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Ist Bild.de doch egal, worum das BKA bittet

Das Bundeskriminalamt (BKA) konnte in der vergangenen Nacht bei Twitter einen Fahndungserfolg melden:

Screenshot eines Tweets des Bundeskriminalamts - Verdacht des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern - Fahndung ist erfolgreich beendet. Festnahme des Tatverdächtigen. Wir sagen Danke! Bitte löschen Sie alle geteilten Bilder. Weitere Informationen werden hier im Laufe des Tages veröffentlicht.

Nach dem Verdächtigen wurde seit gestern per Öffentlichkeitsfahndung gesucht. Zahlreiche Medien zeigten das Gesicht des Mannes, der zwei Jungen missbraucht, Aufnahmen von ihnen gemacht und diese Kinderpornographie in Foren verbreitet haben soll. Die Bitte des BKA, die Fotos, die den Verdächtigen zeigen, nun zu löschen, erscheint logisch: Die Fahndung ist abgeschlossen, der Verdächtige geschnappt — warum also weiter sein Gesicht zeigen?

Ja, Mitarbeiter von Bild.de, warum also weiter sein Gesicht zeigen?

Screenshot Bild.de-Startseite - Nach Öffentlichkeitsfahndung - Kinderschänder von Viersen gefasst - mit unverpixeltem Foto des Verdächtigen
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

In dem Artikel zur Festnahme des Gesuchten, den die Redaktion heute morgen auf ihrer Startseite anteaserte, hat sie auch den Tweet des BKA eingebettet, in dem die Behörde um die Löschung der Fotos bittet. Dieser Artikel startet so:

Screenshot eines Bild.de-Artikels - Zu sehen ist die Überschrift Kinderschänder von Viersen gefasst und direkt darunter das Gesicht des Tatverdächtigen in Großaufnahme

Etwas weiter unten im Text folgt dann der BKA-Tweet:

Screenshot des Bild.de-Artikels - Zu sehen ist der eingebettete BKA-Tweet

Ein paar Stunden später hat Bild.de einen weiteren Text zu der Festnahme gebracht — wieder mit dem BKA-Tweet, wieder mit einem unverpixelten Foto des Verdächtigen. Und wieder hat die Redaktion den Beitrag prominent auf der Startseite verlinkt:

Screenshot Bild.de-Startseite - Leberflecke überführen Kinderschänder - mit unverpixeltem Foto des Verdächtigen

Wir haben bei “Bild”-Sprecher Christian Senft nachgefragt, warum Bild.de das Gesicht des Mannes ohne jegliche Unkentlichmachung zeigt und ob der Redaktion die Bitte des Bundeskriminalamts egal ist. Bisher haben wir keine Antwort erhalten.

Dass es auch anders geht, zeigen die “Springer”-Kollegen der “B.Z.”: Auf deren Website ist ebenfalls ein Artikel zu der Festnahme erschienen, auch sie haben den BKA-Tweet eingebettet — und über das Gesicht des Verdächtigen immerhin einen großen schwarzen Balken gelegt.

Dazu auch:

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Bild.de lässt Situation an Schulen außer Kontrolle geraten

Gestern Abend veröffentlichte Bild.de einen Artikel mit dieser Überschrift:

Screenshot Bild.de - Morddrohungen gegen ungläubige Kinder - Präsident des Deutschen Lehrerverbandes schlägt Alarm - Unsere Schulen sind außer Kontrolle
Screenshot Bild.de - Artikelüberschrift - Lehrerverband warnt - Unsere Schulen sind außer Kontrolle

Da könnte man ja fast denken, dass Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des “Deutschen Lehrerverbandes”, in seinem Interview mit der “Bild”-Redaktion gesagt hat, dass “unsere Schulen” “außer Kontrolle” sind. Nur hat er das nicht. Auf die Frage, was die Folgen von (Gewalt-)Problemen an deutschen Schulen seien, sagt Meidinger:

Meidinger: “Manche Schulen werden inzwischen von privaten Wachdiensten beschützt. Sie sollen in den Gebäuden, auf den Schulhöfen und an den Eingängen für Sicherheit sorgen. Das ist zwar gleichbedeutend mit einer Kapitulation der Pädagogik, aber zum Teil auch nachvollziehbar, denn immer wieder bringen Schüler Messer oder Reizgas-Sprays mit in die Schule. Wenn wir bei der Integration in diesen Problembezirken keine Fortschritte machen, drohen amerikanische Verhältnisse. Und an einigen Brennpunkt-Schulen in Problembezirken laufen wir Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Das dürfen wir nicht zulassen.”

Wir laufen Gefahr, “dass die Situation außer Kontrolle gerät”, “an einigen Brennpunkt-Schulen in Problembezirken”. Sie ist laut Meidinger noch nicht “außer Kontrolle”. Vor allem nicht flächendeckend an “unseren Schulen”.

So schnell verdreht die Bild.de-Redaktion eine Aussage und lässt es für eine gut klickende Überschrift so wirken, als herrsche in den Klassenzimmern und auf den Pausenhöfen im Land vornehmlich Chaos.

Aus der darauffolgenden Antwort Meidingers macht Bild.de gleich die nächste akrobatische Verrenkung:

Hat die Flüchtlingskrise die Lage an den Schulen noch einmal verändert?

Meidinger: “Es gab schon vorher massive Integrationsprobleme in einer Reihe von Brennpunkt-Regionen. Durch den Zustrom nach 2015 hat sich aber der Problemdruck noch einmal verschärft.”

Diese Aussage vermischt die Redaktion mit jener zu den “amerikanischen Verhältnissen”:

Screenshot Bild.de - Lehrerverband warnt: US-Zustände an Schulen nach Flüchtlingskrise

Auch hier: Heinz-Peter Meidinger sagt lediglich, es “drohen” “amerikanische Verhältnisse”, “wenn wir bei der Integration in diesen Problembezirken keine Fortschritte machen”. Er sagt nicht, dass sie vorherrschen. Und er bringt sie auch nicht direkt mit Flüchtlingen in Verbindung.

Nun könnte man einwenden, dass es sich ja nur um eine kleine Dachzeile ganz oben im Artikel handelt. Sie ist allerdings von großer Bedeutung, denn diese Zeile wird in der Regel als Überschrift angezeigt, wenn man den Bild.de-Artikel bei Facebook teilt.

Und wem könnte eine solche (hingebogene) Aussage wohl besonders gut gefallen?

Zum Beispiel Nicolaus Fest, der früher mal stellvertretender Chefredakteur bei “Bild am Sonntag” war, dort auf übelste Weise gegen den Islam feuerte und jetzt Sprecher der AfD Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf ist:

Screenshot eines Facebook-Posts von Nicolaus Fest, der den Bild.de-Artikel teilt

Oder Andreas Bleck, der für die AfD im Bundestag sitzt:

Screenshot eines Facebook-Posts von Andreas Bleck, der den Bild.de-Artikel teilt

Oder dem AfD-Kreisverband Main-Taunus:

Screenshot eines Facebook-Posts des AfD-Kreisverbandes Main-Taunus, der den Bild.de-Artikel teilt

Oder der AfD Amberg Neumarkt:

Screenshot eines Facebook-Posts der AfD Amberg Neumarkt, der den Bild.de-Artikel teilt

Mit Dank an Anonym für den Hinweis!

MDR hilft “RT” und AfD, Heinos SS-Platte, Journalismus auf Blockchain

1. Wie der MDR der AfD und Moskau zugleich half
(tagesspiegel.de, Matthias Meisner)
Die Konstellation ist schon ganz interessant: Ein AfD-Politiker schimpft beim vom russischen Staat finanzierten TV-Sender “RT” über den Islam, alles ermöglicht durch die technische Hilfe des öffentlich-rechtlichen MDR. Matthias Meisner fragt: “Musste das sein?” Der MDR antwortet bei Twitter: Ja, das musste sein, “das handhaben wir bei allen Mitgliedern der EBU — der Europäischen Rundfunkunion, in der auch Russia Today International Mitglied ist — gleichermaßen.” Nur: “RT” ist gar nicht Mitglied in der “EBU”.

2. Heino schenkt Heimatministerin Platte mit SS-Liedern
(sueddeutsche.de, Christian Wernicke)
Das war ein bemerkenswertes Geschenk, das Schlagersänger Heino Nordrhein-Westfalens Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) zum “NRW-Heimatkongress” mitgebracht hatte: eine Schallplatte von 1981 mit dem Titel “Die schönsten deutschen Heimat- und Vaterlandslieder”. Nur einer der 24 von Heino gesungenen Songs habe überhaupt einen Bezug zum Bundesland, schreibt Christian Wernicke: “Vieles hingegen klang schrecklich großdeutsch. “Wenn alle untreu werden” ist ein Gassenhauer aus dem “Liederbuch der SS”. Und mit “Flamme empor” und “Der Gott, der Eisen wachsen ließ” intonierte Heino da noch weitere Melodien, die einst die Nazi-Schergen gesungen hatten.”

3. Emotionen statt Fakten
(deutschlandfunk.de, Stefan Fries)
Man sieht sie inzwischen unter oder inmitten von vielen Artikeln: Online-Umfragen von Redaktionen, bei denen man einen Regler nach links oder rechts schieben und so beispielsweise kundtun kann, dass man die Zeitumstellung super oder total blöd findet. Das Problem dabei: Diese Umfrage sind ziemlich anfällig für Manipulationen — es reicht oft schon, einen Cookie zu löschen, um mehrfach abstimmen zu können. Jetzt hat sich auch der Presserat mit den manipulierbaren Online-Umfragen beschäftigt, wie Stefan Fries berichtet.

4. Die Blockchain-Technologie: Anwendungsbeispiele und Potenziale im Journalismus
(fachjournalist.de, Florian Regensburger)
Viele Digital-Experten und Krypto-Fans sehen in der Blockchain-Technologie, die auch die Grundlage von Kryptowährungen wie Bitcoin oder Ethereum bildet, eine Lösung zahlreicher Probleme: beispielsweise bei Wahlen, bei Abschlüssen von Verträgen, bei Urheberrechtsfragen. Kann die Blockchain auch die Probleme lösen, mit denen sich der (digitale) Journalismus rumschlägt? Florian Regensburger hat sich einige bereits existierende mediale Anwendungsbeispiele auf Blockchain-Basis angeschaut.

5. Ich, ich, ich – aber wie viel Joko steckt in Jokos Zeitschrift?
(dwdl.de, Alexander Krei)
Seit gestern gibt es ein neues Magazin bei “Gruner + Jahr”, es heißt “JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis”. Genauso wie bei “Barbara” (Barbara Schöneberger) ist das Heft um eine prominente Person herum aufgebaut: in diesem Fall um — Überraschung! — Moderator Joko Winterscheidt. Alexander Krei hat “JWD.” gelesen und wirkt recht angetan. Weiterer Lesetipp: Im Interview mit der “Zeit” hat Winterscheidt nicht nur, aber auch über sein neues Magazin gesprochen.

6. Tageszeitung im Abo? Wie sich das 2018 anfühlt
(blog.franziskript.de, Franziska Bluhm)
“Seit sieben Jahren waren wir ohne, nun läuft seit ungefähr zehn Tagen in unserem Haushalt ein Experiment: Wir haben eine Tageszeitung.” Das schreibt die experimentierfreudige Franziska Bluhm. Ihr erstes Fazit fällt gemischt, mit Hang zum Negativen aus.

Bild  

Die Frau von

Was muss eine Ehefrau eines mehr oder weniger prominenten Mannes im Leben erreicht haben, damit die “Bild”-Redaktion sie als eigenständiges Wesen anerkennt und sie nicht als “die Frau von XY” präsentiert?

Wie wäre es mit: ein abgeschlossenes Medizinstudium, angesehene Oberärztin, Professorin, Leiterin der Frauenklinik an einem Universitätsklinikum, Bundesverdienstkreuz am Bande, Mitglied der “Leopoldina” und nun Ministerin in einem Bundesland? Das müsste doch reichen.

Marion Kiechle ist seit gestern bayerische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst. Sie ist die einzige Person im Kabinett des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder ohne eine CSU-Mitgliedschaft. Sie war bis vor Kurzem Direktorin der Frauenklinik des “Klinikums rechts der Isar” der TU München. Sie hat das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Sie ist Mitglied der “Leopoldina”. Und sie ist verheiratet mit dem TV-Moderator Marcel Reif.

So präsentiert “Bild” Marion Kiechle heute:

Foto eines Bild-Zeitungskasten mit der Titelzeile Marcel Reif - Seine Frau ist jetzt Ministerin in Bayern

Mit Dank an Julian Geist für das Foto!

Medien-Deal in der Türkei, Drogen im Berghain im “Spiegel”, Zusteller

1. Ein Deal, der Erdogan freuen dürfte
(sueddeutsche.de, Christiane Schlötzer)
In der Türkei soll es eine spektakuläre Übernahme geben: die größte Tageszeitung des Landes “Hürriyet”, der TV-Nachrichtenkanal “CNN Türk” sowie weitere Medien des durchaus Erdogan-kritischen Dogan-Konzerns werden vermutlich den Besitzer wechseln. Der neue Eigentümer, die Demirören-Gruppe, “gilt als wesentlich regierungsfreundlicher, ja als geradezu lammfromm”, schreibt Christiane Schlötzer: Diese Übernahme “dürfte politische Folgen haben.”

2. Der Skandal hinter dem Skandal – Facebook, Cambridge Analytica und die hohe Kunst der Manipulation
(eaid-berlin.de, Peter Schaar)
Peter Schaar, einst Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, zu den aktuellen Entwicklungen rund um Facebook und “Cambridge Analytica”: “Es geht hier um weitaus mehr als um die Aufklärung des aktuellen ‘Cambridge-Facebook-Skandals’. Vielmehr müssen wir darüber diskutieren, wie viel Datenmacht akzeptabel ist, wie digitale Geschäftsmodelle gestaltet werden und wie dem Datenmachtmissbrauch vorgebeugt werden kann. Umfangreiche Datensammlungen und Mikro-Targeting eröffnen Manipulationsmöglichkeiten und können Ungleichbehandlung und diskriminierende Praktiken verstärken.”

3. Bonn – Berlin – Bannas
(faz.net, Günter Bannas)
Vier Jahrzehnte lang begleitete Günter Bannas als Journalist die deutsche Politik, erst in Bonn, dann in Berlin. Vorgestern wurde der “FAZ”-Korrespondent in den Ruhestand verabschiedet, auch von Angela Merkel, von Olaf Scholz und Horst Seehofer, von mehreren Bundesministern, die alle zur Feier kamen. Vor seinem Renteneintritt hat Bannas noch einmal viele Erinnerungen aufgeschrieben, unter anderem: bitterkaltes Warten auf Koalitionsergebnisse, bei der Fußball-WM mit Helmut Kohl, Politiker-Rücktritte während des Karnevals.

4. Ja, hier wird konsumiert
(taz.de, Laura Ewert)
Im aktuellen “Spiegel” ist ein langer Text von Alexander Osang erschienen, in dem er über den Drogentod einer Frau schreibt, die im Berliner Club Berghain zwei Ecstasy-Pillen eingeworfen hat. Laura Ewert findet, Osang und der “Spiegel” treiben “die Empörungssau durchs Dorf”: “Aber wenn Drogenberichterstattung nicht auf Aufklärung bedacht ist, sondern auf größtmögliche Emotion, wird sie Konsumenten nicht dazu bringen, zunächst mit einer Viertel-Pille zu starten, sondern befeuert die Attraktivität des Verbotenen. Der Reporter hat also eine ähnliche Verantwortung wie der Clubbetreiber.” Bei “Übermedien” ist der Berghain-Artikel ebenfalls Thema (Text aktuell nur für Abonnenten lesbar), allerdings mit einem anderen Fokus: Es geht um ein Zitat von Berlins Kultursenator Klaus Lederer, das dieser Osang so nicht gegeben haben will und wenn überhaupt in einem anderen Kontext. Bei “Vice” finden sie, dass im “Spiegel” “wichtige Details” untergehen.

5. Lügen, bestehlen, erpressen
(deutschlandfunk.de, Kai Rüsberg)
Um Journalisten und Medien in und bei Sozialen Netzwerken zu diskreditieren, lassen sich Trolle mitunter perfide Strategien einfallen: Sie kopieren beispielsweise Fotos, die Journalisten selbst gemacht und getwittert haben, und melden dann, dass diese Journalisten die Fotos geklaut hätten. Die Netzwerkbetreiber leiten in solchen Fällen gerne mal Verfahren wegen Urheberrechtsverletzungen ein, bei denen die Beschuldigten ihre Namen und Adressen rausrücken müssen. Kai Rüsberg hat sich diese Vorgänge angeschaut.

6. Zusteller: GroKo will Rentenbeiträge kürzen
(ndr.de, Hendrik Maaßen, Video, 6:20 Minuten)
Zeitungszusteller haben einen harten Job: wahnsinnig früh aufstehen, unterwegs sein bei Regen und Sturm, keine tolle Bezahlung. Immerhin: Inzwischen gilt auch für sie der Mindestlohn. Nun soll laut Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung allerdings für die Minijobber unter den Zustellern der Beitrag zur Rentenversicherung, den die Arbeitgeber zahlen müssen, von 15 auf fünf Prozent gesenkt werden. Hendrik Maaßen hat bei Union und SPD nachgefragt, ob es sich dabei um ein Geschenk an die Verlage handelt. Statt Antworten hat er, wenn überhaupt, Schuldzuweisungen Richtung Koalitionspartner erhalten.

Urteil gegen Türkei, falsche Hartz-Rechnung in “FAZ”, Manipulation

1. Bit­terer Erfolg in Straßburg
(lto.de, Markus Sehl)
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei für die Inhaftierung der beiden Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan verurteilt: Ihre Untersuchungshaft verstoße gegen das Recht auf Freiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung, so die Richter in Straßburg. Markus Sehl schreibt, dass das EGMR-Urteil, das lediglich die Untersuchungshaft betrifft, zumindest für Altan zu spät kommen könnte: Er wurde inzwischen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

2. Bringt Hartz IV mehr Geld als Arbeit? FAZ verbreitet falsche Zahlen
(uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Die Überschrift in der “FAZ” war eindeutig: “Hartz IV lohnt sich oft mehr als Arbeit”. Mit Hilfe des Vereins “Bund der Steuerzahler” wollte die Redaktion zeigen, dass man in bestimmten Familienkonstellationen deutlich über Mindestlohn verdienen müsste, um netto ähnlich viel zur Verfügung zu haben wie Hartz-IV-Empfänger in derselben Familienkonstellation. Das Problem bei den Zahlen, die die “FAZ” nutzt: Der “Bund der Steuerzahler” hat einfach das Kindergeld aus der Rechnung gelassen, zu Ungunsten der vermeintlich üppigen Hartz-IV-Bezieher. Stefan Niggemeier schreibt: “Dass ausgerechnet der für ihre Wirtschaftskompetenz gerühmten FAZ ein solch gravierender Fehler unterläuft, ist peinlich. Aber er blieb nicht auf die FAZ begrenzt.”

3. Malta: Informantin von ermordeter Journalistin stellte sich
(orf.at)
Eine Informantin der ermordeten maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia hat sich der Polizei in Griechenland gestellt. Die frühere Bankangestellte, die per Haftbefehl gesucht wurde, soll entscheidende Unterlagen geliefert haben für die Anschuldigung, dass die Ehefrau des maltesischen Regierungschefs Bestechungsgelder aus Aserbaidschan erhalten habe.

4. Zur Jagd freigegeben?
(journalist-magazin.de, Michael Kraske)
Wer als Reporter von Demonstrationen und Kundgebungen berichtet, bekommt oft zu spüren, wie medienfeindlich die Stimmung vor Ort ist. “Es wird beleidigt, bedroht und nach Kameras geschlagen. Gefahrenzonen sind längst nicht mehr nur Aufmärsche erkennbar extremistischer Organisationen”, schreibt Michael Kraske. Er hat ausführlich mit Journalisten und Polizisten gesprochen, um herauszufinden, welche Maßnahmen die Situation verbessern könnten.

5. Presserat: Lügenpresse-Rufer nehmen Polizei als “Kronzeugen” gegen Journalisten
(netzpolitik.org, Alexander Fanta)
Die deutsche Polizei hat sich in Sozialen Netzwerken eine beachtliche Reichweite aufgebaut. Wie sie diese nutzt, ist mitunter diskussionswürdig, beispielsweise wenn sie die Herkunft von Straftätern nennt. Alexander Fanta schreibt: “Mit immer stärkerem Selbstbewusstsein nutzt die Exekutive ihre amtliche Informationshoheit dazu, selbst ins Rampenlicht zu treten. Dabei zeigt die Exekutive wenig Rücksicht auf die ethische Frage, die durch ihr neues Sendungsbewusstsein aufgeworfen wird. Denn die Polizei entscheidet in der Auswahl der Straftaten, die sie an die Öffentlichkeit trägt, und auch in den Detailinformationen, die sie preisgibt, viel über die öffentliche Wahrnehmung der Fälle mit. Mit der Nennung von Herkunftsländern von Tatverdächtigen macht die Polizei Politik.”

6. Wir haben die Kontrolle über unser Gesicht und unsere Stimme verloren
(medienwoche.ch, Adrian Lobe)
Dass sich mit Photoshop Bilder manipulieren lassen, dürfte sich inzwischen rumgesprochen und Menschen beim Betrachten von Fotos vielleicht etwas misstrauischer gemacht haben. Adrian Lobe berichtet nun vom nächsten Schritt: dem Manipulieren von Video- und Audiomaterial. Er befürchtet weitreichende Folgen, sollte dadurch die “Integrität der Information” nachhaltig korrumpiert werden: “An der Integrität der Information hängt auch die Integrität einer funktionierenden Öffentlichkeit. Ist Journalismus unter den Bedingungen der totalen Manipulation überhaupt noch möglich?”

“Cambridge Analytica”, “RT”-Erfolg, Markworts “Stammtisch”-Aus

1. Cambridge Analytica: Mehrere Untersuchungen angekündigt, mögliche Billionenstrafe für Facebook
(heise.de, Martin Holland)
“Cambridge Analytica” steht mal wieder im medialen Fokus. Die Datenanalysefirma, die mit Microtargeting bei Facebook angeblich Donald Trump ins US-Präsidentenamt gebracht haben soll, könnte über viel mehr Informationen zu viel mehr Facebook-Profilen verfügen als bisher bekannt — die Rede ist von 50 Millionen Nutzerkonten. Während die Erhebung der Daten wohl legal war, soll die Weitergabe an und die Nutzung durch “Cambridge Analytica” illegal gewesen sein. All das kam nun raus, weil ein Whistleblower im “Guardian” und bei der “New York Times” ausgepackt hat. In seiner Geschichte spielen auch Trumps früherer Berater Steve Bannon und Russland eine wichtige Rolle. Jürgen Hermes hat sich auf Grundlage der aktuellen Entwicklungen noch einmal angeschaut, ob “Cambridge Analytica” wirklich zur individuell passgenauen Beeinflussung fähig ist, und ist skeptisch. Die Enthüllungen rund um das Datenunternehmen gehen unterdessen weiter: Der britische Sender “Channel 4” hat mit versteckter Kamera Vertreter von “Cambridge Analytica” gefilmt, die behaupten, sie könnten Politikern mit Hilfe von Bestechung und ukrainischen Sexarbeiterinnen Fallen stellen und so Einfluss auf Wahlen nehmen.

2. Putins Propagandasender verbucht Erfolg in Deutschland
(welt.de, Martin Niewendick)
Der russische Propaganda-Sender “RT Deutsch” komme “seinem Ziel näher, eine etablierte Größe in der deutschen Medienlandschaft zu werden”, schreibt Martin Niewendick. Das klappe auch, weil öffentlich-rechtliche Redaktionen den Chefredakteur des vom Kreml finanzierten Senders immer wieder in ihre Talkrunden einladen. Erst gerade habe Ivan Radionov bei “Phoenix” eine Verschwörungstheorie zur Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter verbreiten können.

3. Mario Barth deckt auf: Stotterer-Witze nicht lustig
(ndr.de, Andrej Reisin)
Mario Barth hat in seiner RTL-Sendung “Mario Barth deckt auf” den Leiter der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee nachgeäfft, der bei einer Pressekonferenz zu einem Gefängnisausbruch nach Worten ringt: “Da kommt selbst der Gefängnisleiter ins Stottern”, so Barth vor seiner Prodie. Nur: Der Anstaltsleiter hat tatsächlich eine körperlich bedingte Sprachstörung — er stottert. RTL will nun um Entschuldigung bitten.

4. Die AfD-Politiker sind der rassistischen Gruppe „Unser Deutschland patriotisch & frei” aktiv beigetreten, sagt der Administrator
(buzzfeed.com, Karsten Schmehl)
23 Bundestagsabgeordnete der AfD sollen Mitglied in einer rassistischen Facebook-Gruppe gewesen sein, in der es auch Hakenkreuz-Verherrlichung gab und Mordfantasien gegen Angela Merkel geäußert wurden. Die AfD verteidigte sich in einer Stellungnahme: mindestens 20 Mitglieder der Fraktion seien “ohne Kenntnis und Einverständnis” zu “Unser Deutschland patriotisch & frei” hinzugefügt worden. Der Administrator der Gruppe sagt nun: ein automatischer Beitritt ohne aktive Zustimmung ist gar nicht möglich.

5. Die EU verweigert uns Presseakkreditierung, weil wir keine Medienorganisation seien
(netzpolitik.org, Markus Beckedahl)
Ein Redakteur von Netzpolitik.org hat eine Jahresakkreditierung bei der EU beantragt, diese aber nicht bekommen. Die Begründung: der EU-Kommission “Netzpolitik” sei keine Medienorganisation. Chefredakteur Markus Beckedahl und sein Team wollen sich “gegen diese Einschränkung der Pressefreiheit” wehren.

6. Helmut Markwort muss seinen BR-“Stammtisch” aufgeben
(dwdl.de, Alexander Krei)
Der ehemalige “Focus”-Chefredakteur Helmut Markwort will in die Politik: Bei der im Herbst stattfindenden Landtagswahl in Bayern steht er auf Listenplatz 32 der oberbayerischen FDP. Da laut einer Sprecherin des “Bayerischen Rundfunks” eine “Kandidatur für ein politisches Amt und die Moderation einer Sendung im BR” unvereinbar sei, muss Markwort die Moderation des “BR”-“Stammtischs” aufgeben.

“Bild” lässt Siebenjährigen auf Lehrerin einstechen

Ein 18-Jähriger ersticht aus Eifersucht seine Freundin (17). Ein Siebenjähriger rammt seiner Lehrerin ein Messer in den Bauch. Ein 15-Jähriger ersticht seine Mitschülerin (14). Ein 14-Jähriger sticht auf einem Spielplatz einen Mann ab, sagt danach: “Mir egal, hat er verdient.”

Mit dieser Sammlung beginnt die “Bild”-Redaktion ihren heutigen “Report” zur “Messer-Angst in Deutschland”:

Ausriss Bild-Titelseite - Bis zu 300 Prozent mehr Angriffe - Messer-Angst in Deutschland - Polizei schlägt Alarm - der Report

Der Fall des Siebenjährigen, der vor knapp zwei Wochen seine Lehrerin mit einem Messer verletzt haben soll, steht wie selbstverständlich zwischen all den anderen Fällen, die laut “Bild” und Bild.de in ihrer Häufung “ein mulmiges Gefühl” hinterlassen. Die “Bild”-Medien stellen den Grundschüler in eine Reihe mit Jugendlichen, die grausame Verbrechen begangen haben oder begangen haben sollen, andere Menschen umgebracht haben oder umgebracht haben sollen. Schaut man sich allerdings die bisher bekannten Fakten zu dem Vorfall im baden-württembergischen Teningen an und liest sich Aussagen des Opfers durch, wirkt es alles weit weniger brutal, als es “Bild” in den vergangenen Tagen dargestellt hat.

Doch der Reihe nach.

Am 6. März schickte eine Grundschullehrerin einen Zweitklässler aus dem Klassenzimmer, damit dieser an einem Tisch auf dem Flur nicht erledigte Hausaufgaben nachholt. Der Junge soll schon seit seiner Einschulung auffällig sein, den Unterricht stören, gegenüber Mitschülern gewalttätig sein, häufig Probleme machen. Als die Lehrerin nach dem Jungen schaut, hat dieser ein Messer in der Hand, vermutlich hat er es in der Bastelecke der Schule gefunden. Der “Badischen Zeitung” sagt die Lehrerin (Artikel nur mit Abo lesbar), sie habe den Jungen aufgefordert, ihr das Messer zu geben. Das habe dieser nicht getan. Sie habe dann nach der Hand des Schülers gegriffen, um ihm das Messer abzunehmen. Es kam dann wohl zu einer Rangelei:

“Dann hat er zu sich gezogen und ich zu mir — da muss es dann passiert sein”, sagt die Frau. Wie genau — da sei sie aber unsicher. Sicher sei sie jedoch, dass der Junge das Messer in der Bastelecke gefunden und nicht mitgebracht habe. “Ich bin sicher, dass er es nicht geplant hat.”

Die Schilderungen der Lehrerin klingen nach einem sehr unglücklichen Ablauf mit schlimmen Folgen für sie selbst: Die etwa ein Zentimeter tiefe Stichwunde im Bauchbereich musste unter Vollnarkose operiert werden, die Frau ist bis heute krankgeschrieben, sie leide noch immer unter Panikattacken. Ihre Beschreibung des Vorfalls klingt nicht so, als wäre der Siebenjährige ein skrupelloser Gewalttäter, der geplant mit Waffen auf andere Menschen losgeht.

Genau dazu macht ihn aber ein Artikel, den “Bild” und Bild.de (nur mit “Bild plus” lesbar) bereits am Samstag veröffentlicht haben:

Screenshot Bild.de - Siebenjähriger sticht auf seine Lehrerin ein - Sabine T. und ihre Kollegen hatten die Behörden immer wieder vor dem Zweitklässler gewarnt

Die “Bild”-Medien schreiben:

Alle wussten, welche Gefahr von dem aggressiven Jungen (7) ausgeht. Doch es passierte — nichts. Jetzt griff der Zweitklässler zum Messer — und stach es einer Lehrerin in den Bauch!

Und:

Als sie ihm das Messer wegnehmen wollte, stach er zu!

Diese Darstellung passt nicht zum Ermittlungsstand der Polizei. Demnach ist der Junge kein Messerstecher im Sinne von: Messer greifen und aktiv zustechen. Es habe sich nicht um einen “gezielten Angriff” gehandelt, steht in der Polizeimeldung: “Es gibt derzeit keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Siebenjährige seine Lehrerin bewusst verletzen wollte.”

Die Darstellung der “Bild”-Medien passt auch nicht mit der Aussage des Opfers in der “Badischen Zeitung” zusammen — das Gerangel kommt im “Bild”-Text gar nicht erst vor. Dabei sprach die Redaktion sogar mit der Lehrerin (“Doch jetzt meldet sich die verletzte Lehrerin in BILD zu Wort.”). Sie sagt in dem Artikel unter anderem: “‘Ich leide noch heute unter dem Angriff und finde es schlimm, dass das so verharmlost wird.'” Sie meint damit wohl auch eine Aussage der zuständigen Polizeistelle, die anfangs lediglich von “oberflächlichen Schnittverletzungen” sprach.

Den “Bild”-Artikel von Samstag griffen einige weitere Redaktionen auf. Bei “Spiegel Online” wird der Junge zum “Messerstecher”:

Screenshot Spiegel Online - Attacke auf Lehrerin - Siebenjähriger Messerstecher war schon mehrfach gewalttätig

Bei RTL.de sticht er “auf (die) Lehrerin ein”:

Screenshot RTL.de - Teningen: Siebenjähriger sticht auf Lehrerin ein - dabei hatte die Grundschule die Behörden vor ihm gewarnt

Bei Heute.at sticht er die “Lehrerin nieder”:

Screenshot Heute.at - Bub sticht Lehrerin nieder - Polizei verheimlicht Tat

Und laut “Bild”-Ausgabe von heute hat er seiner Lehrerin also “ein Messer in den Bauch” gerammt.

Bei dem Siebenjährigen handelt es sich offenbar um ein Kind, das größere Probleme mit Aggression hat und besondere Hilfe braucht. Es scheint sich aber nicht um einen kaltblütigen siebenjährigen Schwerverbrecher zu handeln, den man in der Titelgeschichte von Deutschlands größter Tageszeitung in einem Atemzug mit vermutlichen Mördern oder Totschlägern nennen sollte. Heinz-Rudolf Hagenacker, Bürgermeister von Teningen, warnt vor einer “medialen Vorverurteilung” des Jungen. Ein Bürgermeister muss Redaktionen bitten, dass sie sich nicht auf einen Siebenjährigen — wohlgemerkt: Siebenjährigen (!) — stürzen.

Leider scheinen solche Hinweise nötig zu sein: Ein BILDblog-Leser, dessen Kinder nach eigener Aussage auf die Grundschule in Teningen gehen, schrieb uns, dass die Schule heute von Kamerateams und Pressemitarbeitern belagert wurde. Angeblich mussten Polizisten kommen, und Eltern ihre Kinder abholen.

Mit Dank an UK für den Hinweis!

Erstes Yücel-Interview, Scientology-TV, Unsinn über Taiwan

1. “Es liegt an dir, ob sie die Kontrolle über dich bekommen”
(welt.de, Doris Akrap & Daniel-Dylan Böhmer)
Nun ist es da: Das erste Interview mit “Welt”-Korrespondent Deniz Yücel, gemeinsam mit dessen Frau Dilek Mayatürk Yücel. Das lange Gespräch mit dem Journalisten, der über ein Jahr in der Türkei in Haft saß, haben Doris Akrap von der “taz” und Daniel-Dylan Böhmer von der “Welt” geführt. Auch das macht dieses Interview besonders: Akrap und Böhmer sind enge Freunde und Kollegen von Yücel und waren zwei der zentralen Personen bei den Bemühungen um dessen Freilassung.

2. “Bürgerliches Massaker”
(taz.de, Reinhard Wolff)
In Dänemark werden die Öffentlich-Rechtlichen künftig nicht mehr über eine Rundfunkgebühr, sondern steuerlich finanziert. Und, wohl mit noch größeren Auswirkungen: Das Budget von “Danmarks Radio”, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, soll um ein Fünftel sinken. Die Journalistengewerkschaft des Landes spricht von einem “‘Massaker am dänischen Public-Service.'” Ebenfalls zum Thema: Silke Bigalke bei Süddeutsch.de mit Ein Fünftel weniger Budget sowie Markus Ehrenberg bei Tagesspiegel.de mit Keine Rundfunkgebühr mehr in Dänemark.

3. Nichts als die Wahrheit
(sueddeutsche.de, Jürgen Schmieder)
In den USA hat die Sekte “Scientology” seit einer Woche einen eigenen TV-Kanal. Es handele sich dabei um einen Vertreter “einer neuen Sorte von Fernsehsendern: Agenda-Medien, von denen es nicht nur in den USA immer mehr gibt. Letztlich geht es um die Frage, die Pontius Pilatus im Johannes-Evangelium an Jesus richtet: “Was ist Wahrheit?”, so Jürgen Schmieder. Sein beunruhigendes Urteil: “Das Faszinierende ist, dass es funktionieren könnte.”

4. Unwissenheit oder alles egal? In deutschen News kommt Taiwan immer wieder unter die Räder
(intaiwan.de, Klaus Bardenhagen)
Klaus Bardenhagen ärgert sich über Agenturmeldungen von “AFP” und “Reuters” zum von Donald Trump unterzeichneten “Taiwan Travel Act”, die mehrere Redaktionen übernommen haben. Er beobachte drei Reflexe “vor allem bei Agenturen immer wieder, wenn es um Taiwan geht”: “Taiwans Demokratie wird ausgeblendet”, “Chinas Aggressionen werden gerechtfertigt” und “Der Fokus wird auf Trumps vermeintliche Unzurechnungsfähigkeit gelegt”.

5. Ein negatives Stück Fernsehgeschichte
(medienkorrespondenz.de, Carmen Molitor)
Wer erinnert sich noch an den Skandal um die Dokumentation “Auserwählt und ausgegrenzt — Der Hass auf Juden in Europa”? Genau: Im Juni vergangenen Jahres weigerten sich “Arte” und WDR, diesen Film über Antisemitismus zu zeigen, weil er den Ansprüchen nicht genüge, so die Begründung der Sender. Letztlich zeigten sie ihn dann doch, allerdings unter sehr besonderen Umständen, teils mit erläuternden Texttafeln und korrigierenden Anmerkungen. Carmen Molitor hat jetzt, wo “der Ärger verraucht ist und die Emotionen nicht mehr hochkochen”, die Aufregung um die Doku sowie die Krisenkommunikation der Beteiligten noch einmal analysiert.

6. Expert*in verzweifelt gesucht
(inkladde.blog, Nicola Wessinghage)
Dass neulich Manfred Spitzer wieder mal “seine kulturpessimistischen und unwissenschaftlichen Thesen” in einem Interview verbreiten durfte, dieses Mal im “Deutschlandfunk” zum Thema “digitales Klassenzimmer”, lässt Nicola Wessinghage fragen: “Was macht eine/n ‘Expert*in’ aus und wie findet man sie? Offensichtlich nicht so leicht, warum sonst begegnen uns in Medien so oft die immer gleichen und manchmal auch sehr fragwürdige?” Wessinghage plädiert dafür, “die Suche nach Interviewpartner*innen systematischer und professioneller anzugehen.”

Julian Reichelt und der rechte Hetz-Account (2)

Wir müssen noch mal über den Twitter-Account @DoraGezwitscher sprechen, den “Bild”-Chef Julian Reichelt vergangene Woche retweetet hat. Das Schlimme war gar nicht, dass Reichelt Inhalte eines Accounts verbreitet, der immer wieder lügt, hetzt, desinformiert und Stimmung gegen Ausländer macht. Das kann im Twittertempo mal passieren. Erschreckend war, wie Reichelt auf die Kritik daran reagierte: Am Ende forderte er Beweise, dass hinter @DoraGezwitscher ein “professionell organisiertes, rechtsextremes Netzwerk” steckt — kleiner geht es bei ihm nicht, bevor er zugeben könnte, dass es sich um einen ganz üblen Twitteraccount handelt.

Ob die Person (oder die Gruppe) hinter @DoraGezwitscher rechtsextrem, rechtsradikal oder Teil eines organisierten Netzwerks ist, können wir auch nicht sagen. Wir wollen Julian Reichelt aber doch noch einmal zeigen, was für eklige Inhalte in diesem Kanal auftauchen. Alle Beispiel in diesem Beitrag stammen aus 2018.

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Der schreckliche Tod der 14-jährigen Keira in Berlin war auch bei @DoraGezwitscher Thema. Dort war zu lesen:

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Zitat: Anwohner hätten von einem lauten Streit und Türenschlagen berichtet. Zwei weitere Augenzeugen haben einen arabisch aussehenden Mann aus der Wohnung laufen sehen.

Auf Nachfrage, woher diese Behauptung stamme, antwortet @DoraGezwitscher mit einem Link zu einem “Bild plus”-Text. In diesem Artikel steht allerdings gar nichts von einem “arabisch aussehenden Mann”. Stattdessen:

Doch Keira hörte nicht auf ihn. Gegen 15 Uhr schick­te sie ihrem Kum­pel noch ein Sel­fie von sich und ihrem Date per Snap­chat. “Das muss auf ihrem Heim­weg ge­we­sen sein. Der Weg von der Stra­ßen­bahn zu ihrer Wohnung”, sagt er.

Bei Snap­chat wer­den Fotos nicht ge­spei­chert. “Wenn ich ge­wusst hätte, was pas­siert, hätte ich einen Screen­shot gemacht”, so der Be­kann­te. Er kann­te den Ju­gend­li­chen nicht. “Er trug einen blau­en Ka­pu­zen­pul­li mit Ni­ke-Auf­schrift, war einen Kopf grö­ßer als Keira, hatte kurze dun­kel­blon­de Haare und trug eine Bril­le ohne Rah­men”, er­in­nert er sich.

Inzwischen ist bekannt, dass der geständige Täter Deutscher ist.

Das Zitat, das @DoraGezwitscher veröffentlicht hat, gibt es aber tatsächlich. Es stammt nicht von Bild.de, sondern von “Anonymous News”, einer grässlichen Hetzer-Seite mit aktuellen Artikeln wie “Spiel und Spaß in Auschwitz: Fußball und Bordellbesuche — Das andere Leben der KZ-Häftlinge”, “Kulturelle Bereicherung: Wie Muslime durch traditionellen Inzest unsere Gesellschaft belasten” oder “BRD-Gesinnungsjustiz: Deutscher erhält 10 Jahre für Silvester-Böller — IS-Mörder 22 Monate Bewährung” (mit dem “Böller”-Deutschen sind die Mitglieder der rechtsterroristischen “Gruppe Freital” gemeint).

Sie sehen, Julian Reichelt: Bei @DoraGezwitscher handelt es sich um einen Account, der auf Hetz-Portale zurückgreift, der Lügen verbreitet und mit diesen Lügen Stimmung gegen Ausländer machen will.

@DoraGezwitscher hat den Tweet inzwischen gelöscht.

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Ein weiteres großes Feindbild von @DoraGezwitscher: der öffentlich-rechtliche Rundfunk, speziell “Tagesschau” und “Tagesthemen”. Der Account twitterte unter anderem diese vermeintliche Enthüllung (ein paar Tage später noch einmal in ganz ähnlicher Form):

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Alternative Fakten gab es in der Politik schon immer. Wer die Wahlerfolge von Trump oder der Afd so rechtfertigt, versteht den Souverän nicht. Dieser Tagesthemen Kommentar wird neuerdings in der ARD Mediathek zensiert. Warum?

In dem 49-Sekunden-Video ist ein etwas kruder Zusammenschnitt eines “Tagesthemen”-Kommentars von Alois Theisen vom 10. November 2016 zu sehen. Mit Hilfe von Einblendungen behauptet @DoraGezwitscher, dass es “Zensur in der ARD Mediathek” gäbe. Theisen sagt in diesem Zusammenschnitt:

Das Zeitalter des Postfaktischen, es ist eine weitere hilflose Formel, hinter der sich nur eines verbirgt: Viele schlaue Welterklärer verstehen die Welt nicht mehr.

Dann erscheint eine “Tagesthemen”-Tafel, Theisen ist kurz nicht mehr zu hören und spricht dann weiter:

… biger Dummheit oder Borniertheit der Wähler gegenüber Fakten erklärt, der beweist für mich nur eines: eine unerträgliche Arroganz gegenüber dem Souverän im Staate, dem Volk, und damit auch gegenüber den Wählern und deren Vernunft.

Das soll laut Einblendung die “zensierte Version” gewesen sein. Direkt im Anschluss kommt laut @DoraGezwitscher Theisens “Originalkommentar”:

Wer den Wahlsieg von Donald Trump, das Votum der Briten für den Brexit und die Erfolge der AfD in Deutschland mit gutgläubiger Dummheit oder Borniertheit der Wähler gegenüber Fakten erklärt, der beweist für mich nur eines: eine unerträgliche Arroganz gegenüber dem Souverän im Staate, dem Volk, und damit auch gegenüber den Wählern und deren Vernunft.

Die ARD soll also wohl den Teil “Wer den Wahlsieg von Donald Trump, das Votum der Briten für den Brexit und die Erfolge der AfD in Deutschland mit gutgläubiger” rausgeschnitten haben.

Die “Tagesthemen”-Ausgabe von damals ist bei tagesschau.de noch online abrufbar. Moderatorin Pinar Atalay kündigt den Kommentar (ab Minute 14:43) mit den Worten an: “Donald Trump und den Siegeszug des Populismus kommentiert jetzt Alois Theisen vom ‘Hessischen Rundfunk'”. Und Theisen sagt dann:

Leben wir tatsächlich im Zeitalter der Lüge, wie man den vornehmer klingenden Begriff der Ära des Postfaktischen übersetzen könnte? Ich denke, es ist nur der hilflose und untaugliche Versuch, die sich häufenden unerwarteten Wahlentscheidungen zu erklären. Warum sollten sich Wähler heute leichter belügen lassen als früher? Verfügen wir nicht über mehr Informationsquellen als je zuvor? Und noch nie wurden Aussagen von Politikern so häufig und von verschiedenen Seiten überprüft wie heute.

Nein, Lügen gab es in der Politik wie im Privaten zu allen Zeiten. Wer anderes behauptet, verklärt nur die angeblich gute alte Zeit. Wer den Wahlsieg von Donald Trump, das Votum der Briten für den Brexit und die Erfolge der AfD in Deutschland mit gutgläubiger Dummheit oder Borniertheit der Wähler gegenüber Fakten erklärt, der beweist für mich nur eines: eine unerträgliche Arroganz gegenüber dem Souverän im Staate, dem Volk, und damit auch gegenüber den Wählern und deren Vernunft.

Die politischen Verhältnisse entwickeln sich vielleicht anders, als es manche Meinungsmacher gerne hätten. Aber womöglich leben sie selbst im Zeitalter des Postfaktischen, sehen und verstehen die entscheidenden Fakten nicht, unter denen die Wähler leben und arbeiten. Und auch nicht ihre Sorgen, Ängste und manchmal auch Panik vor dem rasanten Wandel in der Welt.

Mit Ängsten und Stimmungen wurde auch schon immer Politik gemacht, mit der vor der Atomenergie zum Beispiel. Was dort billig war, sollte auf der anderen Seite nicht falsch sein. Das Zeitalter des Postfaktischen, es ist eine weitere hilflose Formel, hinter der sich nur eines verbirgt: Viele schlaue Welterklärer verstehen die Welt nicht mehr.

Keinerlei Zensur, alles noch drin.

Der Tweet von @DoraGezwitscher ist das, was man völlig zurecht “Fake News” nennen kann: eine bewusste Lüge, um eine Agenda zu verfolgen.

Als Sie, Julian Reichelt, und Ihr Team vor Kurzem auf die “Titanic” reingefallen sind, schrieben Sie unter anderem:

Meine Meinung: Natürlich darf Satire so etwas, aber sie versucht sich hier zu profilieren, indem sie journalistische Arbeit bewusst zu diskreditieren versucht.

Die Tweets von @DoraGezwitscher sind zwar keine Satire, aber die Person hinter dem Account “versucht sich hier zu profilieren, indem sie journalistische Arbeit bewusst zu diskreditieren versucht.”

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@DoraGezwitscher schießt mit unlauteren Mitteln nicht nur gegen Gruppen und TV-Sendungen, sondern auch gegen Einzelpersonen.

Der Account hat zum Beispiel diesen kurzen Videozusammenschnitt über die Rapperin Sookee veröffentlicht:

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Die ZDF Expertin gegen Hatespeech Sookee im Interview mit MC Bogy:

Schaut man sich das 14-sekündige Video an, sieht man, dass nicht Sookee sagt “Schieß auf AfD-Wähler mit Hohlmantelgeschossen”, sondern der von ihr interviewte MC Bogy, der damit einen seiner Texte zitiert.

Anderes Beispiel: Über Journalist Fiete Stegers schreibt @DoraGezwitscher:

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Der Faktenfinder Fiete Stegers retweetet einen Politiker der Linkspartei und wiederholt dessen Liebeserklärung: Danke, liebe Antifa!

Erstens: Stegers war früher beim ARD-“Faktenfinder”, wie man auch in dem Screenshot von @DoraGezwitscher lesen kann. Und zweitens: Das “Danke, liebe Antifa” ist keine Liebesbekundung an die “Antifa”, sondern das Zitat eines “Tagesspiegel”-Artikels, der exakt mit diesen Worten überschrieben ist.

Und noch ein Beispiel, das zeigt, wie verzweifelt @DoraGezwitscher nach Schmutz sucht, den man auf Mitarbeiter des ARD-“Faktenfinders” werfen kann:

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Der Faktenfinder Chef Patrick Gensing diskriminiert spastisch behinderte Menschen, indem er Spacko als Schimpfwort benutzt. Bitte nicht retweeten. Sonst kommen Niggi und das Team Gensing
Screenshot des Tweets von Patrick Gensing, den Dora Gezwitscher kommentiert - Sagt den Spacken uns geht es prima vielleicht sieht man sich mal wieder. Aber nicht in diesem Leben

Bei dem Text, den Patrick Gensing getwittert hat, handelt es sich um eine Passage aus einem Song der Band “Rantanplan”. Und noch viel wichtiger: “Spacken” hat nichts mit “spastisch behinderten Menschen” zu tun, wie @DoraGezwitscher behauptet. Es bedeutet “dumme Menschen”.

Sie sehen, Julian Reichelt: @DoraGezwitscher verdreht, verbiegt, verschweigt Kontexte, desinformiert.

Den Tweet zu Patrick Gensing hat @DoraGezwitscher inzwischen gelöscht.

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@DoraGezwitscher bezeichnet Deniz Yücel als Rassisten:

Screenshot eines Tweets von Dora Gezwitscher - Der rassistische Satiriker #DenizYuecel wird vom #Bundestag gefeiert, der rassistische Satiriker Uwe Osterag wurde zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt.

Sie sehen, Julian Reichelt: @DoraGezwitscher beteiligt sich an der stramm rechten Stimmungsmache gegen Ihren Kollegen bei “Springer”.

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