Im Prozess gegen den irren S-Bahn-Schubser Ugur I. (19) sagte der Angeklagte gestern zu seinem Opfer: “Ich bereue es. Aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben.” Der Täter (illegal in Deutschland) kann sich an die Tat angeblich nicht erinnern: “Ich habe getrunken, viel zu viel. Ich weiß nichts mehr.”
Schreibt “Bild”. Angekündigt und überschrieben ist der Bericht mit den Worten:
S-Bahn-Schubser verhöhnt sein Opfer
Tja, vielleicht war die Überschrift einfach schon fertig, bevor der Prozess begonnen hatte, und dann hatte keiner mehr Lust, sie zu ändern. Warum auch.
Endlich hat “Bild” ein Wort gefunden: “Maulkorb-Urteil”. So nennt das Blatt seit heute das bislang als “Caroline-Urteil” bekannte Straßburger Urteil, durch das “Bild” und viele Zeitungen, aber keineswegs alle (vgl. z.B. hier, hier und hier), das Ende der Pressefreiheit gekommen sehen. Die Bundesregierung hat am Mittwoch beschlossen, trotz (oder wegen) einer hektischen Kampagne keinen Widerspruch gegen dieses Urteil einzulegen.
Die Straßburger Richter hatten entschieden, dass die Berichterstattung (z. B. Fotos) über Prominente nur noch mit deren Erlaubnis zulässig ist.
Das ist in dieser Verkürzung falsch. Im Urteil heißt es ausdrücklich, dass “die Öffentlichkeit ein Recht darauf haben mag, informiert zu werden, ein Recht, das sich unter besonderen Umständen auch auf das Privatleben von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erstrecken kann“, dies sei allerdings im Fall von Caroline nicht gegeben. Entscheidend sei “inwieweit die veröffentlichten Fotos zu einer Debatte beitragen, für die ein Allgemeininteresse geltend gemacht werden kann.”
“Bild” schreibt:
Jetzt kann nur noch das Bundesverfassungsgericht die Pressefreiheit in Deutschland retten!
Hübsch gesagt, im Kern auch nicht ganz falsch, in der Formulierung aber völlig irreführend. Die Bundesregierung hat nämlich vor ihrem Beschluss, keinen Einspruch einzulegen, das Bundesverfassungsgericht um eine Stellungnahme gebeten. Dessen Präsident antwortete, es sei nicht unbedingt nötig, jetzt einzuschreiten. Wenn sich herausstellen sollte, dass das Straßburger-Urteil wirklich ein Problem für die Pressefreiheit werde, könne (und müsse) man gegebenenfalls in einem späteren Fall entsprechend tätig werden.
An einer Stelle ist “Bild” wirklich treffend. Chefredakteur Kai Diekmann hat für seinen Kommentar zum Thema die Überschrift gewählt:
In eigener Sache
Leider stellt sich heraus, dass er damit nicht sich und die anderen bunten Blätter meint, die zittern müssen, ob sie auch in Zukunft irrelevante, heimlich gemachte Bilder aus dem Privatleben von Prominenten veröffentlichen dürfen. Er meint die Bundesregierung, die er in der Sache für befangen hält.
Aufregende Geschichte, oder? Da möchte man schon wissen, worum es eigentlich geht.
Darum geht’s: Einen lustigen Brief haben Abiturienten des Jesuitenkollegs zu St. Blasien an den Süßwarenhersteller Haribo geschrieben. Schauen Sie doch mal hier. Am 29.03.2004 war das. Haribo hat am 14.04.2004 zurückgeschrieben (lässt sich auch hier nachlesen). Eine alte Geschichte also, aber, wie gesagt, lustig.
Insofern spricht auch nichts dagegen, wenn ein Boulevardblatt (der “Kölner Express”) erst am 31.08.2004 einen Artikel dazu veröffentlicht, dessen Überschrift lautet: “Haribo: Internet-Spaß um heiße Früchtchen”.
Eine andere Boulevard-Zeitung (“Bild”), hat das Ganze tags drauf nochmal aufgeschrieben, und zitiert den stellvertretenden Schulleiter:
Der kuriose Brief stammt nicht von der Schulleitung, sondern von einigen unserer Abiturienten, die sich einen Spaß erlaubt haben.
Die Überschrift dazu kennen wir ja schon (s.o.), und fügte man irgendwo hinter “Haribo” und vor “Gefährdung der Sittsamkeit” die Wörter “im Spaß” ein, wäre sie zwar nicht mehr so richtig der Hammer, dafür aber präzise.
Übrigens steht im Text auch noch der schöne Satz, “Eine Kölner Lokalzeitung machte aus dem Schreiben einen Pornoskandal, spricht von ‘Sex-Posse’.” Der Satz, “Die ‘Bild’-Zeitung machte aus dem Schreiben einen Sex-Skandal, spricht von ‘Porno-Verdacht'”, der steht da leider nicht.
Mit Dank an Christian K. für den sachdienlichen Hinweis.
Diese Sex-Szenen sind die nackte Lüge — Warum sich TV-Martina Gedeck dabei doubeln ließ
…steht auf der Homepage von Bild.de. Ja, warum lässt sie sich wohl doublen? Klickt man auf die Ankündigung, kommt man zu einem Artikel, der auch groß in der heutigen “Bild” ist. Überschrift:
Achtung! Diese Sex-Szenen sind die nackte Lüge — Warum TV-Star Martina Gedeck im ARD-Film “Hunger auf Leben” die erotischen Stellen einem Bodydouble überließ
Spannend. Warum also? Lesen wir den Artikel:
Ein Paar beim Liebesakt: Sie zieht ihm langsam das Hemd aus, küsst zärtlich seine Brust. Sekunden später: Er sitzt splitternackt auf der Couch, sie rittlings auf seinem Schoß. Genüsslich bewegen sich beide beim Sex.
Jajaja, geil. Und warum hat sich Gedeck dabei doubeln lassen?
Eine Szene aus dem ARD-Film „Hunger auf Leben“ (heute Abend, 20.15 Uhr). Hauptdarstellerin Martina Gedeck (39, „Rossini“) spielt die ostdeutsche Schriftstellerin Brigitte Reimann (1934–1973).
etc. etc. etc. Blöde Fakten. Was ist nun mit den Sexszenen? Warum hat die sich doubeln lassen?
Ein Film mit vielen freizügigen Liebesszenen. Doch die schöne Nackte ist nicht Schauspielerin Martina Gedeck! Wie BILD erfuhr, wurde die Schauspielerin in den pikanten Szenen gedoubelt.
So. Sie wurde also gedoubelt. Wissen wir. Jetzt muss es kommen: Warum wurde sie gedoubelt?
Die hingebungsvolle Brünette ist Fotomodell Myriam G. (32) aus Frankfurt am Main. Normalweise posiert sie für Mode-Kataloge wie …
bla bla bla
… sieht Martina Gedeck auch wirklich zum Verwechseln ähnlich. Die Haare, die Figur, der helle Hautton – alles passt perfekt.
Schön für sie. Und warum hat sich die Gedeck nun doubeln lassen?
Myriam hatte keine Probleme, die Sexszene auf dem Sofa mit Schauspieler Kai Wiesinger … zu drehen. … Myriam sagt: “Es gab keinen echten Sex. Wir waren zwar tatsächlich beide nackt. Aber passiert ist natürlich nichts. Alles nur gespielt. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht.”
Hier endet der Artikel.
Und wir haben nur eine einzige Frage: WARUM VERDAMMT NOCH MAL HAT SICH DIE GEDECK DABEI DOUBELN LASSEN?
P.S.: Außer als “nackte Lüge” hätte man die gedoubelte Szene natürlich auch als “Alltag im Filmgeschäft” bezeichnen können. Oder als Symbolbild.
“Bild” kämpft anvordersterFront gegen das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, das es als “Zensur” bezeichnet. In der “Süddeutschen Zeitung” lesen sich die Folgen der Entscheidung ein bisschen anders:
“Da läuft eine verlogene Debatte“, stellt der Essener Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner fest. “Es geht um Kohle für einige Verlage, und die machen eine Kampagne daraus. Bedroht ist nicht der investigative Journalismus, sondern der Kloakenjournalismus.” …
“Im Klartext: Über viele Skandale dürfte dann nicht mehr berichtet werden”, schrieb Bild am Dienstag. “Vor allem über die inszenierten”, kommentiert Anwalt Holthoff-Pförtner knapp. …
Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem findet … “keines der Beispiele der Behinderung der Wächterfunktion der Presse wird von der Straßburger Entscheidung erfasst. Sie behindert insbesondere keine Recherchen der Presse zwecks Aufdeckung von Skandalen.”
Etwas überspitzt lässt sich der Artikel des SZ-Redakteurs Hans Leyendecker so zusammenfassen: Seriöse Journalisten haben das Straßburger Urteil nicht zu fürchten. “Bild” schon.
Mit Dank an Nils K. für den sachdienlichen Hinweis.
Nachtrag, 5.9.2004: Immerhin hat Bild.de mittlerweile ebenfalls herausgefunden, für wen Frau Hilton künftig wirbt und das sogar in die “Internet-Klatsch”-Rubrik geschrieben.