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Julian Reichelt reist mit Snowden auf dem Holzweg Richtung Russland

Tut uns ja leid, aber wir müssen uns noch einmal mit Julian Reichelt befassen.

Diesmal geht’s wieder um die Flucht von Edward Snowden, die Julian Reichelt (wie wir neulich geschrieben haben) völlig anders darstellt als die meisten anderen. Nun denn: Gerade einmal 18 Minuten, nachdem wir unseren Blogeintrag über Edward Snowden, die “Sunday Times” und Julian Reichelts Twitter-Aussagen dazu veröffentlicht hatten, machte sich der Bild.de-Chef ans Werk:

Es folgten über 30 Tweets, in denen Reichelt so viel Unsinn behauptet, dass wir das nicht stehenlassen wollen. Also, der Reihe nach.

1) Im Bild.de-Artikel von vor anderthalb Wochen, auf den sich unsere ursprüngliche Kritik bezog, hatte gestanden:

Snowden war sich der Brisanz seiner Tat von Anfang an bewusst. Als er mit der Veröffentlichung der Geheim-Dokumente von Hongkong aus begann, bat er Russland um Asyl.

Wir erwiderten, dass ausgiebige Recherchen von NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” etwas anderes sagen: Snowden hat nicht von Hongkong aus um Asyl in Russland gebeten, sondern erst, als er im Transitbereich des Moskauer Flughafens feststeckte.

Für Julian Reichelt eine zu dünne Quellenlage:

Richtig. Die Recherchen von NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” stützen sich zu großen Teilen auf Edward Snowdens Aussagen, aber auch auf die seiner Begleiterin und WikiLeaks-Aktivistin Sarah Harrison. Und wir stützen uns auf diese Recherchen, an denen unserer Meinung nach nichts auszusetzen ist. (Dass wir es als FAKT dargestellt hätten, ist also bloß eine BEHAUPTUNG von Reichelt, um es mal in seinen Worten und seiner Schreibweise zu sagen.)

Man kann Snowden und Harrison glauben oder nicht. Jedenfalls zählen sie zu den Quellen, die am ehesten etwas zu Snowdens Asylgesuch sagen können. Für Julian Reichelt ist Snowden keine “vertrauensvolle Quelle”. Es steht also Aussage (Snowden/Harrison) gegen Aussage (Reichelt).

Reichelt hatte aber noch eine Anmerkung:

Im verlinkten Artikel des “Wall Street Journal” geht es um ein Interview des russischen Präsidenten Wladimir Putin, in dem er sagt, dass Snowden schon vor dem Russland-Flug Kontakt mit russischen Diplomaten aufgenommen habe:

Russian President Vladimir Putin has admitted that Edward Snowden contacted Russian diplomats in Hong Kong a few days before boarding a plane to Moscow but that no agreement was reached to shelter him and he decided to come to Russia on his own without warning.

Es soll in dem Text wohl auch, so verstehen wir Reichelts Tweet, um Snowdens Asylanfrage in Russland gehen. Explizit sagt Putin aber nirgends, dass Snowden so früh Asyl beantragte, wie Bild.de es behauptet hatte. Immerhin spricht er laut “Wall Street Journal” von “contacted” und “shelter” — nun gut, das mag man, wenn man will, als eine Art Asylabsage an Snowden interpretieren.

2) In Bezug auf die Entscheidung Putins zu Edward Snowdens Asylgesuch hatte Bild.de geschrieben:

Kreml-Chef Wladimir Putin zögerte nicht und stellte Snowden zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr aus, die dann noch einmal um 3 Jahre verlängert wurde — gültig also noch bis Sommer 2017.

Wir schrieben, dass Erkenntnisse von NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” zeigen, dass Putin anfangs durchaus gezögert hat. Erst nach zwei Monaten habe Russland Snowden Asyl erteilt.

Und erneut war für Julian Reichelt die Quelle das Problem:

Putins Aussage, dass Russland Snowden nicht direkt Asyl erteilte, kommt unter anderem auch in dem Artikel des “Wall Street Journal” vor, den Reichelt selbst verlinkt hat:

“If he wants to stay with us, please, he can stay with us, but only if he stops any activity that could destroy Russian-American relations. We are not an NGO, we have the interests of the state and we do not want to damage our relations with the U.S.,” he said. “He was told about it and he replied ‘I am a fighter for human rights and I urge you to fight with me. I said ‘No, we won’t fight, you are on your own.’ And he left.”

Reichelt kritisiert an dieser Stelle also Putin als Quelle, während er sich in Punkt 1) auf ihn stützt, um Snowden zu diskreditieren.

Doch auch davon abgesehen, stimmt seine Aussage nicht. Es gibt neben Putin und dem Kreml noch andere Quellen für diesen Aspekt. Da wären zum einen erneut Edward Snowden und Sarah Harrison, zum anderen die gesamte Weltöffentlichkeit, die beobachten konnte, dass die beiden mehrere Wochen im Transitbereich des Moskauer Flughafens feststeckten.

Natürlich kann man der Meinung sein, dass Snowden und Harrison in dieser Zeit freiwillig in einem fensterlosen Raum hausten, sich mit der Gemeinschaftsdusche auf dem Flur begnügten und gerne täglich bei Burger King aßen, obwohl Snowden schon längst Asyl in Russland erteilt bekommen hatte.

Also, ja, eine Frage hätten wir noch, Julian Reichelt: Klingt das logisch?

3) Beim zeitlichen Ablauf der Flucht von Edward Snowden hatte Bild.de einiges durcheinandergebracht. Zum Beispiel bei den Fragen, wann der Reisepass annulliert und wann der internationale Haftbefehl ausgestellt wurde:

Kreml-Chef Wladimir Putin zögerte nicht und stellte Snowden zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr aus, die dann noch einmal um 3 Jahre verlängert wurde — gültig also noch bis Sommer 2017. Die USA erklärten daraufhin Snowdens US-Pass für ungültig und stellten einen internationalen Haftbefehl aus.

In Hinblick auf Snowdens Pass schrieben wir, dass der Verbund aus NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ etwas anderes recherchierte: Die USA erklärten Snowdens Reisepass nicht erst nach der Erteilung des Asyls für ungültig, sondern schon früher. Deswegen konnte er von Moskau aus nicht weiterfliegen.

Julian Reichelts Reaktion auf unsere Aussage:

Reichelt meint offenbar den 9. Juni 2013, als “Ed” sich der Welt vorstellte.

Dass dessen Reisepass nicht direkt im Anschluss durch die US-Behörden annulliert wurde, schrieben Hans Leyendecker und John Goetz im Januar dieses Jahres in einem Artikel der “Süddeutsche Zeitung”:

Es geht um Stunden. Die Informanten an den Computern sagen, die Grenze sei für Snowden jetzt noch offen. Die amerikanischen Behörden haben den unglaublichen Fehler gemacht, seinen Pass nicht für ungültig zu erklären.

Und es bestätigte sich: Snowden konnte noch von Hongkong nach Moskau fliegen. Das dürfte mit einem annullierten Reisepass schwierig sein.

Den internationalen Haftbefehl betreffend, schrieben wir, dass zum Zeitpunkt von Snowdens Abflug in Hongkong bereits einer vorlag, dieser aber Fehler beinhaltete, wie Recherchen von NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” zeigten: Als zweiter Vorname des Gesuchten war dort fälschlicherweise James statt Joseph angegeben.

Das wollte Reichelt überhaupt nicht gelten lassen:

Für China mag das so sein. Snowden saß aber in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong. Dort besteht seit Jahren (1996 unterschrieben, 1998 in Kraft getreten) ein Auslieferungsabkommen mit den USA. Und so hätte Hongkong auch den US-Haftbefehl gegen Snowden vollstrecken können, wie unter anderem die BBC schreibt:

The Hong Kong government has promised to handle any extradition request from the US according to established law and policy.

Dass es dazu nicht kam, lag laut Hongkongs Behörden an Ungenauigkeiten im Haftbefehl der USA.

4) In einer Abrechnung mit all den Snowden-Anhängern hatte Reichelt getwittert:

Um einmal mit dem beliebtesten Mythos der Snowdenista aufzuräumen: #Snowden ist NICHT in Moskau “gestrandet”. Er hat SELBST den Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung bestimmt. Er hat SELBST bestimmt, wann er seine Identität preisgibt. Er hätte VORHER ungehindert in JEDES Land der Welt reisen können. In der Geschichte der Luftfahrt ist er der Erste, der von Hawaii über Hongkong und Moskau nach Südamerika reisen wollte. #Snowden ist FREIWILLIG in Moskau.

Wir schrieben darauf, dass Snowden bereits vor zwei Jahren erzählt hatte, dass er als NSA-Zulieferer nicht, wie Reichelt behauptet, “VORHER ungehindert in JEDES Land der Welt reisen” konnte: Auslandsaufenthalte habe er 30 Tage im Voraus anmelden müssen, es habe die Möglichkeit gegeben, dass ihm eine Reise verboten wird. Snowden kündigte eigenen Aussagen zufolge seinen Hongkong-Plan entgegen der NSA-Richtlinie nicht an, um keinen Staub aufzuwirbeln. (Und klar: Wenn ihn die Richtlinie nicht davon abgehalten hat, nach Hongkong zu fliegen, hätte sie ihn vermutlich auch nicht davon abgehalten, in jedes andere Land zu reisen; laut Snowden ging der Reiseplan zu diesem Zeitpunkt aber nicht über Hongkong hinaus.)

Reichelt blieb bei seinem Standpunkt:

Noch einmal: Hongkong ist nicht gleichzusetzen mit China. Zum Beispiel, wenn es ums Visum geht. Für eine höchstens 90-tägige Hongkong-Reise müssen US-Bürger kein Visum beantragen. Für eine China-Reise hingegen schon.

5) Bei der Frage, ob Edward Snowden ein Überläufer ist, hatte Julian Reichelt seine eindeutige Meinung getwittert:

Sich als Geheimdienstler in die Obhut einer fremden Regierung zu begeben, ist die Definition von Überläufer. Man kann der Meinung sein, dass Snowden ein ehrenwerter Überläufer ist. Aber ein Überläufer ist er ohne Zweifel.

Wir hielten dagegen, dass die allgemeine Definition von Überläufer voraussetzt, dass jemand vom einen zum anderen Geheimdienst wechselt. Snowden müsste als ehemaliger Mitarbeiter des US-Geheimdienstes also nachweislich mit dem russischen Geheimdienst kooperieren.

Um das zu belegen, suchte Reichelt einen Guardian-Artikel raus:

Der Text aus dem Guardian, auf den sich Reichelt bezieht, ist ein Auszug eines Buches über Edward Snowden. Dort heißt es zwar, dass Snowden vom Schutz und Wohlwollen des Kreml und des russischen Geheimdienstes abhängig sei und dass “all of Moscow” vermute, dass einige Leute, die sich nun um Snowden kümmern, dem Geheimdienst angehören; dass er kooperiert, steht dort allerdings nicht:

But, for better or worse, the 30-year-old American was now dependent on the Kremlin and its shadowy spy agencies for protection and patronage. According to the activists who met him at Sheremetyevo, Snowden had several new minders. Who were they? All of Moscow assumed they were undercover agents from the FSB.

Zugegeben, die Stelle lässt Raum für Spekulationen. Die Aussage des Autors, die unmittelbar vor diesem Absatz steht und die Julian Reichelt nicht markiert hat, passt aber überhaupt nicht in die Argumentation des Bild.de-Chefs:

It was now easier for critics to paint him not as a whistleblower and political refugee but as a 21st-century Kim Philby, the British defector who sold his country and its secrets to the Soviets. Other critics likened him to Bernon F Mitchell and William H Martin, two NSA analysts who defected in 1960 to the Soviet Union, and had a miserable time there for the rest of their lives. The analogies were unfair. Snowden was no traitor.

Der Guardian-Artikels beginnt übrigens mit diesen zwei Sätzen:

Edward Snowden’s prolonged stay in Russia was involuntary. He got stuck in Moscow’s Sheremetyevo International Airport when his efforts to transit to a South American country such as Ecuador, Bolivia or Venezuela failed.

Damit widerspricht die Quelle, auf die sich Julian Reichelt stützt, zudem seiner Grundthese, dass Snowden “FREIWILLIG nach Moskau gereist” und dort “NICHT” gestrandet sei (genauso wie der Artikel des “Wall Street Journal” — den Reichelt selbst verlinkt hat –, in dem Putin über Snowden als “transit passenger” spricht). Und auch eine Szene aus der Snowden-Doku “Citizenfour”, in der WikiLeaks-Gründer Julian Assange am Telefon sagt, dass Snowden am Moskauer Flughafen “trapped” sei, passt nicht zu Reichelts Argumentation:

Assange: “We managed to get him out of Hong Kong, but when he landed in the Moscow airport, the American government had canceled his passport. So formally he hasn’t entered into Russian territory, he is in the transit area of the airport and one of our people is accompanying him.

We are trying to arrange a private jet to take him from Moscow to Ecuador or perhaps maybe Venezuela or maybe Iceland, countries where he would be safe.”

In der ganzen Snowden-Sache gibt es zahlreiche Quellen, die sich widersprechen und die sicher auch interessengeleitet sind. Da passiert es schnell, dass man einer Fehlinformation aufsitzt. Eine Quelle ist aber mit größter Vorsicht zu behandeln: Julian Reichelt.

Sehen alle gleich aus (10)

Der chilenische Fußballnationalspieler Arturo Vidal ist für flotte Muster in seinen kurzen Haaren immer zu haben. Das wissen sicher auch die Fußballerfrisurenfans bei “Bild” und Bild.de.

Nun hat Vidal vor einigen Tagen betrunken einen Autounfall gebaut. Und soll ohne jegliches Haarmuster vor Gericht erschienen sein:



Doch keine Sorge: Vidal hat noch immer Sterne am Hinterkopf. Das Foto, das “Bild” und Bild.de verwendeten, zeigt nämlich gar nicht Arturo Vidal, sondern seinen Bruder Sandrino. Steht so auch in der Bildbeschreibung der Agentur:

Sandrino Vidal (R), brother of Chile’s national team player Arturo Vidal (not pictured)

Mit Dank an Manuel

Julian Reichelts Russland-Reisepläne für Edward Snowden

Am vergangenen Sonntag behauptete die britische “Sunday Times”, dass sowohl der russische als auch der chinesische Geheimdienst einen Großteil der rund 1,7 Millionen Datensätze entschlüsselt hätten, die Edward Snowden bei der NSA mitgehen ließ. Als Folge habe der britische Auslandsgeheimdienst MI6 Agenten abziehen müssen, weil deren Sicherheit nicht mehr garantiert sei. Klar, dass so ein Knaller auf die Titelseite kommt:

Der Artikel der “Sunday Times” stützt sich ausschließlich auf anonyme Regierungsquellen, bietet keinerlei Belege und beinhaltet faktische Fehler. Der Snowden-Vertraute Glenn Greenwald hat schon ausführlich über das Stück “journalism at its worst” geschrieben. Sowohl beim schottischen Journalisten Ryan Gallagher als auch beim “Guardian” hinterließ der Artikel viele Fragen. Und “Spiegel Online” wunderte sich ebenfalls über den Text “voller Ungereimtheiten”. Wie dünn die Recherche bei der “Sunday Times” offenbar war, beweist Tom Harper, einer der Autoren, eindrucksvoll in einem CNN-Interview.

Für einen aber war die zweifelhafte “Sunday Times”-Geschichte ein Geschenk: Bild.de-Chef Julian Reichelt.

Reichelt hält nicht besonders viel von Edward Snowden. Er stellt den Whistleblower als Wegbereiter für die Charlie-Hebdo-Attentäter dar und bezeichnet ihn als “Helden des globalen Terrorismus”.

Nicht nur, dass Bild.de die angeblichen Enthüllungen der “Sunday Times” übernahm, ohne sie in Frage zu stellen:

Der anonyme Verfasser nutzte die Gelegenheit auch, um Snowdens Nähe zu Putin zu belegen:

Snowden war sich der Brisanz seiner Tat von Anfang an bewusst. Als er mit der Veröffentlichung der Geheim-Dokumente von Hongkong aus begann, bat er Russland um Asyl. Kreml-Chef Wladimir Putin zögerte nicht und stellte Snowden zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr aus, die dann noch einmal um 3 Jahre verlängert wurde – gültig also noch bis Sommer 2017. Die USA erklärten daraufhin Snowdens US-Pass für ungültig und stellten einen internationalen Haftbefehl aus. Seither lebt er in Russland – er flog von Hongkong über Kuba nach Moskau – weitgehend in der Isolation.

Klingt nach einer klaren Sache: Snowden wollte Asyl, Putin sagte sofort ja.

Das Problem dabei: Die Bild.de-Darstellung ist nicht nur ein- oder zweifach falsch und auch nicht drei- oder vierfach.

Der Rechercheverbund aus NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” hatte bereits im Januar Edward Snowdens Fluchtroute genauer nachgezeichnet. Demnach …

… bat Snowden nicht von Hongkong aus um Asyl in Russland, sondern erst, als er im Transitbereich des Moskauer Flughafens feststeckte.

… zögerte Wladimir Putin anfangs durchaus und ließ Snowden nicht ins Land. Erst nach zwei Monaten erteilte Russland ihm Asyl. In der Zwischenzeit hatte Snowden bei 21 Staaten ein Asylgesuch eingereicht, alle lehnten ab oder antworteten nicht.

… erklärten die USA Snowdens Reisepass schon früher für ungültig als von Bild.de behauptet. Der annullierte Reisepass war der Grund, warum Snowden von Moskau aus nicht weiter nach Havanna fliegen konnte.

… wurde auch der internationale Haftbefehl schon früher ausgestellt als Bild.de angibt. Ein Versuch der US-Behörden, Snowden schon in Hongkong zu stoppen, scheiterte nur daran, dass in einem Festnahmeantrag als zweiter Vorname des Gesuchten fälschlicherweise James statt Joseph angegeben war.

… flog Snowden nicht von “Hongkong über Kuba nach Moskau”, sondern von Hongkong nach Moskau. Von dort aus wollte er weiter nach Kuba.

Auch Bild.de-Chef Julian Reichelt machte sich Gedanken zur Reiseroute des Whistleblowers:


(Zur besseren Lesbarkeit zusammenmontiert)

Bereits vor zwei Jahren hat Edward Snowden erzählt, dass er als NSA-Zulieferer nicht, wie Reichelt behauptet, “VORHER ungehindert in JEDES Land der Welt reisen” konnte: Auslandsaufenthalte habe er 30 Tage im Voraus anmelden müssen, es habe die Möglichkeit gegeben, dass ihm eine Reise verboten wird. Daher habe Snowden seinen Hongkong-Plan nicht angekündigt.

Snowden scheint auch nicht, wie Reichelt es darstellt, von Anfang an überlegt zu haben, von “Hawaii über Hongkong und Moskau nach Südamerika” zu reisen. Vielmehr wählte er nach eigener Aussage erst einmal Hongkong, weil er dort weniger Zugriffsmöglichkeiten der USA vermutete. Nach Recherchen von NDR, WDR und “SZ” ist der Plan, über Moskau nach Kuba zu fliehen, erst entstanden, als Mitarbeiter von WikiLeaks in Hongkong zu Snowden stießen.

Und “FREIWILLIG” in Moskau? Nun ja, wenn die Definition eines freiwilligen Aufenthalts so aussieht, dass man eigentlich schon ins nächste Flugzeug steigen will und nicht darf, weil der Reisepass annulliert wurde, und man dadurch nicht mehr aus Moskau wegkommt, dann hat Julian Reichelt recht. Für seine Argumentation schmiedete er sogar ganz neue Allianzen mit RT-Deutsch-Mitarbeitern.

Die einzelnen Zwischenhalte Snowdens und die Frage, wann er wen und wo um Asyl gebeten hat, sind deswegen interessant, weil seine Kritiker momentan versuchen, ihn über diese Details zum Überläufer zu degradieren. Allen voran Reichelt:

So sieht die allgemeine Definition von Überläufer sicher nicht aus. Denn die setzt voraus, dass jemand vom einen zum anderen Geheimdienst wechselt. Snowden müsste als ehemaliger Mitarbeiter des US-Geheimdienstes also nachweislich mit dem russischen Geheimdienst kooperieren. Das mag Julian Reichelt vermuten, Beweise dafür liefert er aber keine.

Stattdessen ließen er und Bild.de am Montag einen Gastautoren Edward Snowdens “schöne Geschichte” auseinandernehmen:

Über John Schindler verrät Bild.de am Ende des Artikels:

John R. Schindler ist ein Sicherheitsberater und ehemaliger Beamter der NSA-Spionageabwehr.

Ein ehemaliger NSA-Mann also, der über den vermutlich meist gehassten Mann innerhalb der NSA schreibt. Und so bezeichnet Schindler etwa Snowdens Flucht als einen “Umzug nach Moskau”, bringt ihn mit einer “beispiellosen Hack-Attacke auf Datenbanken der US-Regierung” in Zusammenhang und behauptet, dass “Peking” Snowden “auf seinem Weg nach Moskau Asyl gewährte”.

Das war selbst Bild.de-Lesern zu doof. Nur einer war über den Gastbeitrag richtig “happy”:

Mit Dank an Jonas N., Martin P., Frederik S. und Daniel B.!

“FAZ” verkalkuliert sich beim unkalkulierbaren Griechen-Risiko

Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” schlägt in ihrer heutigen Ausgabe Alarm:

Eines der Probleme: Das durchschnittliche Renteneinstiegsalter der Griechen soll so verdammt niedrig sein:

Die griechische Regierung von Alexis Tsipras spricht in ihrer Vorlage für die Reformpartner und Gläubiger Griechenlands davon, dass man für das kommende Jahr als Zielgröße ein durchschnittliches Renteneintrittsalter von 56,3 Jahren ansteuern wolle

Okay, dann noch einmal extra für die “FAZ”: Das stimmt nicht.

Die ausführliche Erklärung haben wir gestern hier aufgeschrieben. Zusammengefasst: Die 56,3 Jahre, die die “FAZ” als geplantes “durchschnittliches Renteneintrittsalter” Griechenlands verkauft, beziehen sich nicht auf alle Griechen, sondern nur auf Angestellte im öffentlichen Dienst. Das steht so auch in einer Tabelle (Rententräger “PS Δημóσιο”) der “Vorlage für die Reformpartner” (PDF), auf die sich die “FAZ” beruft. Hätte die Redaktion vier Spalten weiter rechts geguckt, hätte sie gesehen, dass das gleiche Papier das für 2016 geplante Renteneinstiegsalter für Angestellte in der griechischen Privatwirtschaft (Rententräger “IKA-ETAM”) mit 60,6 Jahren angibt.

Schon vor drei Tagen hatte die “FAZ” den Quark mit den 56,3 Jahren verbreitet:

In der heutigen Ausgabe setzt die “FAZ” aber noch einen drauf:

In Deutschland liegt der durchschnittliche Rentenbeginn derzeit bei 64 Jahren.

Auch das stimmt nicht. Eine Statistik der Deutschen Rentenversicherung (PDF) sagt zwar, dass das durchschnittliche Zugangsalter bei Renten “wegen Alters” 64,1 Jahre betrage. Rechnet man jedoch all die Fälle hinzu, die “wegen verminderter Erwebsfähigkeit” früher in Rente gehen (durchschnittlich mit 51 Jahren), sinkt der Wert auf 61,3 Jahre.

Die “FAZ” baut also zwei Schnitzer — zufälligerweise genau die, die auch “Bild” gemacht hat. Und wer klammert sich wiederum an die “FAZ”, um seinen eigenen Mist zu rechtfertigen? Na klar:

Dirk Hoerens verrenkte Rentenrechnung

Dirk Hoeren ist bei der “Bild”-Zeitung der Mann für die Zahlen. Wenn die Redaktion mal wieder eine Statistik so verbogen haben will, dass sie damit Stimmung gegen Hartz-IV-Empfänger/Rumänen und Bulgaren/Griechen/ARD und ZDF machen kann, setzen sie ihren Europa-Chefkorrespondenten an die Sache. Heute hat Hoeren mal wieder die Griechen ins Visier genommen:

Okay, dann schauen wir uns das mal an.

Hoeren behauptet, schon jetzt würden …

rund 17 % der Wirtschaftsleistung […] in Griechenland allein für die Altersgelder aufgewendet — zweithöchster EU-Wert (hinter Italien), errechnete der IWF. Das sind 42 Milliarden Euro.

Stimmt. Doch die 17 Prozent sagen nichts über die angeblich unbezahlbaren griechischen Renten aus. Wenn ich im Monat 300 Euro verdiene und davon 90 Prozent für die Miete ausgebe, bedeutet das nicht, dass die Wohnung überteuert ist, sondern mein Einkommen recht niedrig. Soll heißen: Der relative Anteil der Rentenzahlungen ist in Griechenland auch deswegen so hoch, weil er sich an einer krisengebeutelten Wirtschaftsleistung bemisst; und nicht nur, weil der Staat eine Luxusrente nach der anderen spendiert.

Daneben unterschlägt Dirk Hoeren einen noch wichtigeren Aspekt: Die hohen Rentenkosten entstehen in Griechenland auch, weil es dort mehr alte Menschen als anderswo gibt. 20,5 Prozent der Griechen sind 65 Jahre und älter — der dritthöchste Wert in der Eurozone.

Weiter schreibt Hoeren:

Die Durchschnittsrente liegt in Griechenland bei 960 Euro, in Deutschland bei 792 Euro (FAZ).

Die Angabe zur deutschen Durchschnittsrente dürfte in etwa stimmen: Laut Deutscher Rentenversicherung lag sie Ende 2013 bei 682 Euro in Westdeutschland und 801 Euro in Ostdeutschland (PDF).

Bei der griechischen Durchschnittsrente ist es hingegen deutlich komplizierter, an belastbare Zahlen zu kommen, was vor allem am aufgeblähten System aus 133 Pensionsträgern liegt. Hoeren bezieht sich bei seinen 960 Euro auf einen Artikel der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, der sich wiederum auf einen Artikel aus der “Welt” bezieht, der sich auf Angaben aus “Verhandlungskreisen in Brüssel” bezieht. Zwei Tage, nachdem Hoerens Kronzeugentext in der “FAZ” erschienen ist, musste die Redaktion enorm zurückrudern:

Es gibt keine aktuellen Berichte der EU-Kommission oder des Internationalen Währungsfonds über das griechischen [sic] Rentensystem und die aktuelle Höhe der Rentenzahlungen. Dennoch kursieren in der deutschen Debatte Zahlen über die Renten in Griechenland, die Vorurteile über „Luxusrenten“ zu bestätigen scheinen, aber die griechische Wirklichkeit nicht wirklich abbilden.

Und diese Vorurteile befeuert Dirk Hoeren selbst zweieinhalb Monate nach der “FAZ”-Klarstellung zu den 960 Euro fröhlich weiter.

Deutlich andere Zahlen zur durchschnittlichen griechischen Rente nennt aktuell die “Financial Times”: Sie spricht von 700 Euro, dazu gebe es eine freiwillige Zusatzrente, die durchschnittlich 170 Euro pro Monat betragen soll. Rund 45 Prozent der griechischen Renter sollen weniger als 665 Euro monatlich bekommen und somit unter der Armutsgrenze liegen. Auch die Zahlen der “Financial Times” sind natürlich mit Vorsicht zu betrachten.

Der nächste Punkt, den Dirk Hoeren bei der “Griechen-Rente” anprangert:

Etwa zwei Drittel der griechischen Senioren bekommen zwei Renten gleichzeitig, in Deutschland sind es nur knapp 20 % (z. B. Witwenrenten).

Die damit angedeutete — vermeintliche — Ungerechtigkeit ergibt sich unter anderem aus dem bereits erwähnten 133-Pensionsträger-System. Wenn Griechen durch verschiedene Tätigkeiten mehrere Rentenansprüche erworben haben, die von unterschiedlichen Trägern verwaltet werden, werden ihnen auch mehrere Renten gleichzeitig ausgezahlt. Gleiches gilt, wenn sie für freiwillige Zusatzrenten eingezahlt haben und diese nun bekommen oder ihnen Witwenrenten zustehen.

Hoeren poltert weiter:

Das griechische Rentenniveau liegt bei 63% des Bruttolohns, bei uns sind es 48%.

Hierbei verschweigt er, wie sich in Griechenland in der Regel das Einkommen zusammensetzt. Einen großen Teil bilden nämlich Zuschläge, im öffentlichen Dienst mitunter sogar den größeren. Die Rente bemisst sich aber am Grundgehalt. Deren Anteil ist dadurch scheinbar hoch; bezogen auf das gesamte Gehalt relativiert sich das aber wieder.

Den krönenden Abschluss seines gesammelten Unfugs hat sich Dirk Hoeren aber fürs Ende seines Artikels aufgehoben:

Wegen der vielen Frühpensionen beträgt das tatsächliche Durchschnitts-Rentenalter in Griechenland 56,3 Jahre. Deutsche Rentner gingen vergangenes Jahr im Schnitt mit 64 Jahren aufs Altenteil.

Eine Quellenangabe für die 56,3 Jahre gibt’s im “Bild”-Text nicht. Auf Nachfrage reagierte Hoeren heute so:

Die Tabelle, die er seinem Tweet angehängt hat, stammt aus einem aktuellen Reformvorschlag der griechischen Regierung (PDF). In der linken Hälfte (“PS Δημóσιο”) gibt sie an, dass sie für das Jahr 2016 im öffentlichen Dienst ein durchschnittliches Renteneinstiegsalter von 56,3 Jahren anpeilt.

Also: das angepeilte Renteneinstiegsalter für den öffentlichen Dienst. Dirk Hoeren macht daraus das aktuelle Renteneinstiegsalter aller Griechen.

Dass der Wert so niedrig ist, weil er beispielsweise Soldaten und Feuerwehrmänner einrechnet, die regelmäßig früher mit ihrem Dienst aufhören, und weil er die Frühverrentung Tausender Staatsdiener im Zuge der Sparauflagen beinhaltet, interessiert Dirk Hoeren nicht. Ebenso wenig, dass vier Spalten weiter rechts das für 2016 anvisierte Renteneinstiegsalter bei der größten Rentenversicherung für Angestellte in der Privatwirtschaft mit 60,6 Jahren angegeben wird. Im Gegenteil: Er packt die knackigen 56 Jahre in die Dachzeile seines Artikels:

Da es noch einige weitere griechische Versicherungsträger gibt, handelt es sich aber auch bei den 60,6 Jahren nicht um das durchschnittliche Renteneintrittsalter aller Griechen. Das gab die OECD 2012 (Excel-Tabelle) mit 61,9 Jahren bei Männern und 60,3 Jahren bei Frauen an. Nun liegt bei Dirk Hoerens Altersangaben aber nicht nur das “Durchschnitts-Rentenalter in Griechenland” (er meint das Renteneintrittsalter) völlig daneben, sondern auch das in Deutschland. Die 64 Jahre hat er nach eigener Angabe von der “Deutschen Rentenversicherung”:

In der Statistik “Rentenversicherung in Zahlen 2014” (PDF) findet man tatsächlich ein “Rentenzugangsalter” von 64,1 Jahren. Dieser Wert bezieht sich allerdings nur auf die Personen, die wegen ihres Alters in Rente gegangen sind. Rechnet man diejenigen hinzu, die beispielsweise aufgrund einer Krankheit früher ihre Arbeit aufgeben musste, ergibt sich ein Renteneinrittsalter von 61,3 Jahren. Diese Angabe deckt sich in etwa mit der der OECD von 2012 (Männer: 62,1 Jahre, Frauen: 61,6, Jahre).

Wenn man es genau betrachtet, ist der Unterschied zwischen dem griechischen und dem deutschen Renteneintrittsalter also gar nicht mehr so groß. Wenn man es genau betrachtet, ist es aber auch viel schwieriger, den Hass gegen die Griechen zu schüren:

Mit Dank an Michalis P.!

Verwirung bei den Hauptstadtjournalisten

Wenn die Autoren von Bild.de vom kollektiven “wir” sprechen, meinen sie meist nicht nur sich und ihren Sitznachbarn in der Redaktion, sondern eher ganz Deutschland oder im Zweifel gleich die ganze Menschheit.

Bei der heutigen Ausgabe der täglich traurigen “Zehn um zehn”-Liste dürfte das “wir” hingegen nur einen begrenzten Personenkreis umfassen:

Im zehnteiligen Quiz geht’s schon bei der ersten Frage gut los:

Nun ja, ganz so eindeutig ist es nicht. Bern ist zwar “Bundesstadt”, de jure gibt es aber keine schweizerische Hauptstadt.*

Nächste Frage:

Die Stadt Sidney gibt es zwar einmal in Kanada und mehrmals in den USA; in Australien gibt es aber nur die Stadt Sydney, die fälschlicherweise oft anstelle von Canberra als Hauptstadt genannt wird (immerhin diesen Bock hat Bild.de nicht geschossen).

Zwei Fragen weiter will Bild.de folgendes wissen:

Pretoria ist tatsächlich Südafrikas Hauptstadt. Aber nur eine von dreien: Die Regierung sitzt in Pretoria, das Parlament in Kapstadt und das Oberste Berufungsgericht in Bloemfontein.

Weiter:

“Neu Dehli” wird eigentlich “Neu-Delhi” geschrieben, aber gut. Vollends verstrickt sich die Redaktion im Hauptstadt-Wirrwarr bei Frage neun. Da macht sie das Emirat Schardscha (auf Englisch: “Sharjah”, auf Bild.de: “Scharjah”) zur Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate:

Richtig wäre Abu Dhabi.

Einige Bild.de-Leser haben die Schnitzer bereits bemerkt und in den Kommentaren bemängelt. Das “wir” bezieht sich in diesem Fall also tatsächlich nur auf die, die es geschrieben haben.

Mit Dank an Marvin!

*Korrektur, 18.15 Uhr: Statt “de jure” hatten wir zuerst “de facto” geschrieben. Sorry!

“Bild” schützt Guttenberg vor Lesermeinung

Der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg darf heute in der “Bild”-Zeitung (und seit gestern auf Bild.de) mal wieder zur Nation sprechen:

Guttenberg findet, dass das “trotzige Kind” Wladimir Putin mit seinen “lauten Rülpsern” nichts auf Schloss Elmau verloren habe: Es sei richtig …

unser freiheitlich demokratisches Wertesystem nicht zu verschachern. Genau das würde im Falle einer Nachladung Putins geschehen.

Dieser würde kaum demütig auftreten, sondern sich in seinem zynischem Handeln noch bestätigt sehen. Es wäre ein fatales Signal an all jene, die in unseren Werten ihr Feindbild sehen.

Die Aufmerksamkeit nutzt Guttenberg, um gleich auch noch gegen “meist nicht so gute Gutmenschen” auszuteilen, die gegen das G7-Treffen protestieren. Seine Worte wirken aber vor allem wie eine späte Abrechnung mit dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin, der Guttenberg in der Plagiatsaffäre einst “Hybris” und “Hochstaplerei” vorwarf:

Tausende Demonstranten in München und Garmisch. Viele meinen es gut und wissen es nicht besser. Manche aber sehr wohl.

Bestes Beispiel inmitten der Protestierenden: ein breit grinsender Grünen-Politiker Jürgen Trittin. Ja, jener, der vor einigen Jahren noch selbst G7-Gipfel kritiklos mitorganisierte.

Sicher, in unserem Land gibt es das Recht auf Meinungsänderungsfreiheit. Gottlob. Es gibt aber wohl kaum einen Politiker, der davon so schamlos und lediglich wahltaktisch Gebrauch macht wie Trittin. Eigentlich sollte es diese Form der Verlogenheit sein, die die Menschen auf die Straße treibt.

Karl-Theodor zu Guttenberg ist für Bild.de — noch immer“Deutschlands populärster Politiker”. Und wenn so einer “exklusiv” seine Meinung aufschreibt, müssten die Herzen der Leser doch höher schlagen.

Die Rechnung ging aber nicht so ganz auf




















Nach mehr als 300 Kommentaren, von denen ein Großteil Kritik an Guttenberg enthielt, hatte die Redaktion genug: Der Artikel wurde abgeschaltet und neu eingestellt, dieses Mal aber ohne Kommentar-Funktion.

Wenn in der Kommentarspalte auf Bild.de rassistisch gehetzt wird, dauert es eine halbe Ewigkeit, bis mal jemand einschreitet. Doch wenn die Leserschaft in vergleichsweise harmloser Wortwahl ihre negative Meinung gegen einen “Bild”-Liebling kundtut, geht es ratzfatz.

Mit Dank an “Deichkind”!

Hitlers Cognac und die falschen Flaschen von der “Bild”-Zeitung

Die Leute von Bild.de wollen, dass ihre Leser für manche Artikel zahlen, “Bild+” nennen sie dieses Abo-Modell. Klar, dass die Redaktion da schon was Besonderes bieten muss. Zum Beispiel solche Service-Artikel:

Die Tipps für die Bilderklau-Suche sollte sich auch mal François aus dem Cognac-Forum anschauen. Der hatte vor zweieinhalb Jahren nämlich in Paris ein paar alte Flaschen Schnaps ausfindig machen können und diesen dollen Fund stolz seinen Sammler-Kollegen im Internet präsentiert. Und wo findet man François’ Cognac-Fotos seit heute ohne irgendeine Quellenangabe wieder? Logo:

Nach Hitlers Badewanne, Hitlers Pferden und Eva Brauns Schlüpfer jetzt also der Cognac-Keller.

Die Entdeckerstory läuft groß bei Bild.de

… etwas kleiner in der “Bild”-Bundesausgabe …

… und riesengroß in der Dresdenausgabe:

Und jedes Mal dabei: die Flaschen von François, die rein gar nichts mit Hitlers angeblichem Cognac-Keller zu tun haben.

Autor der Geschichte ist “Bild”-Redakteur Jürgen Helfricht. Genau, DER Jürgen Helfricht: Erfinder des Katzenbenzins, kritischer Beobachter der “LAUSITZ-WÖLFE”, kritischer Beobachter aller anderen Wölfe, Enthüller der seit Jahrzehnten bekannten “Wahrheit über den Dresdner Feuerstum”, Rechtehändler des Sandmanns und Weinkenner.

Logisch, dass nur dieser “Bild”-Tausendsassa Adolf Hitlers geheimen Cognac-Keller entdecken kann, und zwar in der Nähe des sächsischen Wasserschlosses Moritzburg:

Während Deutschland hungerte, versteckte Adolf Hitler (†56) hier Ende 1944 seine Delikatessen und Unmengen Cognac…

Neben dem Alkohol habe Hitler auch noch “hunderte Kisten” mit “Käse, Leibnitz-Keksen, Butter, Salamiwurst, Kaffee, Schokolade, Zigaretten” dorthin geschafft, schreibt Helfricht.

Nun soll Adolf Hitler seit seiner Jugend Nichtraucher gewesen sein und keinen Alkohol getrunken haben, später auch keinen Kaffee mehr und seit 1932 vegetarisch gelebt haben. Doch für Jürgen Helfricht und “Ortschronist” Silvio Stelzer ist das kein Grund, an ihrer Entdeckung zu zweifeln.

Von Hobby-Historiker Stelzer kam der entscheidende Tipp zu Hitlers geheimer Lagerstätte. Ihm gehört der Fundort, an dem er zufällig ein Restaurant betreibt. Helfricht widmete dem Gastronom erst vor sechs Wochen einen größeren Artikel.

Gemeinsam erkundete das Duo jetzt die Kellerräume. Der einzige Hinweis darauf, dass die angeblich mit Hitler zu tun haben, ist dieser eine Satz:

Der Ortschronist fand die Sensation kürzlich in den Aufzeichnungen des letzten Schlossbewohners Prinz Ernst Heinrich von Sachsen (1896-1971).

Was genau in diesen “Aufzeichnungen” stehen soll, verrät Helfricht nicht, er geht mit keinem weiteren Wort auf den vermeintlichen Beweis ein. Blöderweise haben Helfricht und Stelzer — der das Kellergewölbe mit einer Taschenlampe betritt und auf dem nächsten Foto plötzlich einen Kerzenständer in der Hand hält — nicht einmal Belege dafür, dass in Moritzburg all die Fressalien mal zu finden waren.

Stelzer: „Der Sachsens-Prinz [sic] erhielt für das Verstecken der Kisten ein Führerpaket mit Delikatessen. Von all den Lebens- und Genussmitteln blieb nichts übrig. Nach dem 8. Mai 1945 plünderten russische Truppen alles.“

Und genau deswegen brauchte Jürgen Helfricht die Fotos von François‘ verstaubten Cognac-Flaschen, die er und “Bild” (ohne Quellenangabe) so präsentieren, als stammten sie aus Hitlers Sammlung. Dann sieht es zumindest auf den ersten Blick so aus, als könnte an dieser Geschichte tatsächlich was dran sein.

Mit Dank an Philipp!

Du hast den Farbbeutel vergessen

Da ging es aber mächtig drunter und drüber, als Frauke Petry, die Co-Vorsitzende der “Alternative für Deutschland” (AfD), am vergangenen Mittwoch in Göttingen Opfer eines Angriffs wurde. Also nicht nur im Restaurant “Ali Baba”, wo Petry mit einem Journalisten saß, sondern auch in den Medien.

In einer ersten Meldung, die die dpa am Mittwochabend sowohl über den Basisdienst als auch über den Landesdienst Niedersachsen rausjagte, stützte sich die Agentur in weiten Teilen auf die Aussagen eines AfD-Sprechers:

Die Co-Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, ist in einem Lokal in Göttingen von drei Vermummten attackiert worden. Diese warfen nach Angaben von Parteisprecher Christian Lüth am Mittwoch den Tisch um, an dem Petry mit einem Journalisten saß, so dass sie zu Boden ging. Anschließend hätten die Angreifer die rechtskonservative Politikerin mit Beuteln mit Fruchtsaft beworfen.

Dem Sprecher zufolge war vor der Attacke eine junge Frau an Petry herangetreten und hatte gefragt: “Sind Sie Frauke Petry?” Als diese die Frage bejahte, soll die Frau sie beschimpft haben und dann verschwunden sein. Kurz darauf stürmten die Vermummten in das Lokal. Sie riefen nach Angaben des Sprechers “Nazis raus!”

Die Darstellung, die die dpa an die Redaktionen im ganzen Land schickte, deckt sich stark mit der, die Frauke Petry knapp anderthalb Stunden zuvor auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte hatte:

Fruchtsaft? Farbbeutel? Da kamen nicht nur die AfD-Leute durcheinander, sondern auch die nach Aktualität hetzenden Journalisten. “Focus online” blieb bei der dpa-Variante und sprach von “Fruchtsaftbeuteln”, die “Augsburger Allgemeine” entschied sich in ihrer Überschrift hingegen für eine “Farbbeutel-Attacke”. sueddeutsche.de ließ die Angreifer Fruchtsaft aus Flaschen spritzen, laut stern.de sollen sie Petry mit Getränken beworfen haben.

Dutzende weitere Medien berichteten über den Vorfall in Göttingen. So gut wie alle von ihnen übernahmen (von der dpa) Frauke Petrys Polterei, dass es sich bei dem Angriff um einen niederträchtigen Versuch handele, “die Meinungsfreiheit mit Gewalt einzuschränken”; und dass die Tat zeige, dass linksextreme Gewalt von den Altparteien immer noch sträflich verharmlost werde.

Später am Mittwochabend und nach ersten Befragungen im Restaurant “Ali Baba” veröffentlichte die Polzeiinspektion Göttingen eine Pressemitteilung, in der sie den Fruchsaft-Farbbeutel-Angriff mit keinem Wort erwähnte. Und am Donnerstag folgte eine zweite Pressemitteilung, die den AfD-Schilderungen sogar deutlich widersprach:

Aktuellen Erkenntnissen zufolge betraten im Anschluss an eine junge Frau gegen 16.00 Uhr vermutlich fünf bis sechs weitere Personen das Cafe. Es kam zu einem Wortgefecht, bei dem der Tisch, an dem Frau Petry und der Journalist saßen, aus bislang noch ungeklärten Gründen plötzlich kippelte, aber nach derzeitigem Stand nicht umstürzte. Dabei fielen die auf dem Tisch stehenden Gläser, darunter eines mit Fruchtsaft, und ein gläserner Kerzenhalter auf den Boden. […]

Hinweise darauf, dass es in dem Lokal zu Würfen von Farb- oder mit Fruchtsaft gefüllten Beuteln auf die Politikerin Petry gekommen ist, haben sich bei den aktuellen Ermittlungen nicht ergeben. Ebenso ist es nach derzeitigem Stand auch nicht zu Bedrohungen oder körperlichen Über-bzw. Angriffen auf die Parteivorsitzende oder ihren Gesprächspartner gekommen. Wegen der ihr gegenüber getätigten Äußerungen stellte Frau Petry am Mittwochabend Strafantrag wegen Beleidigung gegen Unbekannt.

Also kein umgekippter Tisch. Keine zu Boden gestürzte Frauke Petry. Und keine mit was auch immer gefüllten Beutel, die durchs Lokal flogen.

Das hatte inzwischen auch die dpa getickert, allerdings nicht mehr über den großen Basisdienst, sondern nur noch über den kleineren Landesdienst Niedersachsen:

Etwa ein halbes Dutzend Unbekannte, die die Polizei der linksautonomen Szene zurechnet, hatten Petry am Mittwochnachmittag in einem Lokal in der Innenstadt beschimpft. Außerdem hätten sie an dem Tisch gerüttelt, an dem die rechtskonservative Politikerin mit einem Journalisten saß, sagte die Sprecherin. Dabei sei ein Glas mit Saft umgekippt und ein gläserner Kerzenleuchter zu Boden gestürzt.

Als diese Meldung die Redaktionen erreichte, war die Legende vom Fruchtsaftbeutelwurf längst in der Welt. Dabei war relativ früh klar, dass es zumindest Zweifel an der AfD-Erzählung gibt: Das “Göttinger Tageblatt” zitierte bereits am Mittwoch eine Mitarbeiterin des Restaurants, die die Situation deutlich anders als Frauke Petry wahrgenommen hatte. Das scherte zu dem Zeitpunkt aber offenbar weder die dpa noch all die Medien, die die Meldung — und damit das Märchen des AfD-Sprechers — reihenweise übernahmen.

Nun ist das nicht der erste Fall, bei dem die AfD (Slogan: “Mut zur Wahrheit!”) eine Situation deutlich überspitzt darstellt, es sich in der Opferrolle gemütlich einrichtet und anschließend zuschauen kann, wie Medien die Partei-Sage unters Volk bringen. Als der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke im August 2013 bei einer Wahlkampfveranstaltung auf der Bühne geschubst wurde, sprachen sowohl die Partei als auch zahlreiche Medien schnell von einem “Messer-Angriff” und “linken Chaoten”. Lucke nutzte damals die mediale Aufmerksamkeit — wie vergangene Woche Frauke Petry –, um gegen “Linksextreme” zu wettern.

Im selben Monat hatte Lennard Rudolph, AfD-Mitglied aus Göttingen, behauptet, dass die Wände seines Wohnhauses mit Benzin übergossen wurden. Die “Welt” kaufte ihm die Geschichte vom vereitelten Brandanschlag damals ab, während die Göttinger Polizei sich über Rudolphs Aussagen wunderte.

Und wir wundern uns, dass Agenturen und Zeitungen den Aussagen der AfD immer noch blind vertrauen.

Siehe auch: The European: Die Petry und ihr Saftladen

Mit Dank an Benjamin L. und Fionn P.!

Nachtrag, 4. Juni: Der Journalist, mit dem Frauke Petry im Göttinger Restaurant am Tisch saß, ist Jens Schneider von der “Süddeutschen Zeitung”. Und der hat in einem Artikel (Paywall) die Szene so aufgeschrieben:

An diesem Nachmittag in Göttingen will sie [Petry] sich gern weiter in Erinnerungen bewegen. Sie sucht das Pfannkuchenhaus. Als das nicht zu finden ist, wählt sie fürs Interview die Crêperie “Ali Baba”. […]

Plötzlich steht eine junge Frau vor dem Café-Tisch. Sie fragt höflich, als wolle sie nicht an der falschen Stelle grob werden: “Entschuldigung, sind Sie Frauke Petry?”

Petry, liebenswürdig: “Ja.”

Die Frau freut sich. Dann sagt sie: “Geil, ich wollte Ihnen immer schon mal sagen, dass ich Sie richtig scheiße finde.”

“Ja, in Ordnung”, antwortet Frauke Petry unerschüttert. Die Frau ist da schon wieder weg. “Das ist halt Göttingen”, sagt Petry, lacht und widmet sich wieder dem Interviewer. Wenige Minuten später wird es laut. Zwei Vermummte stehen brüllend vor dem Tisch. “Scheiß-Nazi-Frau!” rufen sie. Und: “Verpisst euch aus Scheiß-Göttingen!” Einer stößt gegen den Tisch, der Tisch kippt. Sie spritzen mit klebriger Flüssigkeit. Es ist beängstigend, auch wenn es keine Minute dauert.

Frauke Petrys Bluse ist nass.

“Vertrauen Sie der Chemikerin, das war Fruchtsaft, nicht gefährlich”, stellt sie fest und “tja, Demokratie in Deutschland.”

Will sie die Polizei rufen?

“Nein, das nicht, aber wenn Sie bitte ein Handtuch hätten?” fragt sie die Kellnerin.

Sie macht ein paar Scherze, fragt schließlich: “Wo waren wir stehen geblieben?” Vorm Café lauern Autonome, machen Sprüche, als sie geht: “Hey, ihr habt was verloren — den Zweiten Weltkrieg!” […]

Der Sprecher der AfD in Berlin wittert eine Gelegenheit. Er versendet eine Pressemitteilung, schreibt von einer Attacke mit Farbbeuteln und erheblichem Sachschaden. Unfug. Er macht den üblen Angriff schlimmer als er war. Petry beklagt in der selben Erklärung, die Tat zeige “erneut, dass linksextreme Gewalt von den Altparteien immer noch sträflich verharmlost wird”.

Mit Dank an Stefan P.!

Nachtrag, 10. Juni: Bei Welt.de haben sie es immer noch nicht mitbekommen. Gestern erschien ein weiterer Artikel zur AfD, in dem die Redaktion am Fruchtsaftbeutel-Opfer-Mythos festhält:

Vor zwei Wochen war die Co-Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, in einem Lokal in Göttingen von drei Vermummten attackiert worden. Diese warfen nach Angaben des Parteisprechers den Tisch um, an dem Petry mit einem Journalisten saß. Anschließend hätten die Angreifer die rechtskonservative Politikerin mit Fruchtsaftbeuteln beworfen.

 

Ich packe meinen Koffer und nehme ein Wechselgerücht mit

Einer der großen Vorteile der Sozialen Netzwerke ist, dass Fußballprofis den Quatschgeschichten der “Bild”-Zeitung direkt widersprechen können.

Heute musste BVB-Torwart Roman Weidenfeller bei Facebook aktiv werden, nachdem die “Bild”-Ruhrgebietsausgabe getitelt hatte:

Ganze drei Autoren schauten Weidenfeller in Dortmund beim Beladen seines Autos zu und strickten sich daraus ihr Wechselgerücht:

Nach der Rückkehr vom Pokalfinale aus Berlin pendelte er zwischen der Kabine und seinem Dienst-Opel, lud mehrere Koffer, Taschen und BVB-Tüten ein. Die letzten Erinnerungsstücke an Weidenfellers erfolgreiche Ära als BVB-Towart (2-mal Meister, Pokalsieger).

Roman Weidenfeller hatte für die Koffer und Taschen und Tüten eine etwas andere Erklärung als eine Flucht aus Dortmund:

Die Leute von Bild.de haben inzwischen reagiert und den Artikel aktualisiert. Ihr Gerücht lassen sie sich von dem Dementi aber selbstverständlich nicht kaputtmachen. Die Überschrift lautet jetzt:

Mit Dank an Stefan K. und Thomas B.!

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