Archiv für Dezember 13th, 2005

Freie Improvisation über eine Hinrichtung

Das ist ja erstaunlich, was Bild.de da berichtet:

Kurz vor dem Tod reckte er noch einmal die Faust

Der Staat Kalifornien lässt einem Mann, kurz bevor er ihn hinrichet, noch soviel Bewegungsspielraum, dass er seine Faust recken kann? Das ist nicht nur erstaunlich, es ist auch sehr unwahrscheinlich. Und da wir diese Behauptung nirgends außer in Bild.de gefunden haben, nehmen wir an: Es ist nie passiert.

Vermutlich hat Bild.de da wieder etwas durcheinander gebracht. In den Augenzeugenberichten von der Hinrichtung kommt zwar tatsächlich die beschriebene Geste vor. Aber die Faust gereckt haben einer oder mehrere der fünf Unterstützer, die anwesend waren — laut “Contra Costa Times” konkret die Journalistin Barbara Becnel.

Anscheinend hat Bild.de die ganze Szene verwirrt. Angeblich soll Tookie nach der Geste mit der Faust auch noch leise “Tookie” gesagt haben. Warum? “Bild” weiß es nicht. Deutlich mehr Sinn ergibt die Beschreibung im “San Francisco Chronicle”, wonach es einer der Unterstützer war, der Williams auf diese Weise durch die Glasscheibe ansprach.

Auch dass Williams’ “Sterben” 35 Minuten dauerte, ist eine irreführende Aussage. Bild.de behauptet:

Es war ein langer Todeskampf für Tookie Williams. 35 Minuten dauerte es, bis das Gift in seinem Körper wirkte.

Vom Betreten der Hinrichtungszelle bis zu seinem Tod vergingen zwar rund 35 Minuten. Aber das hängt keineswegs damit zusammen, dass das Gift nur so langsam wirkte, wie Bild.de suggeriert. Alle anderen Quellen beschreiben, dass es sehr lange gedauert habe, bis eine Assistentin eine Vene in Williams’ linkem Arm gefunden hatte. Noch 17 Minuten nach Betreten der Zelle sei das nicht geschehen.

Bild.de behauptet weiter, dass vor Williams’ Todeskampf jemand gerufen habe: “Der Staat von Kalifornien hat einen unschuldigen Mann getötet.” Auch das behauptet niemand sonst. Nach allen Augenzeugenberichten riefen Williams’ Unterstützer diesen Satz erst beim Verlassen der Hinrichtung.

Bild.de fügt hinzu, dass Williams die Nachricht, dass Gouverneur Schwarzenegger sein Gnadengesuch abgelehnt habe, “nur mit einem Lächeln” zur Kenntnis genommen habe. Im Gegensatz dazu schreibt die “New York Times”, dass Williams nach Angaben von Jesse Jackson keineswegs nur gelächelt, sondern ihm gesagt habe: “Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben.”

Danke an die Hinweisgeber!

Die üblen Tricks der “Bild”

“Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer” haben es “Bild” ja angetan. Zumindest war dort auch am vergangenen Freitag wieder von einem “Trick im Gesetz” die Rede. Genauer gesagt stand das mit dem Trick unter der Überschrift:

"Die Wahrheit über Hartz IV"

Und unter der Frage:

“Können Hartz-IV-Empfänger viel mehr vom Staat kassieren, als bisher gedacht?”

“Bild” bezog sich ausdrücklich auf den Bericht “Grundsicherung für Arbeitsuchende – Entwicklung bis Juli 2005” der Bundesagentur für Arbeit und schrieb u.a.:

“Eine Studie der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigt: Trotz der niedrigen Regelsätze (…) erhalten Tausende richtig dickes Geld!

Rund 2200 Single-Haushalte bekommen mehr als 2000 Euro im Monat. Der Grund: Viele nutzen einen Trick im Gesetz, trennen sich pro forma vom Partner oder ziehen als volljährige Kinder zu Hause aus. Dann erhalten sie nicht nur die Miete, sondern auch die Kosten für den Umzug und die Ersteinrichtung der Wohnung bezahlt. (…)”

Was”Bild” nicht schrieb: Bei den von “Bild” für erwähnenswert befundenen “2200 Single-Haushalten” handelt es sich laut BA-Bericht um 0,1 Prozent der knapp 2,2 Millionen alleinlebenden bzw. 0,04 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger.

Zudem vergaß “Bild” zu erwähnen, dass die Formulierung “mehr als 2000 Euro im Monat” gelinde gesagt missverständlich ist. Denn die Empfänger bekommen das Geld nicht monatlich, sondern einmalig. In dem Bericht heißt es ausdrücklich:

“Die Bedarfsgemeinschaften mit monatlichen Leistungen von 2.000 und mehr Euro erklären sich mit Einmalleistungen u.a. zur Wohnungsbeschaffung.”

Darüber, dass “viele” der 2200 Single-Haushalte in den Genuss dieser Leistungen nur gelangen sollen, weil sie “einen Trick im Gesetz” nutzen, verliert der Bericht der BA indes, anders als “Bild” suggeriert, nirgends ein Wort.

Mit Dank an Eleni S., Carsten B. und Stephan S. für den Hinweis sowie an die BA für den Bericht.