Könnte man als Redaktion nicht auf die Idee kommen, noch mal kurz zu checken, ob es im Französischen wirklich le vidéo oder doch eher la vidéo heißt, bevor man riesengroß zum WM-Sieg Frankreichs das hier titelt?
Aus einer Konzertkritik zu einem Auftritt von Helene Fischer in Hamburg, die vorhin bei Welt.de erschienen ist:
Zu “Viva La Vida” und “Sonne auf der Haut” wurde schon selig getanzt, bei der Coverversion von Matthias Reims “Verdammt, ich lieb dich” zeigten sich erste Spuren von Euphorie im erstaunlich gemischten Publikum. Es ließe sich sagen: Von dort an hatte sie die Leute echt im Sack. Da stand sie auch bereits im dritten Outfit auf der Bühne, nach Hot Pants in Teil eins, die man wohlwollend als preiswert hätte beschreiben dürfen, auch wenn der gern mal derbe Hanseat vielleicht sogar zum Wort “nuttig” gegriffen hätte, folgte das kurze, silbrige Paillettenkleid, es sollten, so wir uns denn nicht verzählt haben, fünf weitere Roben folgen.
Jaja, immer dieser “derbe Hanseat”. Nun liegen uns keine genaueren Zahlen vor, wie viele derbe Hanseaten in der Redaktion von Welt.de so sitzen. Die Leute dort hielten es jedenfalls für eine gute Idee, die Bezeichnung “nuttig” auch in ihre Überschrift zu packen:
Wohlgemerkt: Weil Helene Fischer Hot Pants trug. Durch den Konjunktiv und die Anführungszeichen in der Titelzeile wird das alles kein Stück besser.
Wenn eine große deutsche Redaktion es offenbar für völlig in Ordnung hält, eine Sängerin auf der Startseite aufgrund ihrer Klamotten mit den Begriff “nuttig” und zusätzlich im Artikel mit dem Begriff “preiswert” in Verbindung zu bringen, muss es auch niemanden mehr wundern, wenn Frauen immer wieder als minderwertig betrachtet und auf der Straße und im Internet häufig angefeindet werden.
Mit Dank an Stefan T. und Thomas H. für die Hinweise!
Nachtrag, 16. Juli: Welt.de hat die Titelzeile geändert. Dort steht nun:
Auch aus dem Text ist das Wort “nuttig” verschwunden. Stattdessen:
… nach Hot Pants in Teil eins, die man wohlwollend als preiswert hätte beschreiben dürfen, auch wenn der gern mal derbe Hanseat vielleicht sogar zu ganz anderen Worten gegriffen hätte
Die Redaktion hat dazu diese “Anmerkung” veröffentlicht:
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels verwendeten wir für die Beschreibung des Outfits der Sängerin eine unangemessene Wortwahl. Wir bitten dies zu entschuldigen.
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Bei “Bild” und Bild.de interessieren sie sich offenbar nicht für den Schutz von hilflosen Personen.
Vor vier Monaten stürzte ein Mann beim Joggen in einem Park in Berlin-Wilmersdorf. Er wurde bewusstlos und liegt bis heute im Koma. Da er keinen Ausweis bei sich hatte und ihn niemand als vermisst meldete, wusste die Polizei lange nicht, wer der Mann ist. Bis gestern. Da meldete sich ein andere Mann, der auf einem von der Polizei veröffentlichten Foto einen Schlüssel wiedererkannte. Mit Hilfe des Anrufers konnten die Beamten die Wohnung des Joggers ausfindig machen und damit dessen Identität klären.
Bild.de veröffentlichte gestern einen Artikel zu der aktuellen Entwicklung. Darin auch dieses Zitat von Uwe Dziuba, Hauptkommissar in der Vermisstenstelle:
Nur drei Absätze später, unter der Zwischenüberschrift “Das ist der Jogger”, nennt die Bild.de-Autorin den Namen des Mannes:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Sie nennt die zwei Vornamen des Mannes und den abgekürzten Nachnamen, auch in der gedruckten “Bild”. Sie nennt das Alter des Mannes und den Namen der Straße, in der sich seine Wohnung befindet (beide Informationen stehen auch in einer Pressemitteilung der Polizei). Sie nennt den Familienstand des Mannes, schreibt, wie lange er bereits in seiner Wohnung wohnt. Sie und ihre Redaktion zeigen ein Foto der Straße, in der sich die Wohnung des Mannes befindet. Sie zeigen ein Foto des Briefkasten des Mannes. Und sie zeigen ein Foto, auf dem der Mann im Koma zu sehen ist, ohne Verpixelung. Dieses Foto hatte die Polizei rausgegeben, als die Identität des Mannes noch nicht geklärt war. Nun ist sie geklärt. Für die “Bild”-Medien offenbar kein Grund, das Gesicht einer hilflosen Person nicht mehr zu zeigen.
Inzwischen hat die Bild.de-Redaktion eine wichtige Information aus ihrem Artikel gelöscht. Allerdings nicht den Namen des Mannes, oder den der Straße, in der sich seine Wohnung befindet. Sondern einen Teil des Zitats von Uwe Dziuba, dem Polizeibeamten, der sagt, dass man die Identität des Mannes schützen wolle. So wurde aus …
… auf einmal:
Mit Dank an Daniel B., Ulrike, wolkenzottel und @kentrail_ticker für die Hinweise!
In Köln hat es schon länger nicht mehr ordentlich geregnet. Der Kölner “Express” warnt auf Seite 1:
Das war das Titelblatt von gestern. Auf der letzten Seite der Ausgabe zeigt die Redaktion das Foto, auf dem die Bastei und vor allem der ausgedörrte Rasen davor zu sehen sind, ein weiteres Mal:
Im Artikel steht gleich zu Beginn:
Auch die kurzen Schauer am Dienstagabend und in der Nacht, die zusammen mit einzelnen Gewittern kamen, halfen nicht: Seit gut vier Wochen kaum ein Tröpfchen. Die andauernde Dürre zeigt er(n)ste Folgen: Steppe, wo Wiese war, gelbe statt grüne Blätter an den Bäumen, der Rheinpegel sinkt täglich.
Und dazu die Bildunterschrift:
Gelbe statt grüne Wiesen — wie hier an der Bastei
BILDblog-Leser Norbert E. ist gestern an der Wiese vor der Bastei vorbeigekommen. Das Foto, das er um 16:23 Uhr mit einem herkömmlichen Smartphone und der darin beinhalteten Belichtungsautomatik aufgenommen und uns geschickt hat, sieht nun nicht unbedingt nach blühenden Landschaften aus. Es sieht aber auch nicht so aus, als würde sich die Grünanlage vor der Bastei gerade in eine Steppe verwandeln:
Zum besseren Vergleich hier noch einmal beide Aufnahmen gegenübergestellt:
Mit Dank an Norbert E. für Hinweis und Foto!
Nachtrag, 13. Juli: Mehrere Leserinnen und Leser weisen darauf hin, dass auch der zweite Teil der Titel-Optik — die abgestorbene Platanenrinde — Unsinn sei. Schließlich würfen Platanen regelmäßig ihre Rinde ab, nicht nur bei großer Hitze oder Dürre.
Der “Express” schreibt dazu:
Die Platanen werfen zudem ihren Bast (abgestorbene Rinde) ab. Für manche Experten Zeugnis der Trockenheit. [Sachgebietsleiter beim Kölner Gründflächenamt] Schmidt hält dagegen: “Das Frühjahr war feucht und warm, ideal für die Vegetation. Alles ist stark gewachsen. Auch die Stämme der Platanen, die dicker wurden. Jetzt passt die Rinde nicht mehr und fällt ab. Wie bei einem zu engen Korsett.”
Die “Express”-Redaktion klärt die Sache also im Text auf. Dass sie trotz dieses Wissens das Foto mit der Platanenrinde auf den Titel packt, ist natürlich recht bescheuert.
Wenn ein Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks versucht, eine aus dem Zusammenhang gerissene Aussage einer Politikerin wieder etwas mehr Richtung Kontext zu rücken, während reichlich rechte Hetzer und ein Politiker im Bundestag mit der entstellten Aussage Stimmung machen, dann ist das laut “Bild”-Chef Julian Reichelt: “bedenklich”. Wobei sich dieses Urteil nicht auf die rechten Hetzer und das Dekontextualisieren bezieht, sondern auf das Vorgehen des öffentlich-rechtlichen Journalisten.
Es geht um eine ironische Bemerkung der Grünen-Politikerin Claudia Roth. Am vergangenen Donnerstag, als CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im Bundestag sagte …
Sie haben bis heute nicht erklärt, was Sie eigentlich meinen mit Ihrem Programm: keine Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, weniger Abschiebungen, eine Untergrenze für Flüchtlinge. Was meinen Sie mit einer Untergrenze für Flüchtlinge? 5 Millionen oder 10 Millionen? Wie viele von den 70 Millionen wollen Sie denn hier aufnehmen?
… rief Roth dazwischen:
Nein! Alle, Herr Dobrindt!
Im Videomitschnitt der Sitzung hört man den Zwischenruf nicht ohne Weiteres. Im Protokoll des Bundestages (PDF, Seite 4126) findet man ihn aber. Es gibt dort keinen Vermerk, dass die Aussage ironisch gemeint ist. Man kann aber durchaus darauf kommen, dass Claudia Roth nicht ernsthaft meint, dass Deutschland mit seinen rund 82,5 Millionen Einwohnern 70 Millionen Geflüchtete aufnehmen solle.
Dennoch wollten viele die Ironie nicht erkennen. Rechte und noch Rechtere griffen das Roth-Zitat auf und machten einen Wie-blöd-ist-die-eigentlich-Skandal daraus. Zum Beispiel das Portal “Jouwatch”:
Der rechte Twitter–Hetzaccount “Dora zwitschert” war selbstverständlich auch mit dabei. Und noch viele weitere, darunter Leute wie Tobias Huch und Ralf Schuler, der bei “Bild” das Parlamentsbüro leitet. Bei ihn allen wirkt es so, als meinte Claudia Roth die Sache ernst, nirgends ein Hinweis auf die Ironie der Aussage.
In der Bundestagssitzung von gestern griff Alexander Dobrindt die Aussage Roths auch noch einmal auf (PDF, Seite 4694):
Das waren Ihre Worte, sehr geehrter Herr Kollege Hofreiter. Ich habe Sie in der letzten Rede hier im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass Sie bisher keine Antwort darauf gegeben haben, wie viele von den 70 Millionen Flüchtlingen, die es zurzeit auf der Welt gibt, Sie eigentlich mit Blick auf Ihre Diskussion über eine jährliche Untergrenze für Deutschland aufnehmen wollen. […]
Ihre Kollegin hat darauf eine Antwort gegeben, wie im Protokoll auch nachzulesen ist. Claudia Roth hat darauf gesagt: Alle. – Alle!
Das war Ironie, Herr Dobrindt! Das ist ja wohl hanebüchen!
… aber das änderte dann auch nichts mehr an den irreführenden Artikeln, den irreführenden Tweets und den vielen zusätzlichen hasserfüllten E-Mails, die Claudia Roth erreichten.
Florian Neuhann, Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio hat das alles bereits en detail aufgeschrieben. Roth bestätigte ihm auch, dass sie ihre Aussage ironisch meinte.
Und nun kommt Julian Reichelt mit seinem Tweet zu Neuhanns Artikel und findet dessen Vorgehen “bedenklich”. Erstmal: Reichelts Aussage “Es ist bedenklich, wenn die öffentlich-rechtlichen Nachrichten ein echtes Politikerzitat zu Fake News erklären” ist inhaltlich schon mal falsch. Florian Neuhann hat nie angezweifelt, dass das Zitat echt ist, und nie behauptet, dass es sich bei dem Zitat um “Fake News” handelt. Neuhann kritisiert den üblen Umgang mit dem Roth-Zitat. Ist Julian Reichelt nicht in der Lage, das richtig zu verstehen? Oder will er es vielleicht nicht richtig verstehen, weil er sehr genau weiß, wie scharf seine Follower auf seine Hau-drauf-Tweets gegen das Öffentlich-Rechtliche sind?
Und natürlich schützt Neuhann Claudia Roth auch nicht “vor sich selbst”, sondern klärt einfach auf, wie und von wem Roths Zitat missbraucht wurde. Dass Julian Reichelt diese Aufklärung für “bedenklich” hält, ist bedenklich.
Perfektes Pointen-Ping-Pong im Highspeed-Modus. Weiterwitzeln!
So endete die auffallend positive “Bild”-TV-Kritik von Josef Nyary zur Sendung “WM Kwartira”, die derzeit im “Ersten” am späten Abend nach WM-Übertragungen läuft. Gastgeber Micky Beisenherz und Jörg Thadeusz seien “das schärfste Spottdrossel-Duo seit ‘Waldi’ Hartmann und ‘Dirty Harry’ Schmidt.” Sie stellten freche Fragen und hätten passende Gäste. Nyary war sehr angetan:
Dieses Lob erschien am 20. Juni in der gedruckten “Bild” und bereits am Abend vorher bei Bild.de.
Am vergangenen Dienstag war Komiker Oliver Polak als einer von zwei Gästen im “WM Kwartira”. Seine Äußerungen über Lothar Matthäus, den er als “pädophilen Volltrottel” bezeichnete, sorgten verständlicherweise für viel Ärger.
Der Komiker Oliver Polak hat in der ARD-Spätshow “WM Kwartira” Lothar Matthäus als “Pädophilen” beschimpft. Einfach so.
Wörtlich sagte Polak über den Weltmeister von 1990: „In den letzten zwanzig Jahren war nichts mehr, wo man sagen kann: Respekt! Das ist einfach ein Volltrottel! Ein pädophiler Volltrottel!“
Er schreibt über Thadeusz und Beisenherz, die er einst für ein scharfes “Spottdrossel-Duo” hielt:
Und was machten die Moderatoren? Nichts!
Und er schreibt allgemein über “WM Kwartira”, das er vor zwei Wochen noch als “perfektes Pointen-Ping-Pong” bezeichnete:
Laut Programm soll Kwartira “unterhaltsam, informativ und meinungsstark” eine “humorvolle Fußball-Unterhaltung” liefern. Oder wie ich es nenne: Gebührenverschwendung.
Eine solche Kehrtwende bekommt bei “Bild” eigentlich nur Briefonkel Franz Josef Wagner hin. Und selbst der braucht dafür deutlich länger als zwei Wochen.
Kurz nach dem Ausscheiden bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland berichteten viele Medien vor allem über einen deutschen Nationalspieler: Mesut Özil. Es war schließlich auch etwas passiert nach dem letzten Gruppenspiel gegen Südkorea: Eine Person auf der Tribüne beleidigte Özil, vermutlich ausländerfeindlich. Der DFB schrieb uns auf Nachfrage, dass dem Verband Informationen vorliegen, die diesen Vorgang bestätigen. Özil ließ sich das nicht bieten. Torwarttrainer Andreas Köpke und ein Bodyguard mussten einschreiten.
Doch statt zu schreiben “Eklige Attacke gegen Mesut Özil” oder “Rassistischer Angriff auf Nationalspieler”, titelten die Redaktionen:
So, als ginge die Aggression von Özil aus; als hätte nicht zuerst irgendein Holzkopf ausländerfeindlichen Dreck von sich gegeben; als müsste ein Nationalspieler nach dem Ausscheiden bei einer WM alles hinnehmen, auch rassistische Anfeindungen; als dürfte er sich gegen die Beleidigung nicht wehren, ohne mit dieser Reaktion für Ärger zu sorgen.
Ärger Nummer 1 laut “Bild”-Medien: das unsägliche Treffen von Mesut Özil und dessen Nationalmannschaftskollegen Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ärger Nummer 2: die Szene nach dem Südkorea-Spiel:
Emotionen zeigte Özil bei der WM nur einmal: Als er nach dem Aus vorm Spielertunnel von einem “Fan” beleidigt wurde, musste er von Torwart-Trainer Andy Köpke zurückgehalten werden.
Köpke zu BILD: “Der Fan hat ihn beschimpft. Ich habe Mesut zurückgezogen und zu dem Fan gesagt, er soll den Schnabel halten.” Nach BILD-Info sollen ausländerfeindliche Beleidigungen gefallen sein.
Die bewusste Teilnahme an einem Treffen mit einem Autokraten auf der einen Seite, eine Beleidigung durch eine fremde Person auf der anderen — für die Mitarbeiter von “Bild” und Bild.de alles dieselbe kritikwürdige Soße, die sie Özil vorhalten:
Es begann mit Zoff und endete mit Zoff. Und dazwischen war sportlich leider nix los.
“sportlich leider nix los” ist dann auch eine ausgesprochen negative Auslegung dessen, was Mesut Özil beispielsweise gegen Südkorea auf dem Spielfeld gezeigt hat. Er hat sicher kein überragendes Spiel gemacht, aber laut Statistiken deutlich mehr als “nix”: mit 110 Ballberührungen die zweitmeisten im deutschen Team, mit 95 Pässen ebenfalls die zweitmeisten, darunter sieben sogenannte “Key Passes”, also solche, die direkt zu guten Chancen führen. Mesut Özil war, glaubt man den Zahlen, gegen Südkorea einer der Besten einer insgesamt schwachen Mannschaft.
Und dennoch suchten zahlreiche Redaktionen Fotos von Özil aus, um das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft zu bebildern: Die “Welt” zeigte, “wie schwach Deutschland wirklich war”, und wählte für den Artikel ein Foto von Özil. Bei der “FAZ” brachten sie die Schlagzeile “Der deutsche Untergang” und wählten ein Foto von Özil (was die Redaktion später änderte). “Bild” schrieb bei Instagram “Peinlicher Auftritt” und wählte dazu ein Foto von Özil. “Pro Sieben” forderte ausschließlich Mesut Özil per Twitter zum Rücktritt auf (wofür sich der Sender später entschuldigte). “11 Freunde”-Chefredakteur Philipp Köster hat das alles drüben bei “Übermedien” detailliert aufgeschrieben.
Mit der sportlichen Leistung allein lässt sich die Wucht der Kritik an Mesut Özil nicht erklären. Vielleicht spielt eine angestaute Wut darüber, dass er die deutsche Nationalhymne nicht mitsingt, eine Rolle. Vielleicht das generelle Misstrauen gegenüber, der Hass auf Türken. Auf jeden Fall immer noch das Foto mit Erdogan. Karim Benzema, französischer Fußballer mit algerischen Wurzeln und früher Stürmer in Frankreichs Nationalmannschaft, sagte mal: “Wenn ich ein Tor schieße, bin ich Franzose, aber wenn ich keins schieße oder wenn es Probleme gibt, dann bin ich Araber.”
Am Sonntag erschien in “Bild am Sonntag” und bei Bild.de (dort inzwischen gelöscht) ein Kommentar von Hatice Akyün:
Sie kritisiert völlig zurecht die ausländerfeindlichen Parolen von AfD-Politikern gegen Mesut Özil. Zur Rolle der Medien verliert sie hingegen kein Wort, leider auch nicht zur Kampagne von “Bild” und Bild.de, die für den “Rassismus gegen Özil” mindestens ein nützliches Klima geschaffen hat.
Bei Bild.de haben sie sich noch nie gut klingende und klickende Schlagzeilen von sowas Nebensächlichem wie Fakten kaputtmachen lassen. Auch in diesem Fall nicht:
Gemeint ist der südkoreanische Fußballer Heung-Min Son, der mit seiner Mannschaft heute bei der WM in Russland im letzten Gruppenspiel gegen Deutschland antritt. Son und seine Teamkollegen können noch ausscheiden, aber auch ins Achtelfinale einziehen.
In Südkorea gibt es einen verpflichtenden Armeedienst, den alle Männer vor ihrem 29. Lebensjahr absolviert haben müssen. Auch Profi-Sportler. Es sei denn, sie erreichen in ihrer Sportart etwas, das dem Land Ruhm und Ehre bringt. Eine gute Platzierung bei einer Fußball-Weltmeisterschaft etwa könnte einem Sportler, der seinen Dienst noch nicht geleistet hat, diesen ersparen.
Mit Blick auf den 25-jährigen Son, der bis jetzt noch nicht beim Militär war, schreibt Bild.de:
Am Mittwochnachmittag will der koreanische Hoffnungsträger ausgerechnet gegen Deutschland das WM-Aus […] abwenden. Doch nicht nur das: Dem Ex-Hamburger und Leverkusener droht bei einem vorzeitigen Ausscheiden sogar das Militär!
Achtelfinale oder Armee, Weiterkommen bei der WM oder Kasernenleben — diese Entweder-oder-Behauptung hält bei Bild.de nur ein paar Zeilen lang. Ein erstes Rückrudern schon nach wenigen Absätzen:
Aber: Wird Son wirklich für die Armee eingezogen?
Kaum vorstellbar, dass die stolze Asien-Republik sein größtes Aushängeschild […] tatsächlich zum Militär verdonnert. In Südkorea ist der Kumpel von DFB-Jungstar Julian Brandt (22) ein Top-Star, Marken-Magnet, Botschafter, Frauenheld. 2015, 2017 und 2018 wurde der deutschsprechende Profi sogar zu Asiens Fußballer des Jahres gewählt.
Ja, “kaum vorstellbar”. Für eine Bild.de-Schlagzeile aber reicht’s noch.
Am Ende seines Artikels schreibt der Autor dann, dass es gar nicht sicher sei, dass Heung-Min Son zum Militär muss, sollten er und sein Team in Russland nicht das Achtelfinale erreichen:
Wenn das nicht klappt, hat “Sonny”, wie er genannt wird, noch zwei weitere Chancen: bei den Asien-Spielen im August oder beim Asien-Pokal im Januar 2019.
Andere Medien behaupten ebenfalls, dass Son definitiv zum Militär müsse, sollte Südkorea heute ausscheiden. “Zeit Online” zum Beispiel:
Ganz so ausweglos ist die Situation für Heung-Min Son dann doch nicht.
Ein Kommentar eines Journalisten oder einer Journalistin, ob nun in der gedruckten Zeitung oder online, im Radio oder im Fernsehen, spiegelt immer die Meinung des Journalisten oder der Journalistin wider. Die im Kommentar geäußerten Ansichten lassen sich nicht automatisch auf eine Redaktion übertragen. Sowas lernen Kommunikationswissenschaftler bereits im ersten Semester an der Uni. Und trotzdem müssen wir es hier noch mal aufschreiben, weil die “Bild”-Zeitung heute diese Schlagzeile auf ihrer Titelseite hat:
Bei Bild.de war die Sache bereits gestern Abend gut sichtbar auf der Startseite platziert:
Grundlage für beide Artikel ist ein Kommentar des ARD-Korrespondenten Malte Pieper über Bundeskanzlerin Angela Merkel. Darin heißt es unter anderem:
Geschätzte Angela Merkel, nach fast 13 Jahren Kanzlerschaft gibt es auf europäischer Ebene für Sie, außer spürbarer Abneigung, nichts mehr zu gewinnen. Das haben alle Treffen der letzten Monate gezeigt. Helfen Sie deshalb mit, den scheinbar unabwendbaren Trend nach europäischer Spaltung statt Einigung endlich aufzuhalten! Räumen Sie das Kanzleramt für einen Nachfolger, dessen Name nicht so belastet ist, wie es der Ihre ist.
Das ist die Meinung von Malte Pieper, nicht die Meinung der “Tagesschau”. Es ist die Rücktrittsforderung von Malte Pieper, nicht die Rücktrittsforderung der “Tagesschau”.
Die “Bild”-Überschrift “Tagesschau rechnet mit Merkel ab” ist also schon mal irreführend. Und auch beim Texteinstieg von “Bild” und Bild.de wird es nicht besser:
“Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Rücktrittsforderung! Ta-ta!-Ta-ta-ta-taaaa!”
Ausgerechnet die öffentlich-rechtliche “Tagesschau” der ARD überraschte gestern — vor allem in Ton und Schärfe — mit einer Rücktrittsforderung an die Kanzlerin.
Das ist gleich in doppelter Hinsicht falsch. Erstens, weil die Rücktrittsforderung eben nicht vom “Ersten Deutschen Fernsehen” beziehungsweise von der “Tagesschau” kommt, sondern — wir schreiben es hier gern noch einmal — von Malte Pieper. Und zweitens ist Piepers Kommentar nie im Fernsehen gelaufen, sondern im Radio und als Text bei Tagesschau.de.
Etwas weiter hinten im “Bild”-Beitrag darf dann doch noch jemand von der “Tagesschau” erklären, dass es sich nicht um einen Kommentar der gesamten Redaktion handelt, sondern um eine Meinung einer Einzelperson:
Ist DAS eine Meinung eines Korrespondenten oder die Haltung der “Tagesschau”?
Auf BILD-Anfrage teilte Chefredakteur Kai Gniffke mit: “Journalistische Kommentare werden grundsätzlich als solche gekennzeichnet und geben immer nur die Meinung des bzw. der Kommentierenden wieder.”
Die “Bild”-Redaktion weiß also, dass es sich nicht um “die Haltung der ‘Tagesschau'” handelt (natürlich wusste sie das auch schon vor Gniffkes Statement). Und trotzdem knallt sie ihre Schlagzeilen auf den “Bild”-Titel und die Bild.de-Startseite. Bei Bild.de erfahren das alles übrigens nur Abonnenten — es handelt sich schließlich um einen “Bild plus”-Text.
“Bild”-Chef Julian Reichelt verbreitete bereits gestern am Vormittag bei Twitter die falsche Behauptung zur Rücktrittsforderung durch die “Tagesschau”:
Das ist ganz interessant: Reichelt twittert über einen Kommentar eines öffentlich-rechtlichen Journalisten, der sich mit einer Rücktrittsforderung an Angela Merkel wendet. Dazu keine Kritik durch den “Bild”-Chef, etwa wegen des belehrenden Tons. So weit, so okay. Vor nicht mal einer Woche twitterte Reichelt über Markus Grill, den Berliner Bürochef des Investigativressorts von NDR und WDR:
Für Julian Reichelt ist bei der Frage, wie sich ein “öffentlich-rechtlicher Kollege” äußern sollte, am Ende doch wohl nicht entscheidend, gegen wen dieser schießt?