Archiv für Oktober 20th, 2004

Statistik für Anfänger

Nehmen wir einmal an, bei “Bild” würden 100 Redakteure arbeiten. Einer davon (nennen wir ihn Günni) nimmt Kokain, und fast jeder zweite Kollege weiß es. Eines Tages kommen ein paar Studenten von der Uni Münster vorbei und machen eine Umfrage über den Drogenmissbrauch unter Boulevard-Journalisten. Sie fragen jeden einzelnen Redakteur, ob er einen Kollegen in der Redaktion kennt, der kokst. Wahrgemäß antworten 46 von ihnen: Ja. (Und denken sich: der Günni.) Die Studenten fahren nach Hause. In ihrer Studie wird korrekterweise der Satz stehen: “46 Prozent aller ‘Bild’-Redakteure kennen jemanden, der Kokain nimmt.”

Wenn diese Studie dann aber wieder in die Hände der “Bild”-Redakteure kommt, staunen die und denken sich garantiert: “Wow. Fast jeder zweite von uns nimmt Kokain?”

Soweit das Gedankenspiel, jetzt die Praxis:

Laut einer Studie der Uni Leicester behaupten 46 Prozent der englischen Profi-Kicker, einen Kollegen zu kennen, der Drogen nimmt.

Aha. Und was folgt daraus?

Womöglich — wäre aber Zufall.

Tja, wer weiß schon die Antwort darauf. Die Studie jedenfalls nicht. Und “Bild” auch nicht.

Danke an Nils P. für den sachdienlichen Hinweis.

neu  

TV-Star schützt Kinderschänder

Oliver Pocher - TV-Star schützt KinderschänderDies ist vermutlich für jeden Prominenten eine der schlimmsten Schlagzeilen, die neben seinem Foto in der Zeitung stehen können:

Sicherlich wird sich selbst ein Blatt wie “Bild” bei solchen Vorwürfen Mühe geben, besonders sorgfältig vorzugehen und nicht fahrlässig den Ruf eines Unschuldigen zu zerstören.

— Um es vorwegzunehmen: Das Gegenteil ist der Fall.

Zuerst die “Bild”-Version der Geschichte:

Kinderschänder nicht angezeigt
TV-Star Pocher jetzt zum Polizei-Verhör

Jetzt rückt der Comedy-Star ins Visier von Polizei und Staatsanwalt!

In der Show von Johannes B. Kerner im ZDF gab Oliver Pocher (26, “Rent a Pocher”) zu, daß er vom Mißbrauch an einem Mädchen weiß. Er hat den Täter aber nicht angezeigt! […]

“Da kann man nicht einfach hingehen und jemanden beschuldigen und das vor Gericht durchbringen.”

Was denkt sich der TV-Star bloß bei solchen Aussagen – in Zeiten, wo fast täglich Kinder in Deutschland geschändet werden?

Im Text zum Foto nennt “Bild” Pochers Worte eine “Skandalaussage”.

Soweit die “Bild”-Zeitung. Jetzt die Wahrheit:

Oliver Pocher war am 8. Oktober, also vor fast zwei Wochen, bei Johannes B. Kerner. Nach dem üblichen Smalltalk fragte der Moderator den Komiker, ob es ein Thema gebe, bei dem er ernst werde. Pocher sagte: Ja, Kindesmissbrauch. Er sei für das Thema “extrem sensibilisiert”, weil er damit vor Jahren konfrontiert gewesen sei. Es habe unter anderem einen Fall in der “näheren Bekanntschaft”, in der “weiteren Nachbarschaft” gegeben.

Man hat versucht, dann dem Mädchen zu helfen. Man hat das teilweise erst so spät mitbekommen. … Aber konnte auch nicht wirklich so direkt gegen vorgehen, weil das gar nicht mal so einfach ist, weil letztendlich muss ja auch die Person selber zum Beispiel denjenigen anzeigen wollen, das ist halt alles ‘n bisschen komplizierter. Man kann nicht einfach nur hingehen und sagen: Der macht das. … Es ist schwieriger, das vor Gericht auch durchzubringen.

Pocher sagte, er habe den Fall erst “später mitbekommen, viel später”. Erst mit 14 Jahren sei er auf das Thema Kindesmissbrauch aufmerksam geworden. Der mutmaßliche Täter laufe noch frei herum:

Dann kommt’s einem ehrlich gesagt hoch. … Das ist etwas, das einem sehr nahe geht, gerade wenn man damit sehr viel zu tun hat.

Unter anderem wegen dieser Erfahrung engagiere er sich für ein Projekt eines Freundes, der ein Kinderhaus in Nepal gegründet habe.

Der Fall liegt, nach Pochers Beschreibung, mindestens zehn Jahre zurück. Pocher war anscheinend in keiner Weise beteiligt oder Zeuge. Wer das Video der Sendung gesehen hat, dürfte zu dem Schluss kommen, dass Pocher bei Kerner nicht über das Thema sprach, um Kindesmissbrauch zu verharmlosen, sondern im Gegenteil: um für die Alltäglichkeit solcher Fälle zu sensibilisieren.

Im Übrigen sagt es viel über die “Bild”-Zeitung aus, wenn sie das (verkürzte) Zitat Pochers, “Da kann man nicht einfach hingehen und jemanden beschuldigen und das vor Gericht durchbringen”, für eine Skandalaussage hält. Man könnte es auch für das Wesen eines Rechtsstaates halten. Nicht natürlich ein Blatt, das fast täglich einfach hingeht und jemanden beschuldigt…

Mehr dazu hier.

Alter Hut, neu aufgesetzt

“Frankfurter Rundschau: Müssen noch mehr Redakteure gehen?”,

fragt “Bild” Frankfurt am Dienstag und fügt hinzu:

Letzte Woche hatte die zu 90 Prozent der SPD-Presse-Holding gehörende Rundschau das Abschmelzen von derzeit rund 1000 auf 750 Mitarbeiter verkündet. Heftige Reaktionen blieben aus.

Heftige Reaktionen blieben aus? Wieso denn das? Weil’s keinen mehr kümmert?

Oder vielleicht, weil SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier schon Anfang August, also vor zweieinhalb Monaten, in der “Berliner Zeitung” sagte:

“Die Zahl der Beschäftigten soll Ende des Jahres 750 Vollzeitbeschäftigten entsprechen.”

Aber das ist nur so eine Vermutung.