun Zeit, dem Strafbefehl noch zu widersprechen. Sollten sie das tun, kommt es zur Hauptverhandlung. Anderenfalls wird der Strafbefehl rechtskräftig.
Mit Dank an Ralf H. K. und das “Meller Kreisblatt”.