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Out of Loch Ness

Am größten, tollsten, schönsten – die deutsche Sprache ist nicht unbedingt das beste Arbeitsmaterial für Marktschreier. Um das Publikum zu ködern, muss man schon Fantasie haben, darf keine Scheu haben, Worte neu zu besetzen. Wie zum Beispiel Hape Kerkeling, der vor 20 Jahren nicht etwa formschöne Badeutensilien, sondern Mörder-Duschhauben verteilte.

Diesem Vorbild wollte wohl der Redakteur von Spiegel Online nacheifern, als er eine Überschrift für diesen Artikel suchte, der vom bisher größten riesig-gigantischen Windpark handelt, der vor der britischen Küste entsteht.

Riesen-Windpark vor britischer Küste
Siemens und RWE bauen das Monster Gwynt y Môr

Gewinner verloren

Wir haben längst aufgegeben zu ergründen, welche Kriterien hinter der Bestückung der Gewinner- und Verlierer-Rubrik auf Seite 1 der “Bild”-Zeitung stecken — außer natürlich den bekannten Motiven wie politischer Opportunismus, Recherchefaulheit oder Häme gegenüber der Konkurrenz.

Heute aber ist plötzlich ein “Gewinner” des Tages fast spurlos verschwunden. Vom Nachmittag an bekamen die Leser von Bild.de beim Klick auf die entsprechende Rubrik plötzlich nicht mehr die aktuellen Gewinner und Verlierer zu sehen, sondern eine Wiederholung der Gewinner und Verlierer von gestern.

Über den Ausgang der aktuellen Gewinner/Verlierer-Ziehung der “Bild”-Lotterie informieren nur noch ein paar vereinzelte, offenbar vergessene Teaser auf Bild.de — und natürlich die gedruckte Zeitung: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann hatte in Augen der “Bild” gewonnen. Grund ist das ach so gute Quartalsergebnis der Deutschen Bank:

Gewinner: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann (62)
BILD meint: Erfolg gibt recht!

Warum hat Bild.de den “Gewinner” verschwinden lassen? Dass Herr Ackermann die Zahlen aus gutem Grund nicht all zu hoch hängen will, spielt für die Wirtschafts-Boulevard-Experten von Bild.de sicher keine Rolle. Aber vielleicht eine aktuellere Meldung?

Wir können hier nur spekulieren, aber man darf bei der “Bild”-Zeitung offenbar nicht einmal so viel Loyalität erwarten, dass sie einen vollen Tag hinter ihrem “Gewinner des Tages” steht. Oder so viel Aufrichtigkeit, dass sie einen Fehlgriff offen korrigiert.

Mit Dank an Lukas W., Marekki und Philipp M.

Irgend so ‘n Knubbel

Produktbilder sind für Online-Redakteure immer ein Grund zur Freude: Der Leser liebt Bilder, Hersteller stellen Fotos kostenlos zur Verfügung. Also kann man die so vorteilhaft und professionell inszenierten Produktfotos mal eben in eine Klickstrecke verwandeln. Schnell die Bilder zuschneiden, in das Redaktionssystem kopieren — schon ist man fertig. Die Print-Kollegen würden für die Katalogbeilage Geld verlangen, doch online ist ja genug Platz vorhanden. Eine Win-Win-Situation. Wären da bloß nicht die lästigen Bildunterschriften …

So dachte wohl auch der zuständige Redakteur bei Bild.de, der einen Produkttest des neuen “Aldi-Notebooks” aus der Schwesterpublikation “Computer-Bild” bearbeiten sollte: Ganze 14 Bilder hatte Hersteller Medion bereit gestellt — und es wäre doch gelacht, wenn man die nicht alle unterbringen könnte. Das aufgeklappte Notebook von vorne, von schräg vorne, das zugeklappte Notebook, das Zubehör …

Doch was ist das für ein Knubbel da oben rechts? Ein Lautstärkeregler? Ein Infrarot-Sensor? Ein Mini-Lautsprecher?

Für Video-Telefonie und -Chats sind Webcam und Mikrofon oben rechts im Bildschirmrahmen integriert

Falsch geraten: Es handelt sich um einen technisch eher unspektakulären Gummi-Puffer, der beim Zuklappen für ausreichend Abstand zwischen Tastatur und Display sorgt. Mikrofon und Kamera befinden sich in der Mitte des oberen Displayrahmens.

Woher wir das wissen? Aus dem Video zum Produkttest, das im Artikel verlinkt ist.

Mit Dank an Ingo H.

Nachtrag, 11:50 Uhr: Bild.de hat das Bild inzwischen entfernt.

Dramatik, Sex und George Clooney

Jeder Journalistenschüler weiß, was eine Nachricht zur Nachricht macht: Prominenz, Nähe, Gefühl, Sex, Fortschritt, Folgenschwere, Konflikt, Kampf, Dramatik, Kuriosität. Je mehr dieser Nachrichtenfaktoren in einer Meldung zu finden sind, desto mehr Leser interessieren sich dafür, Auflagen steigen, Klickzahlen schnellen in die Höhe.

Und so erschien es fast wie ein Sechser im Boulevard-Lotto, als die Nachricht bekannt wurde, dass am Karfreitag eine Frauenleiche in der Nähe von George Clooneys Villa am Comer See gefunden wurde. Am 4. April titelt der Schweizer “Blick” in seiner Online-Ausgabe:

Ihr wurde beim Sex die Kehle durchgeschnitten

Dicht gefolgt von der Redaktion von Bild.de, die sich die Recherche gleich spart und kurzerhand die “Blick”-Geschichte nacherzählt:

Beim Sex ermordet?  Wasserleiche vor George Clooneys Villa entdeckt

Allein — zu dem Zeitpunkt hatte sich die Hälfte der Nachrichtenfaktoren bereits in heiße Luft aufgelöst: Die Frau war identifiziert, die meisten Spekulationen von der Polizei widerlegt. Und George Clooney, dessen Villa laut italienischen Medien “weniger als einen Kilometer”, laut Blick.ch und Bild.de nur “wenige Meter” vom Fundort entfernt steht, hatte offensichtlich rein gar nichts mit dem Fall zu tun. Die Leiche war mehrere Tage von der Strömung des Sees getrieben worden. Wie kann man also die Prominenz in der Meldung halten?

Der “Blick” wählt diesen kreativen Weg:
Sie ist jung und schön. Langbeinig mit Model-Massen, der Busen chirurgisch vergrössert. Ein George Clooney-Typ. Doch vor dieser Schönen grauts dem Hollywood-Star.

Bild.de ist weniger kreativ, aber plakativer:
Schauspieler George Clooney: Noch ist unklar, ob er während des Leichenfundes in seiner Villa war

In Punkto “Sex” gibt sich die “Blick”-Autorin besser informiert als alle anderen: Sie zitiert einen anonymen Ermittler, wonach das Opfer vermutlich “beim Sex” getötet worden sei — in der Überschrift wird aus der Spekulation flugs ein Fakt gemacht. Der ist dazu noch sehr exklusiv: In der italienischen Presse findet sich kein Hinweis auf den Geschlechtsverkehr, aber immerhin ein Hinweis, dass die offizielle Obduktion noch gar nicht stattgefunden hatte, als die grausamen Details in der Schweizer Boulevardzeitung (und unter Berufung darauf auch bei Bild.de) zu lesen waren.

Ausriss: Bild.de

Weniger einfallsreich zeigen sich die Boulevard-Journalisten bei den Nachrichtenfaktoren Dramatik und Gefühl – denn was ist dramatischer und nahegehender als die Bilder einer echten Leiche? Dass die Fotos nur zu Fahndungszwecken veröffentlicht worden waren und nach der längst erfolgten Identifizierung nicht mehr verwendet werden sollten, interessiert – wie gewohnt – weder Blick.ch, noch Bild.de. Schließlich geht es um den Leser die Auflage.

Mit Dank an Carlotta R.

Bild  

Eine Schlagzeile fürs Lehrbuch

Pressekodex, Richtlinie 12.1:

In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

“Bild”, 18. März 2010:
Das sind die Poker-Räuber

Geheimdienstkrämerei um den CCC

Es gibt Meldungen, da braucht man nicht viel mehr als 140 Zeichen, um zu wissen, wer im Recht und wer im Unrecht ist:

Nach ergangener Einstweiliger Verfügung behauptet die Axel Springer AG nun nicht mehr, der #CCC würde für den #BND arbeiten.

Auf der einen Seite die Springer-Presse, deren Angestellte scheinbar ständig die Grenzen des Journalismus und des menschlichen Anstands ausloten, auf der anderen Seite der Chaos Computer Club, galaktische Gemeinschaft und Retter der Bürgerrechte. Wer da zweifellos Recht hat, ist doch klar, oder?

Doch worum geht es? In der “Berliner Morgenpost” und im Online-Angebot der “Welt” war am 3. März ein Artikel erschienen, der ein desaströses Bild von der Einsatzfähigkeit deutscher Sicherheitsbehörden im Anti-Terror-Kampf zeichnete. Überschrift: “Ohne USA geht bei der Terrorbekämpfung nichts”.

Darin enthalten war diese verfängliche Textstelle:

Heute soll Pullach nicht einmal in der Lage sein, sich in moderne Computer zu hacken. Entsprechende Aufträge würden deshalb an externe Spezialisten wie den Chaos Computer Club (CCC) vergeben. Dieser dementiert das allerdings und spricht von Gerüchten.

Für die Hacker des CCC erschien dies als enorme Provokation, verbindet sie mit den Geheimdiensten aller Art nicht nur eine grundlegende Abneigung, sondern auch traumatische Erinnerungen.

CCC-Mitglied Felix von Leitner machte seiner Empörung Luft:

Wir sprechen nicht von Gerüchten, sondern von aktiver Desinformation, um unseren guten Namen zu beschmutzen.

Das Landgericht Berlin schloss sich der Argumentation des Chaos Computer Clubs an und verbot der Axel Springer AG am 9. März unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 Euro oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, das Gerücht zu wiederholen. Wie gewohnt gibt sich die Axel Springer AG bei Rechtsstreitigkeiten in eigener Sache sehr zugeknöpft: “Wir bewerten derzeit den aktuellen Sachverhalt und prüfen, ob wir Rechtsmittel einlegen”, erklärt ein Sprecher gegenüber BILDblog.

Der Artikel verschwand daraufhin aus dem Angebot von “Welt Online”, im Online-Angebot “Morgenpost” wurde er entschärft — vom Chaos Computer Club ist nun nicht mehr die Rede.

Doch auf den zweiten Blick ist die Verteilung von Gut und Böse nicht mehr so eindeutig. Es ist zwar möglich, dass die Information einer vermeintlichen Zusammenarbeit zwischen CCC und BND gezielt gestreut wurde — für einen Frontalangriff der “Springer-Presse” wäre dieses Vorgehen zumindest ungewohnt subtil: Das Gerücht war im Konjunktiv wiedergegeben, erschien an einer unscheinbaren Stelle im Text und das Dementi des CCC schloss direkt an. Kampagnen sehen anders aus.

Dass Journalisten nun die Wiedergabe eines Gerüchts verboten wurde, ist auch im Hinblick auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs zur Haftbarkeit bei der Verbreitung fremder Äußerungen vom November 2009 juristisch fragwürdig. Auch muss sich der CCC fragen lassen, was durch die Gerichtsentscheidung erreicht wurde: Der Artikel wird nicht ungelesen, die Unterlassungsverfügung verschließt die Diskussion darüber auf möglichst intransparente Weise. Zudem wurde der Chaos Computer Club einst auch zu dem Zweck gegründet, anonymen Informanten einen Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Wenn solche Aussagen allzu einfach per Gericht aus der Öffentlichkeit verbannt werden können, wird aus dem juristischer Erfolg vielleicht schon bald ein Pyrrhussieg.

dpa  

Auch Löschen will gelernt sein

Nachdem Bundespräsident Horst Köhler am Aschermittwoch das umstrittene Zugangserschwerungsgesetz zur Einführung von Websperren gegen Kinderpornografie unterzeichnet hat, gibt es ungewohnte Allianzen — so zumindest in der Zusammenfassung der dpa von heute Nachmittag:

Nach dem Regierungswechsel vereinbarte Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag, dass Union und FDP ein Löschen der Seiten bevorzugen. Jedoch stößt auch dies auf Kritik: So erklärte der Bund Deutscher Kriminalbeamter vor wenigen Tagen, Löschen sei nicht wirkungsvoller als Sperren. Auch die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, bezeichnete das Löschen als überflüssig.

Das wäre allerdings höchst erstaunlich, schließlich hatte die Piratenpartei im vergangenen Jahr sogar zu einer Demonstration unter dem Motto “Löschen statt Sperren” aufgerufen. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?

Aufklärung bietet der Blick in eine dpa-Meldung vom 9. Februar:

Doch der neue Plan, Internetseiten mit Fotos und Videos sexuell missbrauchter Kinder, zu löschen, greift aus Sicht von Netzgemeinde und Polizei ebenfalls zu kurz. “Das ist total überflüssig und lächerlich”, sagte der Sprecher der Piratenpartei, Simon Lange. Bestehende Gesetze reichten bereits aus, um Kinderporno-Seiten zu löschen.

So wurde aus einer Opposition gegen ein Löschgesetz die pauschale Ablehnung des Löschens von Kinderpornografie im Internet. Da hat wohl jemand zu oft auf die Löschtaste gedrückt.

Nachtrag 19:45 Uhr: Nach eiliger Krisenkommunikation hat die dpa am Abend zwar nicht wie gewünscht eine Richtigstellung veröffentlicht, aber immerhin eine Meldung, in der die Position der Piratenpartei nicht ins Gegenteil verkehrt wird:

Die Piratenpartei, in der sich viele Netzaktivisten engagieren, erklärte am Mittwoch in Berlin, es sei “unfassbar”, dass Köhler das Gesetz unterschrieben habe. Sprecher Simon Lange kritisierte zudem, für das Löschen von Seiten brauche man keine neuen Gesetze. Die bisherige Gesetzeslage erlaube dies bereits.

Hinweise auf eine vorher falsche Berichterstattung fehlen. Und so ist es auch kein Wunder, dass viele Tageszeitungen morgen mit der sinnentstellten Kurzfassung erscheinen werden. So heißt es zum Beispiel im “Tagesspiegel” von morgen:

Politische Meriten sind mit dem Thema also schwer zu erwerben. Die Piratenpartei erklärt, auch Löschen bringe nichts.

Nachtrag, 18.2.2010: Auf unsere Nachfrage erklärt die dpa, dass sie die Meldung nach Leserbeschwerden korrigiert und eine Berichtigung verschickt hat:

Berichtigung: Im letzten Absatz wurde der dritte Satz dahingehend geändert, dass die Piratenpartei ein Lösch-Gesetz rpt Lösch-Gesetz (nicht: das Löschen) für überflüssig hält. Damit wird klargestellt, dass die Partei nicht gegen das Löschen der Internetseiten ist, sondern gegen ein neues Gesetz zum Löschen der Seiten, weil die bestehenden Gesetze ausreichend seien

Warum diese Korrektur im Basisdienst der Agentur nicht angekommen ist, war bisher nicht zu klären. Die oben verlinkte Zusammenfassung im Angebot der “Märkischen Allgemeinen” wurde inzwischen durch einen korrekten Text ersetzt – der Leser wird über die nachträgliche Änderung allerdings nicht informiert.

Gerüchterstattung

Es ist schon ein Kreuz mit dem Twitter-Journalismus oder der “neuen Medienwelt”, wie sie Thomas Schuler heute auf der Medienseite der “Süddeutschen Zeitung” anhand von Gerüchten über den Gouverneur des US-Bundesstaats New York beschreibt:


Manchmal schicken Journalisten heute eine Frage über das Internet raus und nennen das Recherche. Erkundungen über die Stichhaltigkeit des Gerüchts, die eigentlich vor der Entscheidung über eine Veröffentlichung steht, machen das Gerücht bereits öffentlich.

Und weiter:

Alle greifen die Twitter-Frage von Koblin auf und rechtfertigen damit ihre Berichte. New York Post, Daily News, Talkradio, Huffingtonpost.com, AP, Reuters, die Online-Ausgabe der Washington Post - alle berichten. Sie nennen die Gerüchte Gerüchte, das schon. Aber sie verbreiten sie und sie befördern den Rufmord.

Doch man muss nicht nach Amerika schweifen, um diesen Medien-Mechanismus zu betrachten. Um zu sehen, wie die Berichterstattung Gerüchterstattung funktioniert, kann der Leser der “SZ” auch einfach zwei Seiten weiter blättern. Dort, mitten im Wirtschaftsteil, berichtet gerüchtet die “Süddeutsche” selbst. Über Kim Schmitz, den C-Prominenten der deutschen IT-Szene der 90er Jahre, gibt es nämlich neue Fakten Informationen. Nunja:

Der inzwischen 36-Jährige hat im Leben schon viele Rollen verkörpert: Einst ein vermeintlich genialer Hacker, dann ein scheinbar erfolgreicher Unternehmer, schließlich ein verurteilter Betrüger, und dann nur noch ein Phantom. Nun soll er wieder aufgetaucht sein. Das zumindest glaubt die neuseeländische Zeitung New Zealand Herald. Sie will den verschollenen "Kimble" gefunden haben, und zwar als Käufer einer der teuersten Villen des Inselstaates.

Das mag richtig sein oder auch nicht – mehr als einen anonymen Insider weiß auch der “New Zealand Herald” nicht zu zitieren. Dies ist freilich ein Informationsweg, der gerade in Sachen Kim Schmitz chronisch unzuverlässig ist. Aber die “Süddeutsche” hat nicht einfach nur Gerüchte abgeschrieben, sondern sogar recherchiert:

Seine längst stillgelegten Websites sind bis heute auf die Firma Kimpire Ltd mit Geschäftsadresse in der Metropole registriert. Kim Schmitz war dort am Montag weder telefonisch noch per E-Mail erreichbar.

Und so wird aus einem unbestätigten Gerücht ein – nunja – unbestätigtes Gerücht.

Warum sich deutsche Leser für den angeblichen Hauskauf 23000 Kilometer entfernt interessieren sollten, lässt die “Süddeutsche Zeitung” freilich offen – es ist schlichtweg ein willkommener Anlass, die uralten Kimble-Stories noch einmal zu erzählen.

Der Branchendienst “Meedia” versuchte bereits am Montag die Dringlichkeit dieser Fast-Informationen zu vermitteln. Nicht neue Fakten, sondern das gewaltige Medienecho ist Anlaß für die Berichterstattung:

New Economy-Hochstapler zurück in den Schlagzeilen

Das Wort “Schlagzeilen” ist freilich eine gewagte Interpretation der Sachlage, denn mehr als den einen Bericht einer neuseeländischen Zeitung hatte es bis dahin nicht gegeben.

Und der IT-Nachrichtendienst “Golem” fantasierte am Montag gar von einer öffentliche Verlautbarung des notorisch lauten Schmitz. Nicht ein anonymer Insider, Schmitz selbst habe sich sich in den Medien zurückgemeldet:

Kim Schmitz meldet sich zurück

Aber wen interessieren schon Details, schließlich ist die Medienspirale längst in Gang gesetzt: Aus Gerüchten sind Schlagzeilen geworden, die dann von weiteren Medien zitiert werden können. So zum Beispiel am Dienstagnachmittag von der Online-Ausgabe des österreichischen “Standard”, die den Artikel der “Süddeutschen” dankbar abschreibt aufgreift.

Obwohl die Geschichte damit durch die Hände von fünf Redaktionen gegangen ist, ist nicht einen Deut klarer, ob das Gerücht mehr als ein wildes Gerücht ist. Aber das ist egal. Denn wie es Alexander Becker bei Meedia formuliert:

Mittlerweile finden sich im Web so viele Gerüchte, Geschichten und Anekdoten über den vermeintlichen Hacker, dass sich Wahrheit und Fakten nur noch schwer trennen lassen. Damit hat der vermeintliche Kauf der Chrisco Mansion alles, was eine gute Schmitz-Story braucht. Fortsetzung folgt garantiert.

Nachtrag, 18.2.: Am Mittwoch hat auch die “Abendzeitung” das Gerücht aufgegriffen – die Münchner haben wenigstens pro forma eine E-Mail verschickt.

Und am Donnerstag hat schließlich auch Bild.de die Nicht-Nachricht entdeckt und präsentiert sie natürlich brandheiß und inaktuell. Obwohl die “Bild” Schmitz über Jahre unkritisch jede PR-Eskapade geglaubt hat, weiß die Redaktion jetzt nicht einmal von einem misslungenen Kontaktversuch mit dem “Prahlhans” zu berichten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.

Die kleinere Hälfte

Ein alter Schüler-Witz:

Verzweifelt steht ein Mathematiklehrer vor seiner Klasse: “Wie oft soll ich Euch noch erklären, dass es keine kleinere und keine größere Hälfte gibt?”, fragt er erbost. “Aber warum sage ich Euch das – die größere Hälfte von Euch wird es eh nie verstehen!”

Was soll diese lahme Pointe an dieser Stelle? Nun: Vor zwei Wochen berichteten wir über die irreführenden Berichte nach der Wahl eines Republikaners in den US-Senat.

Doch zumindest die kleinere Hälfte der Journalisten hat immer noch nicht verstanden, dass die Partei des US-Präsidenten Obama damals zwar einen wichtigen Sitz im Senat verloren hat, aber immer noch über die weitaus größere Hälfte der Sitze in dem Parlament verfügt. Dass Obama zwar nicht mehr mit einer strategischen 60-Prozent-Mehrheit legislative Störmanöver der politischen Gegner von vornherein unterbinden kann, aber dennoch mit 59 von 100 Sitzen über eine komfortable absolute Mehrheit im US-Senat verfügt.

tagesschau.de berichtet über ein Treffen der radikalen Rechten:

So haben sie beispielsweise Scott Brown, den republikanischen Kandidaten für das Senatorenamt in Massachussetts, unterstützt. Mit Erfolg: Die Demokraten haben seitdem ihre Mehrheit im US-Senat verloren.

Ins gleiche Horn stößt der “Tagesspiegel”, als er sich der US-Klimapolitik widmet:

Nachdem die Partei des amerikanischen Präsidenten Barack Obama bei einer Nachwahl vor kurzem ihre Mehrheit im Senat verloren hat, ist es noch schwerer geworden, dort das ohnehin nicht besonders ambitionierte Klimagesetz durchzubringen

Bei “20 Minuten” hat man sich immerhin erinnert, dass etwas Besonderes an der verlorenen Mehrheit war. Nur was das war, das hat man vergessen:

Das ist umso wichtiger, seit Barack Obama die absolute Mehrheit im Senat verloren hat.

Aber warum sagen wir das — die kleinere Hälfte wird eh schreiben, was sie will.

Mit Dank auch an David K.

Nachtrag, 6. Februar: Tagesschau.de hat den Fehler inzwischen korrigiert.

Nur in Begleitung Erwachsener

Bild.de hat einen neuen schockierenden, brutalen, ja gar perversen Trend entdeckt:

Sie schlagen sich, prügeln brutal aufeinander ein: Junge Mädchen in Amerika liefern sich gnadenlose Kämpfe und stellen die Prügel-Videos ins Internet – ein lebensgefährlicher Trend.

Illustriert wird das – wie sollte es auch anders sein? – mit einem Video aus der Bild.de-Redaktion: Einem Zusammenschnitt der besten brutalsten Szenen, in denen Mädchen hemmungslos aufeinander einschlagen, sich ins Gesicht treten, sich auf dem Boden wälzen.

Brutaler Trend in den USA - Prügelmädchen in Netzvideos

Mit sonorer Stimme betont der Off-Sprecher die Gefährlichkeit dieser Netz-Videos — denn die Mädchen sind nicht aus eigenem Antrieb so brutal:

Meist wollten sie damit Aufmerksamkeit erhaschen, so die Experten. Und spätestens im Netz bekommen die Ausrasterinnen das auch. Millionen Klicks verstärken damit den Trend.

Wie recht diese Experten haben, kann man derzeit auf der Startseite von Bild.de betrachten:

Meistgeklickte Videos

Warum Bild.de bei diesem offensichtlich so perversen Trend mitmacht? Es liegt nicht etwa an den Millionen Klicks, die man damit ergattern kann — Nein, die Kinderfreunde haben alleine pädagogische Gründe:

Für Kinder und Jugendliche sind brutale, gewalttätige Szenen heute leicht zugänglich. Deshalb rät Dr. Jennifer Harstein: Eltern sollten wissen, was sich ihre Kinder ansehen und offene Gespräche darüber führen. Stellen sie viele Fragen, forschen sie, statt sofort zu bestrafen oder kategorisch zu verbieten. Eltern sollten ihre Kinder ermutigen, verstörende Videos anzuzeigen, möglicherweise auch anonym. Internet-Experten halten diese Methode für die beste, um den gefährlichen Trend abzuwenden.

Diesem Rat können wir uns nur anschließen. Sollten Eltern ihre Kinder beim Ansehen der “meistgeklickten Videos” auf Bild.de ertappen, sollten sie nicht sofort mit Strafen und Verboten, sondern mit Verständnis und penetranter Neugier reagieren.

Sprechen Sie mit ihnen darüber, wie sie auf die Webseite gelangt sind. Wollten sie vielleicht nur sehen wie ein weiblicher Fußball-Fan “blank zieht”, sich den “voll krassen” Redaktionsbesuch von Bushido anschauen? Oder hofften sie Nachrichten, wenn nicht gar verantwortungsvollen Journalismus auf der Webseite zu finden?

Reden Sie darüber! Denn nur so können wir unsere Kinder vor den Perversionen des Internets bewahren.

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