Das Schöne an Zeitungen beispielsweise ist, dass sie Sachverhalte einordnen, dass sie erklären, was für den laienhaften Leser andernfalls schwer oder gar missverständlich sein könnte. “Bild” beispielsweise tut das (angeblich) immer wieder: Ob Olympia oder Ecuador, das “neue Öko-Angstwort”, das Papst-Gewand oder die Beschlüsse der neuen Regierung — “BILD erklärt”, heißt es dann gern.
Aber nicht nur “Bild” erklärt. Nachdem sich das ZDF entschieden hatte, ein Interview mit der Archäologin Susanne Osthoff über ihre Geiselnahme im Irak auszugsweise im gestrigen “heute journal” auszustrahlen, war man auch dort bemüht, das fraglos grotesk wirkende Gespräch einzuordnen.
So sei, sagte die Interviewerin Marietta Slomka vor der Ausstrahlung, Osthoff zu einer Fernsehaufzeichnung nur bereit gewesen, “wenn ihr Gesicht verschleiert bleibt”. Das Resultat wirkte befremdlich, nicht zuletzt, weil Osthoff schwarze Kleidung und einen Gesichtsschleier trug, der einem Niqab (oder Nikab) nicht unähnlich sah. Aber was wissen wir schon — außer vielleicht, dass eine Verschleierung wie die Osthoffs weltweit für viele Musliminnen Tradition, Ausdruck ihrer Religiösität oder schlicht Alltag ist.
Und “Bild”? Schreibt unter der Überschrift “Irrer TV-Auftritt” auf der Titelseite:
“Vermummt wie eine radikale Islamistin zeigte sie sich vor der Kamera (…)”
Und weil “Bild” der irre Vergleich offenbar irre gut gefällt, steht’s auf Seite 2 gleich nochmal:
“Vermummt wie eine radikale Islamistin zeigte sich die deutsche Ex-Geisel vor der Kamera.”
Mit anderen Worten: Wenn Osthoff für “Bild” also “wie eine radikale Islamistin” aussah, erklärt das nicht Osthoffs rätselhafte Verschleierung. Aber es sagt viel darüber, wie “Bild” erklärt.
Wer war noch mal “Florida-Rolf”? Im August 2003 hatte “Bild” einen Mann so genannt, der in Florida lebte, aber aus Deutschland Sozialhilfe bezog. In Folge der tagelangen Schlagzeilen kehrte nicht nur der Mann nach Deutschland zurück, die Bundesregierung verschärfte auch die entsprechenden Richtlinien für Sozialhilfe im Ausland. Es war, aus Sicht der “Bild”-Zeitung, ein großer Triumph.
Seit einigen Tagen hat “Bild” einen neuen “Florida-Rolf”. Es handelt sich laut “Bild” um “Berlins schlimmsten Sozial-Schmarotzer”, der “dreister ist als Florida-Rolf”. Weil er in Mexiko lebt, nennt ihn “Bild”: “Karibik-Klaus”.
“Florida-Rolf” genoß auf Kosten der Steuerzahler das süße Leben in Miami. Jetzt lacht auch ein Berliner Sozialschmarotzer alle aus. Karibik-Klaus (71).
Man muss schon genau lesen, um zu merken, dass sich das “auch” im zweiten Satz nicht auf das süße Leben oder die Kosten der Steuerzahler bezieht, sondern auf das Auslachen. Auf solche Art und durch das geschickte Weglassen und Verdrehen von Tatsachen versucht “Bild”, die Fälle “Florida-Rolf” und “Karibik-Klaus” ähnlich erscheinen zu lassen.
Sie sind es nicht.
“Florida-Rolf” nutzte ein Gesetz aus, “Karibik-Klaus” brach ein Gesetz. Bei “Florida-Rolf” handelte es sich damals um einen aktuellen Fall, die Vorwürfe gegen “Karibik-Klaus” beziehen sich auf die Jahre 1994 bis 1997. “Florida-Rolf” lebte in Florida, “Karibik-Klaus” aber zum fraglichen Zeitraum nicht in der Karibik, sondern in Berlin. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, beim Antrag auf Sozialhilfe Einkünfte aus Häusern in Mexiko und Florida verschwiegen haben.
Es ist ein Lehrstück darüber, wie “Bild” es schafft, durch einen teils schlampigen, teils bewusst irreführenden Umgang mit der Wahrheit aus einer kleinen Geschichte einen Aufreger mit vielen fast seitenfüllenden Artikeln und großen Schlagzeilen zu machen.
Er lebte dort [in Mexiko] in einem Haus am Meer, besaß noch ein Anwesen in Florida.
Zur Finanzierung seines üppigen Lebensstils hatte er sich auch etwas einfallen lassen. Er blieb weiter in einer kleinen Wohnung in Berlin gemeldet — und beantragte Sozialhilfe! Von April 1994 bis August 1997 kassierte er so 22500 Euro!
Lassen wir mal dahin gestellt, ob 550 Euro monatlich ausreichen, um einen “üppigen Lebensstil” zu finanzieren. Ein anderer Punkt ist gravierender: “Bild” behauptet, “Karibik-Klaus” habe in Mexiko gelebt, als er die Sozialhilfe bezog. Das ist nach Angaben eines Sprechers des Amtsgerichts Tiergarten falsch. In dem Verfahren sei es nur darum gegangen, dass “Karibik-Klaus” in Berlin lebte, aber seinen Besitz im Ausland nicht angegeben habe. So berichtet das auch der “Berliner Kurier”:
Klaus L. soll vor seinem Umzug in das schöne Fischerstädtchen Puerto Morelos an der Karibikküste rund 22 000 Euro Stütze erschlichen haben.
(Hervorhebung von uns.)
In eine Aufnahme von Florida hat “Bild” den Text geschrieben:
Im sonnigen Florida läßt es sich “Karibik-Klaus” jetzt gutgehen.
Auch das ist falsch. In Florida hatte Klaus L. ein Haus besessen, aber längst verkauft. Wenn er es sich irgendwo gutgehen lässt, dann in Mexiko oder in Berlin.
Der erste Artikel von “Bild” über “Karibik-Klaus” endet mit einer Beschreibung, was der “Sozialschmarotzer” tat, nachdem das Berliner Gericht sein Urteil gesprochen hatte:
Dann verschwand er schnellen Schrittes. Er wollte die nächste Maschine nach Mexiko auf keinen Fall versäumen…
Drei Tage später erscheint ein weiterer “Bild”-Artikel über “Karibik-Klaus”, der ebenfalls mit einer Beschreibung endet, was der “Sozialschmarotzer” tat, nachdem das Berliner Gericht sein Urteil gesprochen hatte:
Klaus L. nutzte den Berlin-Aufenthalt, um in der alten Heimat Weihnachten zu feiern. Er logierte bis heute [27. Dezember] morgen in dem Hotel, in dem ihn das Gericht untergebracht hatte. Obwohl das Urteil schon Ende letzter Woche ergangen war…
Aha: “Bild” behauptet, der böse Mann sei gleich wieder in die Sonne gereist, was seine Dreistigkeit beweisen soll, und “Bild” behauptet, der böse Mann sei extra noch in Berlin geblieben, was ebenfalls seine Dreistigkeit beweisen soll.
In diesem zweiten Artikel fällt außerdem auf, dass “Bild” die Angabe weglässt, wann der Sozialhilfe-Betrug stattfand. “Bild” schreibt:
In seiner neuen Heimat (…) scheint das ganze Jahr die Sonne — gestern war es 30 Grad warm. Trotzdem kassierte Klaus L. jahrelang Sozialhilfe, betrog die Berliner Behörden.
Dass zwischen diesen beiden Sätzen, die durch ein falsches “trotzdem” verbunden sind, ein zeitlicher Abstand von neun Jahren liegt, erfahren die “Bild”-Leser aus diesem Artikel nicht.
Einen Tag später berichtet “Bild”, dass ein Reporter Klaus L. — anscheinend immer noch in Berlin — getroffen habe, und fasst die Vorwürfe erneut falsch zusammen:
Weil es ihm dort zu kalt wurde, zog er nach Mexiko. Und kassierte in dieser Zeit 22 500 Euro Sozialhilfe aus Deutschland.
Noch einmal: Nach den Worten des Gerichts besteht dieser zeitliche Zusammenhang nicht.
Der Artikel endet mit den Worten:
Dann wird der Schmarotzer plötzlich hektisch, schwärmt: “Wir wollen in ganz Mexiko noch Appartement-Anlagen hochziehen. Durch den Termin vor dem Berliner Amtsgericht blieb ziemlich viel Arbeit liegen. Ich muß los.”
Wir fassen zusammen: Klaus L. ist also laut “Bild” sofort nach dem Urteil hektisch abgereist, dann extra noch lange geblieben, und dann hektisch abgereist.
Tag 4 der Berichterstattung. Diesmal behauptet “Bild” zur Abwechslung nicht, dass Klaus L. in Mexiko Sozialhilfe aus Deutschland bezogen habe, sondern schreibt:
BILD-Besuch in Puerto Morelos. (…) Hierhin hatte er sich mit 22 500 Euro Sozialhilfe abgesetzt.
Den dritten Tag in Folge findet die “Bild”-Zeitung nicht erwähnenswert, wann sich die sie empörenden Vorgänge ereignet haben (nämlich nicht dieses oder letztes Jahr, sondern von 1994 bis 1997). Und auch etwas anderes fehlt in dem Text. Eine genaue Erklärung nämlich, wie die Überschrift gemeint ist. Sie lautet:
Das Prunk-Haus von Karibik-Klaus
Mal abgesehen davon, dass das “Prunk-Haus” auf den Fotos ein eher schlichtes Gebäude mit leerem Pool, billigen Plastikstühlen und seit Monaten umgeknickter Palme zeigt: Ob dies nun das Haus “von” Karibik-Klaus ist, weil es ihm gehört oder weil er dort ein Apartment gemietet hat oder weil er dort als Hausverwalter arbeitet oder nur weil es sich so schön reimt, geht aus dem “Bild”-Artikel nicht hervor.
“Nur Moralisten können gute Journalisten sein.”
(Kai Diekmann)
“Man muss ein Zeichen setzen gegen die Angst vor ‘Bild’.”
(Charlotte Roche)
Am 5. September 2004 berichtete der Berliner “Tagesspiegel” ausführlich über die “Methoden der mächtigsten deutschen Zeitung”. Geschildert wurde neben vielen anderen haarsträubenden Fällen unter anderem die Erfahrung, die die Moderatorin Charlotte Roche im Juni 2001 mit “Bild” gemacht haben soll. Einige Wochen, nachdem bei einem Autounfall auf dem Weg zu ihrer Hochzeit drei ihrer Brüder getötet und ihre Mutter schwer verletzt wurden, sei sie von einem Paparazzo lachend mit ihrem Freund fotografiert worden. Ein “Bild”-Redakteur habe ihr gedroht, dieses Foto mit dem ironischen Kommentar “So tief ist ihre Trauer” zu veröffentlichen, wenn sie der Zeitung kein Interview gebe.
Diese Schilderung stimmte offensichtlich nicht. Die Axel Springer AG setzte eine Gegendarstellung durch, in der sie bestritt, dass sich ein “Bild”-Journalist je so gegenüber Roche geäußert habe. Die Redaktion hätte das Foto weder besessen, noch von ihm gewusst, noch es als Druckmittel eingesetzt.
Unter dieser Gegendarstellung korrigierte sich der “Tagesspiegel”, widersprach aber der Darstellung von Springer:
Richtig ist, dass sich kein “Bild”-Journalist gegenüber Charlotte Roche geäußert hat. Dem Tagesspiegel liegt allerdings ein Schreiben eines Mitarbeiters der Presseabteilung von Viva vor, dem Sender, bei dem Charlotte Roche damals moderierte. Darin heißt es: “Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall von Charlottes Brüdern hat sich damals ein ‘Bild’-Redakteur bei mir telefonisch gemeldet. Soweit ich mich erinnere, sagte er, er habe zwar Bauchschmerzen bei diesem Anruf, aber er habe mit der Chefredaktion in Hamburg gesprochen und müsste mir Folgendes sagen: Wenn die ‘Bild’-Zeitung kein Interview mit Charlotte bekäme, würde die ‘Bild’ am nächsten Tag ein Bild von Charlotte bringen und dazu eine Geschichte, die uns nicht gefallen würde. Mir wurde nicht mitgeteilt, um welche Art von Foto oder Geschichte es sich handelt.”
“Bild” bestreitet bis heute, dass es dieses Gespräch mit diesem Inhalt gegeben hat.
Gegen diese Darstellung des “Tagesspiegel” ist die Axel Springer AG in keiner Weise mehr vorgegangen.
Jetzt ist über ein Jahr vergangen, und diesmal hat es nicht der “Tagesspiegel”, sondern der “Stern” gewagt, kritisch über “Bild” zu schreiben. Vor zwei Wochen stand in der Zeitschrift:
Der erste Anrufer nach dem Unglück auf ihrem [Charlotte Roches] Handy war ihr Vater, der zweite ein “Bild”-Reporter. Was folgte, sagt Charlotte Roche, “war Telefonterror — den Rest des Tages hatte ich damit zu tun, die Anrufe von ‘Bild’ wegzudrücken”.
Die Moderatorin sprach mit niemandem. Vier Wochen lang tauchte sie ab, verließ kaum das Haus. Dann gelang einem Fotografen der “Abschuss” — so nennt der Boulevard Paparazzo-Aufnahmen: Charlotte Roche hatte neben ihrem Freund gestanden und gelacht.
Die “Bild”-Leute riefen bei Viva an. Ein Mitarbeiter des Senders hat seine Erinnerungen an das Gespräch notiert: “Kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall hat sich ein ‘Bild’-Redakteur bei mir gemeldet. … Er habe zwar Bauchschmerzen bei diesem Anruf, aber er habe mit der Chefredaktion in Hamburg gesprochen und müsste mir mitteilen: Wenn die ‘Bild’-Zeitung kein Interview mit Charlotte bekäme, würde die ‘Bild’ am kommenden Tag ein Foto von Charlotte bringen und dazu eine Geschichte, die uns nicht gefallen würde.” Ein ‘Bild’-Sprecher weist die Vorwürfe zurück: “Diese Äußerungen treffen nicht zu.”
All das darf der “Stern” zur Zeit nicht mehr behaupten. Die Axel Springer AG bestreitet Umstand und Inhalt der Gespräche und hat beim Landgericht München eine einstweilige Verfügung erwirkt, die dem “Stern” die Veröffentlichung vorläufig untersagt. Deshalb ist der gesamte “Stern”-Artikel auch aus dem Online-Angebot der Zeitschrift verschwunden. Beim “Stern” ist man über die Entscheidung des Gerichtes überrascht und will dagegen vorgehen.
Anders als der Branchendienst “New Business” meldet und auch Springer gegenüber dem Gericht behauptet haben soll, hat der “Stern” nicht die ursprünglichen (falschen) “Tagesspiegel”-Angaben wiederholt. Wiederholt hat der “Stern” die Erinnerungen des Viva-Mitarbeiters, die der “Tagesspiegel” in seinem Zusatz der Gegendarstellung Springers wiedergegeben hat. Und dagegen ist Springer, wie gesagt, nie vorgegangen. Beim “Stern” geht man deshalb davon aus, dass die einstweilige Verfügung keinen Bestand haben wird.
“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann fordert darüber hinaus vom “Stern” den Abdruck einer Gegendarstellung und die Abgabe von Unterlassungserklärungen. Beim “Stern” hat man das Gefühl, “Bild” verfolge eine ähnliche Taktik wie die, mit der die Zeitung vor einem Jahr gegen den “Tagesspiegel” vorgegangen sei: viele nebensächliche Punkte anzugreifen, um die Kritik an den haarsträubenden Methoden von “Bild” unberechtigt erscheinen zu lassen.