Archiv für März 15th, 2006

Schock, grob geschätzt

Seit Montag schon druckt “Bild” ja “das brisanteste Buch des Jahres — exklusiv”. Laut “Bild” ist das Buch “eine Liebeserklärung und ein SOS-Ruf an die Familie”.

Und, zugegeben, die Lage ist schlimm — aber doch nicht ganz so schlimm, wie “Bild” sie heute (siehe Ausriss), ihren Vorabdruck flankierend, darstellt:

“Nur 676 000 Kinder kamen 2005 zur Welt, der niedrigste Stand seit dem 2. Weltkrieg, meldet das Bundesamt für Statistik.”

Mit dieser Zahl belegt die “Bild”-Zeitung, dass “wir Deutschen” (“eine bedrohte Spezies”) bis zum Jahr 2300 ausgestorben sein werden. Vom Statistischen Bundesamt allerdings stammt die Zahl nicht. Am 20. Januar erschien die bisher letzte Mitteilung der Behörde zu dem Thema. In dieser ist von “680 000 bis 690 000” Geburten die Rede. Andere Zahlen habe man seitdem nicht herausgegeben, sagte uns die zuständige Sachbearbeiterin. Die 676.000 seien eine Berechnung der Tageszeitung “Die Welt” , einer Schwesterzeitung von “Bild”.

Und so steht es auch in einer Meldung, die die Nachrichtenagentur AP gestern verschickte:

“Einer Schätzung der Tageszeitung ‘Die Welt’ zufolge kamen 2005 sogar nur knapp 676.000 Kinder zur Welt. Die Zeitung hatte die Geburtenzahlen der ersten neun Monate mit den Werten des letzten Quartals 2004 ergänzt.”

Aber auch die übrigen Belege der “Bild” sind weniger “Fakten” als grobe Schätzungen:

“In den nächsten 44 Jahren (bis 2050) wird die Zahl der Deutschen um 12,5 Mio. sinken — von heute knapp 82 auf knapp 70 Mio. Menschen.”

Diese Zahlen stammen tatsächlich vom Statistischen Bundesamt. Sie wurden am 6. Juni 2003 als negativste von neun möglichen Entwicklungen veröffentlicht. Allerdings mit einer deutlichen Warnung:

“Weil die Entwicklung der genannten Bestimmungsgrößen mit zunehmendem Abstand vom Basiszeitpunkt 31.12.2001 immer unsicherer wird, haben solche langfristigen Rechnungen Modellcharakter. Sie sind für den jeweiligen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten keine Prognosen, sondern setzen die oben beschriebenen Annahmen um.”

Daher sagt das Bundesamt, die Bevölkerungszahl werde im Jahr 2050 “zwischen 67 und 81 Millionen” betragen.

Mit Dank an Dominik D. und Nikolai S.

Nachtrag, 16.3.2006: Betrachtet man die Deutschen als aussterbende “Spezies”, wie es “Bild” tut, dann gibt es davon schon jetzt nicht mehr ganz so viele: Von den “rund 82,5 Millionen Einwohnern“, die das Statistische Bundesamt derzeit in Deutschland zählt, haben 75,2 Millionen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Rest sind Ausländer — womit der Satz, dass “die Zahl der Deutschen um 12,5 Mio.” sinken werde, nicht nur grob geschätzt ist, sondern wahrscheinlich auch falsch.

Mit Dank an an Philipp G., Hanno B., Micha O. und Eike F. für die Ergänzung.

“Bild” wird gerügt und nicht gerügt

Der Deutsche Presserat hat die “Bild”-Zeitung für mehrere Artikel über einen Mann gerügt, den sie als “Attentäter” bezeichnete, obwohl er nach allem, was man weiß, kein Attentäter war. Er war zwar in der Türkei in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden — aber nach Erkenntnissen des Presserates nur wegen der Teilnahme an einer Demonstration, an deren Ende es zu einem tödlichen Brandanschlag kam. Wegen eines Tötungsdelikt sei er nicht angeklagt worden. Die Berichterstattung der Rhein-Neckar-Ausgabe von “Bild” sei “falsch und vorverurteilend” gewesen, befand die zweite Beschwerdekammer des Presserates, und habe gegen die Ziffern 2 und 13 des Pressekodex verstoßen.

Presseethisch nicht zu beanstanden war nach Ansicht des Gremiums dagegen die vielfach kritisierte Aufmacher-Schlagzeile “Wird sie geköpft” unter einem Foto der entführten Susanne Osthoff im vergangenen Herbst: “Die Mitglieder äußerten Verständnis für die von Emotionen geprägten Beschwerden beim Presserat, gleichzeitig weist die Kammer jedoch darauf hin, dass die Zeitung hier eine reale Gefahr in Worten abgebildet hat. Auch grausame Realitäten zu schildern und darüber zu berichten, gehört zu den Aufgaben der Presse.”

Na, zufrieden? (2)

Okay, wir kapitulieren…

Und man kann uns nicht vorwerfen, wir hätten’s nicht versucht: Nachdem Bild.de am vergangenen Sonntag eine Werbung Meldung von Postbank und “Bild am Sonntag” übernommen und diese mit einer Tortengrafik illustriert hatte (siehe Ausriss), hatten wir auf deren augenfällige Unsinnigkeit* hingewiesen.

Anders als in vielen, vielen anderen Fällen hatte sich Bild.de daraufhin jedoch nicht entscheiden können, die falsche Grafik zu korrigieren (oder — als probate Alternative — ersatzlos zu streichen), weshalb wir heute nachmittag einfach mal eine Mail an die Bild.de-Redaktion geschickt haben.

Eine Antwort erhielten wir nicht. Aber das hanebüchene Ergebnis unserer Bemühungen sieht nun so aus:

*) Sinn und Zweck einer Tortengrafik ist es, Teilwerte eines Ganzen wie Kuchenstücke aussehen und dadurch anschaulich werden zu lassen. Und das funktioniert natürlich nur, wenn der Zuckerbäcker nicht irgendwelche Teigklumpen unter den Tisch fallen lässt. Die Konditorei “BamS” weiß, wie’s geht.

Nachtrag, 16.3.2006: Entgegen anderslautender Vermutungen hat der diensthabende Zuckerbäcker von Bild.de offenbar gar nicht selbst gebacken, sondern nur irgendeine andere alte Torte aus dem Müll gefischt und umdekoriert. Auch schlimm.

Mit Dank an Matthias R. für den Hinweis.

Kurz korrigiert (72)

Unter der Überschrift “Schon wieder Pannen bei der Discovery” ist Bild.de schon wieder eine Panne passiert. Anders als in quasi allen anderen Medien heißt es dort fälschlicherweise:

"Der deutsche Astronaut Thomas Reiter soll mit der Discovery zur russischen ISS fliegen. Neuer Starttermin: Anfang Juli"

Bei Wikipedia heißt es dazu:

“Die Internationale Raumstation (engl. International Space Station, ISS) ist eine in internationaler Kooperation entstehende große Raumstation. Früher war sie auch unter der Bezeichnung Alpha bekannt, doch nach dem Beitritt Russlands zum Projekt wurde dieser Name verworfen, da er aus der Sicht der Russen eine Pionierleistung suggerierte und die früheren sowjetischen Raumstationen nicht berücksichtigte. (…) Am Bau der Raumstation ist neben der amerikanischen NASA, Russland, Japan, Brasilien und Kanada auch die ESA beteiligt. Allerdings nehmen nicht alle Mitglieder der ESA an dem ISS-Programm teil – Großbritannien, Irland, Portugal, Österreich und Finnland beteiligten sich von Anfang an nicht, und Griechenland trat der ESA erst später bei.”

Die russische Raumstation Mir hingegen wurde in den frühen Morgenstunden des 23. März 2001 zum kontrollierten Wiedereintritt in die Erdatmosphäre gebracht. Ihre nicht verglühten Trümmer stürzten um 6.57 Uhr in den Pazifik.

Mit Dank an Stephan R. für den Hinweis.

Nachtrag, 14.10 Uhr: Bild.de hat den Fehler inzwischen dahingehend korrigiert, das Wort russischen ersatzlos zu streichen.