Archiv für Juni 22nd, 2005

Wo Menschenverachtung beginnt

Anfang Mai, als der Prozess gegen Marc Hoffmann begann, brauchte “Bild” nicht viele Worte, um den des Mordes und der Vergewaltigung Angeklagten so zu charakterisieren, wie sie es für richtig hielt. Es gab da eine große Überschrift, die keinen Platz für Zweifel ließ:

In einem kleinen Text gab “Bild”-Reporter René Ebensen außerdem Auskunft darüber, wie er den Mörder gesehen habe. Sein Fazit:

Er ist eine Bestie.

So einfach ist das in der Weltsicht von “Bild”, die ja schon viel früher ihr Urteil über Marc H. gefällt hatte.

Dass es vielleicht doch etwas komplizierter ist, kann man in einem ausführlichen Prozessbericht der “Süddeutschen Zeitung” von gestern nachlesen. Am Ende des Artikels heißt es, dass das “Übermaß an Trauer” der Hinterbliebenen wohl “keinen Raum lässt für Hass”. Und weiter:

Aber dafür gibt es ja “Bild”, das zentrale deutsche Hassorgan. “Da sitzt die fette Bestie”, steht über dem ersten Prozessbericht, und Reporter René E. schildert uns, wie Marc H. (“aufgedunsen, fettige Haare, Pickel im Gesicht”) ihm einmal “direkt in die Augen” schaut und wie ihm “ein kalter Schauer über den Rücken läuft”. Offensichtlich verblüfft registriert der Reporter: “Marc H. atmet und schwitzt wie ein Mensch” (wo er doch in Wirklichkeit eine Bestie ist).

Die Folgen zwei und drei der Bild-Berichterstattung sind überschrieben: “Sie überführte die fette Bestie” (über Vera S., die der Polizei den entscheidenden Hinweis auf Marc Hoffmann gab) und “Warum schützt der Richter die fette Bestie?” (weil das Gericht während der Vernehmung des Sachverständigen Leygraf die Öffentlichkeit teilweise ausschloss).

Wahr ist, dass die Taten Marc Hoffmanns von erschreckender Gefühlskälte und Menschenverachtung zeugen. Aber Menschenverachtung beginnt nicht erst, wenn einer Kinder umbringt. Sie beginnt dort, wo einem das Menschsein aberkannt wird. Und wenn es ein Mörder ist.

Farbenblind

So, heute testen wir mal kurz die Reaktionsgeschwindigkeit von Bild.de:

Es ist 13.46 Uhr, und Bild.de berichtet unterhalb eines großen Fotos von Michael Schumachers silberfarbenem Privat-Ferrari (siehe Ausriss rechts) darüber, dass der Formel-1-Rennfahrer das abgebildete Auto bei Ebay hatte versteigern wollen, aber nicht hatte versteigern können. Im Text heißt es dazu unter anderem:

"Waren die Ferrari-Fans etwa sauer auf unseren Schumi? Fand der rote Flitzer deswegen keinen neuen Fahrer?"

Und die Uhr läuft ab… jetzt!

Mit Dank an Mischa B. für den Hinweis.

Nachtrag, 13:59:

Wiedersehen mit Belrus

Frage: Wenn die “Bild”-Zeitung ihre etwa 3,6 Millionen Käufer dazu aufruft, sich “Ihre Rundfunkgebühren zurückzuholen”, weil die Übertragung des Eurovision Song Contest “eine an Langeweile und Inkompetenz nicht zu überbietende TV-Katastrophe” gewesen sei — wieviele Leser werden den vorbereiteten Coupon ausschneiden, ausfüllen und an die ARD abschicken?

Antwort: 768.

Vielleicht entspricht diese Zahl “ganz Deutschland”. Vielleicht haben die anderen Leser aber auch gemerkt, dass der zugehörige Artikel eine an Inkompetenz nicht zu überbietende “Bild”-Katastrophe war: “Bild” nannte die Veranstaltung fälschlicherweise “European Song Contest”, erfand das Wort “Belrus”, glaubte fälschlicherweise, das sei englisch für “Weißrußland”, behauptete fälschlicherweise, das sei beim Grand-Prix eingeblendet gewesen und empörte sich fälschlicherweise, dass ARD-Kommentator Peter Urban das nicht übersetzt habe.

Volker Herres, der für die Sendung zuständige Programmdirektor des NDR, hat den 768 Gebühren-Zurückforderern jetzt einen Brief geschrieben:

Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie einer falschen Darstellung der “Bild”-Zeitung aufgesessen sind. (…)

Wegen der falschen Darstellungen hat das Landgericht Hamburg am 3. und 6. Juni 2005 der “Bild” per einstweiliger Verfügung eine Gegendarstellung auferlegt und die weitere Verbreitung des Artikels untersagt.

Vor diesem Hintergrund werden Sie mir zustimmen: Aufgrund eines fehlerhaften “Bild”-Artikels kann der NDR Ihnen nicht die Fernsehgebühren erstatten. Sollten Sie hingegen darüber nachdenken, wegen der irreführenden Berichterstattung den Kaufpreis der “Bild” vom 23.Mai zurückzufordern, so nenne ich Ihnen gerne die entsprechende Anschrift: Bild-Zeitung, Herrn Chefredakteur Kai Diekmann, Axel-Springer-Platz 1, 20355 Hamburg.