In der “Bild am Sonntag” von heute spricht die “Grünen”-Vorsitzende Simone Peter über ihre Kritik am Polizeieinsatz in der Kölner Silvesternacht. Vor zwei Wochen hatte sie unter anderem gesagt, dass die Verwendung einer “herabwürdigenden Gruppenbezeichnungen wie ‘Nafris’ für Nordafrikaner durch staatliche Organe wie die Polizei” völlig inakzeptabel sei.
Frage fünf des Interviews greift diese Aussage auf und zieht einen, nun ja, bemerkenswerten Vergleich:
Peters Antwort: Das sei nicht vergleichbar.
Direkt im Anschluss geht es dann noch um “rassistischen Hass und Hetze”, den beziehungsweise die Simone Peter nach ihrer Kritik an der Kölner Polizei erlebt hat:
Haben Sie eine solche Wut schon jemals zuvor erlebt?
Peter: “Wut klingt noch zu harmlos. Ich habe eine solche Hasswelle noch nie zuvor erlebt. Verstärkt wurde sie durch Zuspitzungen in der Berichterstattung, aber offenbar auch durch sogenannte social bots.”
“Zuspitzungen in der Berichterstattung”, die die Hasswelle verstärkt hätten? Wir haben da eine Idee, wer damit gemeint sein könnte.
Es ist aber auch ein ziemliches Auf und Ab für die Kölner Polizei: In der Silvesternacht 2015/2016 warf man ihr noch komplettes Versagen vor, “alles falsch gemacht”, so die Kritiker. Ein Jahr später — also vor wenigen Wochen — galt das Verhalten der Polizisten am Hauptbahnhof als unangreifbar, “alles richtig gemacht”, so die Schulterklopfer. Und heute sind die Polizei Köln und ihr Präsident Jürgen Mathies bei “Bild” schon wieder “Verlierer” des Tages:
Grund für das erneute Ab sind Aussagen bei einer Pressekonferenz, bei der Mathies und seine Kollegen neue Zahlen zum Einsatz in der Silvesternacht präsentiert haben: Bei 425 der 674 Männer, die die Beamten im Umfeld des Kölner Hauptbahnhofs kontrolliert haben, habe man eine Nationalität feststellen können. Das Ergebnis unter anderem: 99 von ihnen seien Iraker gewesen, 94 Syrer, 48 Afghanen, 46 Deutsche, 17 Marokkaner, 13 Algerier — also nicht gerade Nordafrikaner in der deutlichen Mehrheit, wie erst von den Beamten behauptet. Die Zahlen stünden allerdings “unter dem Vorbehalt noch andauernder Ermittlungen”, wie die Kölner Polizei in einer späteren Pressemitteilung schrieb:
Viele dieser Personen haben sich mit Dokumenten und Bescheinigungen ausgewiesen, die nicht als sichere Dokumente im Sinne einer zweifelsfreien Bestimmung der Staatsangehörigkeit gelten.
Aus aktuellen Ermittlungsverfahren ist bekannt, dass sich insbesondere junge Männer, die nicht die Anforderungen für die Anerkennung als Asylsuchende erfüllen, als Kriegsflüchtlinge aus Syrien ausgeben. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich unter den 425 Personen noch eine größere Anzahl nordafrikanischer junger Männer befindet. Eine genaue Aussage lässt sich erst nach weiteren Ermittlungen klären.
Nimmt man mal den Extremfall, dass alle 94 Männer, die sich bei den Kontrollen als Syrer ausgegeben haben, gar keine Syrer sind, sondern aus Marokko oder Algerien oder Tunesien kommen, dann stammen von den 425 überprüften Personen, denen eine Nationalität zugewiesen werden konnte, 124 aus Nordafrika, knapp 29 Prozent.
“Erst prüfen, dann twittern”, empfiehlt “Bild” heute also. Ja, guter Vorschlag. Man könnte noch hinzufügen: “Erst prüfen lassen, dann so tun, als wüsste man genau Bescheid, was denn nun wirklich los war am Hauptbahnhof.” Denn nicht nur die Kölner Polizei und ihr Präsident Jürgen Mathies haben in den Tagen nach Silvester stets behauptet, dass vor allem Männer aus Nordafrika kontrolliert wurden, sondern auch viele Medien.
Bleiben wir mal bei “Bild” und Bild.de. Bereits am 2. Januar legte sich Franz Solms-Laubach bei seiner Beurteilung des Polizeieinsatzes in Köln klipp und klar fest:
Fakt ist jedoch: Die Polizei in Köln hat an Silvester 2016 alles richtig gemacht!
Und die eingekesselten Migranten vom Kölner Bahnhof in 2016 waren fast ausschließlich Nordafrikaner.
Durch die Zahlen, die die Kölner Polizei nun bei ihrer Pressekonferenz präsentiert hat, zeigt sich: Stimmte offenbar nicht.
Was noch schlimmer war: Solms-Laubach und seine “Bild”-Kollegen erklärten all diejenigen, die die Beurteilung des Einsatzes und die präsentierten Fakten hinterfragten, anzweifelten oder zumindest diskutieren wollten, zu Idioten. Eine Debatte wurde nicht zugelassen. Wer es mindestens merkwürdig fand, dass die Polizei vor allem aufgrund des Aussehens entschied, wen sie kontrolliert und wen nicht, und nach der Prämisse handelte “jeder, der in etwa so aussieht wie ein Täter des vergangenen Jahres, ist in diesem Jahr ein potentieller Täter” (ein Polizeisprecher sagte später: “Wie ein Nordafrikaner grundsätzlich aussieht, das weiß man.”), wurde angefeindet. Zum Beispiel Simone Peter. Die Vorsitzende der “Grünen” sagte der “Rheinischen Post”, dass das Polizei-Großaufgebot Übergriffe zwar deutlich begrenzt habe:
“Allerdings stellt sich die Frage nach der Verhältnis- und Rechtmäßigkeit, wenn insgesamt knapp 1000 Personen allein aufgrund ihres Aussehens überprüft und teilweise festgesetzt wurden.”
“Bild” erklärte Peter daraufhin zur “GRÜFRI”, zur “GRÜn-Fundamentalistisch-Realitätsfremden Intensivschwätzerin”. Sie sei der Superlativ von “dumm”:
Eine der Grundlagen für die harsche “Bild”-Kritik an Simone Peter ist auch hier die anscheinend falsche Annahme, dass es sich bei den kontrollierten Personen in der Silversternacht zum Großteil um Männer aus den nordafrikanischen Staaten handelte.
Also neee, ihhhh, bäääh, ist ja eklig. Gaffer. Damit wollen die Online-Redakteure des Münchner Boulevardblatts “tz” nichts zu tun haben:
Vergangenen Freitag ist ein Touristenpaar in den Olympiasee in München eingebrochen. Sie hatten die Eisschicht dicker eingeschätzt als sie tatsächlich war. Am Ende ist alles einigermaßen gut ausgegangen: Die 39-jährige Frau und der 40-jährige Mann kamen zwar in eine Klinik, passiert ist ihnen aber nichts Schlimmeres. Ihr Kind, das ebenfalls übers Eis lief, war gar nicht erst eingebrochen.
Und dann waren da noch die Gaffer, über die sich die “tz”-Mitarbeiter so ärgern: Ein Mann und eine Frau standen am gegenüberliegenden Ufer des Sees, filmten das Geschehen und ließen einige Holzkopf-Aussagen ab. Die Frau fragt zum Beispiel: “Meinst du, die krachen dort ein?” Und der Mann antwortet: “Vielleicht, ich hoff’s, haha.” Und die Frau sagt: “Ich hoff’s gerade auch.” Und der Mann sagt: “Sonst würde ich es nicht filmen.” Und als die zwei Touristen dann tatsächlich “einkrachen”, jubelt der Mann: “Haha, hahaha, und ich hab’s drauf. Haha, ich hab’s drauf. Hörst du, wie sie schreien? Haha.”
Das ist alles ziemlich erbärmlich. Das “tz”-Team findet auch, dass die Videoaufnahmen für “Kopfschütteln” sorgen:
Unfassbarer Vorfall am Olympiasee: Zwei Gaffer hofften, dass Personen ins Eis einbrechen. So kam es dann auch — und sie lachten darüber. Wir zeigen das Video.
Ja, richtig gelesen: Die “tz”-Mitarbeiter finden es zwar ganz “Unfassbar!”, dass da Leute filmen und ätzende Kommentare abgeben, anstatt zu helfen, zeigen das 1:16 Minuten lange Video aber trotzdem. Und nicht nur das. Sie haben es extra mit einem “tz”-Logo versehen und zwischendurch — im Sinne der Dramaturgie — Texttafeln eingebaut:
Ganz zum Schluss erklärt die Redaktion dann auch noch mal, warum sie die Aufnahmen überhaupt zeigt:
Es gilt die Unschuldsvermutung. Für jeden, und natürlich auch für “Bild”-Herausgeber Kai Diekmann. Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt momentan gegen ihn, nachdem eine “Springer”-Mitarbeiterin Anzeige erstattet hatte. Im vergangenen Sommer soll Diekmann sie beim Baden sexuell belästigt haben, so der Vorwurf, den Diekmann bestreitet.
Der “Spiegel” und “Spiegel Online” schrieben vergangene Woche als Erste über die Anzeige, viele weitere Medien zogen nach. Anders als von einigen Leuten bei Facebook und Twitter behauptet, griffen auch die “Bild”-Redaktionen das Thema auf. Bild.de berichtete noch am Freitag, für einige Stunden war eine “dpa”-Meldung auf der Startseite klein verlinkt:
“Bild” brachte am Samstag die gleiche “dpa”-Meldung, ganz unten auf Seite 2:
Und einen Tag später veröffentlichte “Bild am Sonntag”, wo Diekmann ebenfalls Herausgeber ist, auf Seite 2 einen eigenen kurzen Artikel:
Man kann also nicht sagen, dass “Bild”, Bild.de und “Bild am Sonntag” das Thema totgeschwiegen hätten. Vielleicht kann man sogar sagen, dass sie angemessen berichtet haben: nüchtern, keine sensationsgierige “Sex”-Schlagzeile, nicht vorverurteilend (zugegeben: alles andere wäre im Fall des eigenen Herausgebers auch eine große Überraschung gewesen). Schließlich steht außer den Tatsachen, dass gegen Kai Diekmann eine Anzeige vorliegt und die Staatsanwaltschaft ermittelt, nichts fest.
Heute berichten die Berlin-Ausgabe der “Bild”-Zeitung und Bild.de über den “AfD”-Politiker Andreas Kalbitz. Gegen Kalbitz liegt eine anonyme Anzeige wegen sexueller Belästigung vor, die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft derzeit, ob sie ein Ermittlungsverfahren gegen ihn einleitet. Der Stellvertreter des brandenburgischen “AfD”-Chefs Alexander Gauland soll sich bei einer Party der “Jungen Alternativen” teilweise noch minderjährigen Jugendlichen “sexuell genähert” haben, so der Vorwurf, den Kalbitz bestreitet.
Auch hier ist noch nicht klar, was an den schweren Vorwürfen dran ist. Doch statt wie bei Diekmann auf eine große Aufmachung und Reizwörter wie “Sex” in der Überschrift zu verzichten, berichtet “Bild” so:
Nicht falsch verstehen: Wir sind nicht dafür, dass “Bild” über Kai Diekmann so berichtet wie in diesem Fall über Andreas Kalbitz. Andersrum wäre es wünschenswert: Dass die “Bild”-Medien — wie im Fall ihres Herausgebers — Ermittlungen abwarten, die ermittelnden Behörden und, sollte es zu einem Prozess kommen, die Gerichte ihren Job machen lassen, bevor sie riesige Artikel bringen. In der Vergangenheit, unter der Leitung von Kai Diekmann, hat sich zu oft gezeigt, dass die “Bild”-Redakteure mit ihren schnellen Schlagzeilenzuoftdanebenlagen.
Okay, machen wir es kurz — wir haben hier schließlich schon oft genug drauf hingewiesen: Der “Europäische Gerichtshof für Menschenrechte” (“EGMR”) ist kein “EU-Gericht”!
Nein, er ist KEIN “EU-Gericht”. Er hat zwar gestern entschieden, dass muslimische Schülerinnen zur Teilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht mit Jungen verpflichtet werden können. Aber: Der “EGMR” ist kein “EU-Gericht”.
Die Entscheidung ist keine ganz einfache für Redaktionen: Wie und wie viel berichtet man über den sogenannten “Islamischen Staat”? Die Gefahr, die dabei immer besteht: Durch die Übernahme von Fotos und Videos und anderem Propagandamaterial wird man schnell selbst zum Sprachrohr der Terrororganisation. Auf der anderen Seite will man seine Leser/Hörer/Zuschauer aber auch über das informieren, was in den Gebieten passiert, die der sogenannte “IS” kontrolliert.
Wie man es auf jeden Fall nicht machen sollte, zeigten in der Vergangenheit “Bild”, Bild.de und “Focus Online”, die Fotos und Videos des sogenannten “IS” veröffentlicht hatten, auf denen Hinrichtungen zu sehen waren, die Opfer teilweise nicht mal verpixelt. Auch das Team von “Spiegel Online” agierte nicht gerade glücklich, als es Propagandaaufnahmen der Terroristen aus der irakischen Stadt Mossul übernommen hatte.
Beim österreichischen Knallportal oe24.at hat man sich offenbar dazu entschlossen, sich gar nicht erst Gedanken zu machen über den Umgang mit Terrorpropaganda und stattdessen alles rauszupfeffern, was der sogenannte “Islamische Staat” so hergibt und reichlich Reichweite bringen könnte.
Zum Hintergrund: Der “7-Stufen-Plan” stammt eigentlich aus einem Buch des jordanischen Journalisten Fuad Hussein und beschreibt eine langfristige Strategie der Terrororganisation Al-Qaida. Yassin Musharbash hatte 2005 bei “Spiegel Online” über Husseins Buch und die “sieben Phasen bis zum Kalifat” geschrieben. Bis 2020, so zeigt es Husseins Recherche, wolle Al-Qaida den “endgültigen Sieg” erreichen. Aktuell würden wir uns in Phase 6 befinden, der Phase der “totalen Konfrontation”.
Inzwischen haben die “IS”-Terroristen den “7-Stufen-Plan” übernommen und einzelne weltpolitische Ereignisse in ihrem Sinne gedeutet: Die Regimestürze im Arabischen Frühling beispielsweise passen zeitlich und inhaltlich wunderbar in Phase 4, die “Phase des Umsturzes”. oe24.at übernimmt diese Deutungen und verbreitet sie auf der eigenen Webseite:
4.Phase 2011-2013 (Die Phase des Umsturzes)
Die verhassten arabischen Regime sollen beseitigt werden. Dies geschah durch den Arabischen Frühling, weniger durch Angriffe der Jihadisten.
Die Redaktion tut nicht erst seit diesem Jahr so, als würde alles nach dem großen “IS”-Masterplan laufen, der dazu führen soll, dass die Terroristen 2020 “große Teile der Welt” beherrschten, “auch Österreich, dass Teil von Oropba werden soll”. Im Juli 2016 gab es einen ganz ähnlichen Artikel:
Jedes Mal ging es um den “7-Stufen-Plan”, jedes Mal präsentierte oe24.at ihn so, als hätte ein Verein aus der Fußball-Bundesliga ein neues Konzept oder ein DAX-Konzern eine neue Strategie vorgestellt. Und jedes Mal hatte der Artikel mehrere Hundert, zum größten Teil sogar mehrere Tausend Likes. Hat sich für das Portal wohl gelohnt, die kühnen Terroristenträume zu verbreiten.
So langsam scheinen die Redakteure den Bogen allerdings überspannt zu haben. Unter dem aktuellsten “7-Stufen-Plan”-Beitrag findet man diese Leserkommentare:
Und wie oft wird derselbe Bullshit noch aufgewärmt und wieder gebracht? Winterloch ausfüllen?
Im Abstand von 3 Monaten postet ihr den selben Bullshit..
Geh bitte, Herr Fellner, nicht schon wieder diese alte Geschichte aufwärmen.
…hahaha, wie oft noch,die Geschichte kenn ma schon auswendig
Achtung, jetzt wird’s gefährlich! Dieser Text hier ist nichts für schwache Nerven. Denn Bild.de hat sich am vergangenen Wochenende in den Vorhof zur Höllein die Berliner U-Bahn-Linie 8 gewagt:
Ob es da gefährlich ist, fragen Sie sich jetzt? Na, hören Sie mal — und wie!
Die Berliner U-Bahnlinie U8 fährt durch die gefährlichsten Stationen der Stadt.
BILD fuhr eine Nacht lang mit: auf der gefährlichsten Strecke der Hauptstadt.
BILD fährt die Gewaltstrecke ab
Zugegeben: In den vergangenen Wochen Monaten gab es an zwei Haltestellen der U8 tatsächlich Vorfälle, die grässlich waren und für Aufsehen gesorgt haben: An der Endstation Hermannstraße trat ein Mann einer Frau brutal in den Rücken. Sie stürzte eine Treppe runter und brach sich einen Arm. An der Haltestelle Schönleinstraße hatten mehrere Männer versucht, einen Obdachlosen anzuzünden. Dem Mann ist zum Glück nichts passiert.
Diese “Gewaltstrecke” wollte sich der Bild.de-Autor also mal genauer anschauen. Und was er erlebt hat, ist nun wirklich, nun ja …
Start an der Haltestelle Wittenau:
Der Zug ist fast leer, die wenigen Fahrgäste sehen müde aus, hören Musik oder blicken auf ihr Smartphone.
Erste Aufregung an der Bernauer Straße — ein freundlicher Mann, der nach Geld fragt:
Ein junger Mann, Mitte zwanzig, schlendert durch die Bahn, bettelt höflich um Geld.
Am Rosenthaler Platz dann sogar noch Touristen mit Bier:
Wer kein Spanisch oder Englisch spricht, fühlt sich etwas fremd. Mit je einer Flasche Bier in der Hand entert eine große Gruppe Touristen den Zug.
Am Alex: noch mehr Menschen!
Voller Bahnsteig am Alexanderplatz (Mitte).
Aber spätestens am Moritzplatz kann auch der Bild.de-Autor nicht mehr verstecken, dass die U8 zumindest an diesem Abend vielleicht doch nicht so “gefährlich” ist wie angekündigt:
Gähnende Leere am Moritzplatz (Kreuzberg).
Vom Kotti kann man auch nur über schlafende Obdachlose berichten:
Zwei Obdachlose schlafen auf der Bank, ignorieren alles um sich herum.
Doch plötzlich, am Hermannplatz — Action!
23.09 Uhr, Hermannplatz (Neukölln): In der U-Bahn zündet sich ein Jugendlicher eine Zigarette an, in der anderen Hand hält er eine Flasche Whisky. Keiner der Fahrgäste beschwert sich.
Joar.
Dann noch mal zur Schönleinstraße. Aber auch da: niente, nada, nichts.
Ein kleines Rinnsal fließt von einem Pfeiler weg. Die Flüssigkeit: undefinierbar.
Das war’s dann auch schon. Das war “Berlins gefährlichste U-Bahn”. Also, das Fazit der nächtlichen Tour?
Nach dieser Fahrt in der U8 wundert es jedenfalls kaum, dass, wenn es zu Gewalt käme, es keiner merken würde. Erst hinterher.
So kann man es natürlich auch drehen, wenn man unbedingt ein bisschen Angst und Schrecken verbreiten will.
Schon gut möglich, dass Sigmar Gabriel SPD-Kanzlerkandidat wird. In Interviews und Gastbeiträgen in verschiedenen Publikationen präsentiert er derzeit Grundpositionen seiner Partei zu voraussichtlichen Wahlkampfthemen. In TV-Reportagen zeigt er sich als Privatmann. Er bringt sich auf verschiedenen Kanälen in Stellung. Nur: Offiziell festgelegt hat sich Gabriel noch nicht.
Im “Bild plus”-Artikel klingt es dann aber doch noch nicht so sicher wie auf der Startseite. Es klingt auch nicht so, als würde hinter der Schlagzeile eine Entscheidung von Sigmar Gabriel stecken, sondern die der “Bild”-Autoren Rolf Kleine und Hans-Jörg Vehlewald:
Noch hält er sich bedeckt: SPD-Chef Sigmar Gabriel (57) will erst Ende Januar sagen, ob er als Kanzlerkandidat antritt.
Doch BILD legt sich schon jetzt fest: ER MACHT‘S!
Dass sich erstmal nur “Bild” offiziell festgelegt hat, hält andere Medien nicht davon ab, die Nachricht aufzugreifen und weiterzuverbreiten. Die “Huffington Post” beispielsweise:
Dass Rolf Kleine und Hans-Jörg Vehlewald Gabriels angebliche Kandidatur verkünden, ist nicht uninteressant — beide haben eine SPD-Vergangenheit. Kleine war Sprecher von Peer Steinbrück, als dieser 2013 Kanzlerkandidat war. Vehlewald arbeitete im Presse- und Kommunikationsteam des SPD-Bundesvorstands.
Das könnte nun dafür sprechen, dass sie, dank ihrer SPD-Insider-Infos, mit ihrer Einschätzung richtigliegen. Allerdings hatte Rolf Kleine erst vor wenigen Monaten bei einem anderen Spitzenpolitiker der Partei völlig danebengegriffen: Zusammen mit seinem “Bild”-Kollegen Ralf Schuler schrieb er Anfang Oktober, dass Frank-Walter Steinmeier auf gar keinen Fall als Kandidat für das Bundespräsidentenamt aufgestellt werden wird:
Wenn heute Mittag die Spitzen von CDU, CSU und SPD im Kanzleramt zum Koalitionsgipfel zusammenkommen, wird es KEINE Einigung auf einen gemeinsamen Vorschlag geben. Vielmehr werden die zwei prominentesten Kandidaten aus dem Rennen genommen.
Der in fast allen Umfragen beliebteste Anwärter, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (60, SPD), wird nicht aufgestellt, weil Kanzlerin Angela Merkel (62, CDU) klar sagt: DER NICHT!
Inzwischen steht fest, dass die Große Koalition Frank-Walter Steinmeier als Kandidaten bei der Wahl am 12. Februar ins Rennen schickt.
Mit Dank an Boris R. für die Hilfe!
Nachtrag, 25. Januar: Fortsetzung und Auflösung (Überraschung: Sigmar Gabriel wird gar nicht SPD-Kanzlerkandidat) hier.
Bei der “Huffington Post” wissen sie sehr genau, wie man Leser auf die Seite lockt — in Sachen Clickbait und verdrehte Überschriften gehört die Redaktion zu den ganzGroßeninDeutschland.
Vor zwei Tagen ist bei dem Portal ein Text von Shams Ul-Haq erschienen, in dem es um Flüchtlinge und die Gefahr einer Radikalisierung in Flüchtlingsheimen geht. Ul-Haq hat zu dem Thema ein Buch geschrieben, sein Beitrag bei der “Huffington Post” ist ein Auszug daraus. Für seine Recherchen hat sich der Journalist nach eigener Aussage in 35 Flüchtlingsheime in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingeschleust.
Zwei Umstände, so Ul-Haq, machten es radikalen Islamisten besonders einfach, in Flüchtlingsunterkünften Muslime als neue Anhänger zu gewinnen. Da wäre einmal das Essen: In vielen Unterkünften gebe es keine halal-zertifizierte Nahrung. In diese Kerbe “schlagen nun islamische Fundamentalisten”:
Diese nutzen nämlich die im Prinzip leicht zu lösende Misere um den passenden Speiseplan für die tausenden Flüchtlinge in deutschen und europäischen Erstaufnahmelagern, indem sie diesen Menschen suggerieren, hinter der vermeintlich unüberlegten Nahrungsauswahl stecke ein ganz perfides System.
Die Christen, so behaupten diese Fundamentalisten, planen, alle Muslime in den Flüchtlingscamps mürbe zu machen, um sie dann zum christlichen Glauben zu konvertieren. Dabei gehen diese Extremisten ausgesprochen subtil vor. Eingeschleuste Fundamentalisten verwickeln in den Camps die ohnehin schon frustrierten Bewohner in zunächst arglose Gespräche, um dann in geschickter Weise die Unterhaltung auf das Essenangebot zu lenken.
Er selbst habe solche Szenen häufiger gesehen, so Ul-Haq.
Der zweite Aspekt, den die Fundamentalisten bei ihrer Rekrutierung in den Flüchtlingsheimen nutzten: fehlende Gebetsräume.
Während meiner Undercover-Einsätze in verschiedenen Flüchtlingsheimen in Europa fand ich derartige “Einrichtungen” nur in zwei Fällen vor: in Berlin und im bereits vorhin erwähnten Stegskopf-Daaden. In allen anderen Flüchtlingscamps und ähnlichen Einrichtungen gab es schlichtweg keine Gebetsräume.
Soweit in aller Kürze. Shams Ul-Haq bietet dann noch Lösungsvorschläge, wie man radikalen Islamisten das Anwerben erschweren könnte. Alles in allem also ein brauchbarer Bericht.
Wäre da nur nicht die effektheischende Überschrift, die die “Huffington Post” dem Artikel gegeben hat:
Alles für ein paar mehr Klicks. Rechte Kräfte nehmen die Schlagzeile ganz bestimmt dankend auf.
Gestern gab der US-Meeres-Themenpark “Seaworld” bekannt, dass einer seiner Schwertwale gestorben ist. Weltweit berichteten viele Medien darüber, schließlich handelte es sich bei dem Tier um den Orca Tilikum, der eine gewisse Berühmtheit hatte. Bild.de veröffentlichte ebenfalls einen Artikel zu Tilikums Tod:
Wie das Portal in der Dachzeile schreibt, tötete Tilikum 2010 seine Trainerin Dawn Brancheau. Der Fall sorgte damals für viel Aufsehen. Tilikum packte Brancheau am Arm und zog sie unter Wasser, bis sie ertrank. 2013 erschien darüber und über weitere tödliche Vorfälle, in die Tilikum verwickelt war, ein sehenswerter Dokumentarfilm, “Blackfish”.
Aber nicht nur deswegen sei Tilikum laut Bild.de eine Berühmtheit. Es habe noch einen anderen Grund gegeben:
Dem Bild.de-Team vielleicht nicht. Manch einer könnte aber schon mal den Film “Free Willy — Ruf der Freiheit” gesehen haben, in dem der Orca Keiko die Hauptrolle schwimmt (und springt). Auch Keiko hat eine “quer herunter hängende Rückenflosse”.
Die abgeknickte Flosse auf den Rücken von Schwertwalen ist ein typisches Phänomen bei Bullen, die in Gefangenschaft leben. Ihre Rückenfinne, die bis zu zwei Meter in die Höhe ragen kann, wird nicht durch Knochen gestützt, sondern durch Kollagen aufrecht gehalten. Die veränderte Umgebung in der Gefangenschaft, die kleinen Becken und der damit verbundene Bewegungsmangel dürften dazu beitragen, dass sich die Struktur dieses Proteins verändert. Das Kollagen kann die Rückenflosse der männlichen Orcas dann nicht mehr stützen. Bei Weibchen ist die Flosse kleiner, sie klappt in der Regel nicht um.
Um das alles herauszufinden, hätte sich nur einer der Bild.de-Mitarbeiter an einen Kinobesuch in der Kindheit erinnern und anschließend zehn Minuten durch “Wikipedia” klicken müssen.