Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Die PR der Gorleben-Protestler” (ndr.de, Video, 6:34 Minuten)
Um “gute Berichterstattung” zu erzielen, kümmern sich Atomkraftgegner um die anreisenden Journalisten, kochen Kaffee, richten Büros ein. Christoph Bautz vom Kampagnenverein “Campact”: “Wir gestalten Aktionen doch immer wieder so, dass sie auch von den Medien entsprechend aufgegriffen werden, entsprechend transportiert werden. Wir schaffen ein Bild, das zum Beispiel gut in der Zeitung dargestellt werden kann, das gut in einem Fernsehbeitrag übertragen werden kann. Beispielsweise eine grosse Castor-Attrappe, mit der wir letzte Woche auf Tour gegangen sind, vom Endlager-Standort Gorleben nach Berlin. Das waren Bilder, die Medien gerne aufgreifen.”
2. Interview mit Christian Jungblut (freischreiber.de)
Gemäß dem Landgericht Hamburg hat die Zeitschrift “Geo” gegenüber dem freien Journalisten Christian Jungblut “ihr Bearbeitungsrecht überschritten”. Jungblut sieht sich selbst kooperationsbereit und findet es gut, wenn jemand sein Stück gegenliest und sagt: “Hör mal, das habe ich nicht verstanden”. “Wenn mir aber eine redigierte Fassung vorgelegt wird, die ich nur noch abnicken darf, ist das nur noch ein Verwaltungsakt – und keiner möchte gern verwaltet werden.”
3. “Hinter der Freiwilligkeit wartet der Zwang” (lawblog.de, Udo Vetter)
Udo Vetter kommentiert von der Polizei vorgenommene Speichelproben bei mehreren hundert Fahrzeughaltern. “Nach außen betont die Polizei, jede Speichelprobe sei freiwillig. Wer sie verweigere, mache sich deswegen noch nicht verdächtig. Die Wirklichkeit dürfte anders aussehen. Die Boulevardpresse zeigt schon mal den Weg und fragt, ob der Verweigerer nur ein Querulant ist.” Die Schlagzeile auf Bild.de: “Passat-Fahrer verweigert Polizei Speichel-Probe!”
Kriminalfälle in Mittelamerika werden üblicherweise nicht von deutschen Online-Medien aufgeklärt. Bild.de versucht es aber trotzdem mal:
Nun ist nicht auszuschließen, dass tatsächlich ein Bandenmitglied aus Guatemala im Nachbarland Honduras an einem Massenmord beteiligt ist. Es wäre aber ein sensationeller Zufall, denn das Foto stammt aus einer Serie, die vor drei Jahren in einem Gefängnis entstanden ist. Der Mann war damals übrigens schon 23.
Mit anderen Worten: Was Bild.de da zeigt, ist kein Fahndungs- sondern ein Symbolfoto.
Die Hartnäckigkeit, mit der sueddeutsche.de das Kuppelkreuz des (evangelischen) Berliner Doms als Symbolbild für Artikel über Vorfälle in der katholischen Kirche verwendet, ist schon beeindruckend.
Aber unser erster Eintrag zum Thema ist ja auch schon wieder mehr als fünf Wochen her — die anschließende Umdeklarierung der Fotos in der Bilddatenbank von Getty Images allerdings auch. Doch weil sueddeutsche.de das Foto in der Zwischenzeit aus dem damals kritisierten Artikel entfernt hatte, war es jetzt wohl für eine Wiederverwendung frei.
Mit Dank an Bernhard und Andreas N.
Nachtrag, 11.05 Uhr: sueddeutsche.de hat schnell Ersatz gefunden:
Terroristen im Flugzeug — bei diesem Schlagwort zückt unser kulturelles Gedächtnis sofort die Karteikarte Actionfilm: “Stirb langsam 2”, “Con Air”, “Air Force One”.
Wenn Terroristen im Flugzeug sind, dann muss es ordentlich rummsen: Explosionen, Schüsse — oder zumindest schwer bewaffnete Spezialkräfte mit Sturmhauben und Laser-Visieren, die rote Punkte auf die Brust des Schurken zeichnen. So etwas verkauft sich immer gut, selbst wenn es einige Zeit her ist.
So meldet die Nachrichtenagentur AFP über die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen zwei Terrorverdächtige:
Ende September 2008 hatte ein Spezialeinsatzkommando kurz vor dem Start Richtung Amsterdam ein Flugzeug der niederländischen Gesellschaft KLM gestürmt und die beiden Verdächtigen, die heute 25 beziehungsweise 24 Jahre alt sind, festgenommen.
Im September 2008 hatte ein Spezialeinsatzkommando ein Flugzeug gestürmt und den Deutsch-Somalier Omar D. (25) sowie den Libyer Abdirazak B. (24) festgenommen. Angeblich wollten die Extremisten in den “Heiligen Krieg” ziehen.
Übernommen haben die Agenturen diese Darstellung vom “Focus”, der die Meldung vorab an die Agenturen gegeben hatte, sie in seiner aktuellen Ausgabe aber nur klein auf Seite 13 links unten klemmt:
Allein: Diese spektakuläre Verhaftung hat es nie gegeben. Wie uns heute noch einmal die Bundespolizeidirektion Sankt Augustin versicherte, wurde weder ein Flugzeug gestürmt, noch sind Spezialkräfte im Einsatz gewesen. Zwei normale Streifenbeamte hatten die unbewaffneten Männer festgenommen, die keinerlei Widerstand leisteten.
Wie die Falschmeldung von der erstürmten Maschine so nachhaltig in den Medienkreislauf gelangen konnte, zeigt eine Meldung der Nachrichtenagentur AP vom Morgen der Verhaftung:
Unter Verweis auf die andauernden Ermittlungen wollte die Sprecherin keine weiteren Details bekanntgeben. Laut “Bild”-Zeitung wurden die beiden Männer am Freitagmorgen um 06.55 Uhr von einem Spezialeinsatzkommando in einer Maschine der Fluglinie KLM Richtung Amsterdam festgenommen.
Diese Darstellung wurde zwar bald von Polizei und Innenministerium dementiert, aber offenbar stellen sich die meisten Journalisten die Szenerie immer noch lieber so vor wie die “Rhein-Zeitung” am Tag nach der Verhaftung auf ihrer Titelseite:
… und wieder einmal ist es an der Zeit, schnell noch ein wenig Gerümpel wegzuräumen, das während unseres Winterschlafs liegen geblieben ist.
Da wäre zunächst diese (vermeintliche) Antwort auf die Frage “Was sieht man wirklich im Nackt-Scanner?”:
Das, was Bild.de in seiner Klickstrecke als das “milchige Bild eines Nacktscanners” verkaufen will (und seitdem regelmäßig als Symbolbild nutzt), sieht als Negativ so aus:
… und hat damit – bis auf die Waffen – verblüffende Ähnlichkeit mit diesen zwei Fotos von einer CD mit 50 Fotos einer nackten Frau:
Bild.de verschleiert die Herkunft der Bilder genau genommen nicht mal sonderlich und gibt als Quelle für die angeblichen Nacktscanner-Fotos sogar “PhotoAltoF1online” an, die Website, auf der man die CD bestellen oder die Fotos direkt kaufen kann. Dass es sich bei den gezeigten Abbildungen damit aber um Symbolfotos bzw. Fotomontagen handelt, die nicht gerade zur Beantwortung der Frage “Was zeigt der Nackt-Scanner?” taugen, erwähnt Bild.de allerdings nicht.
Dafür gibt es Aufklärung:
Auch Schwangerschaften können nicht erkannt werden.
Oder auch nicht:
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Wie es eine Geschichte über eine angebliche Schönheitsoperation von Tiger Woods aus einer obskuren Kettenmail in mehrere deutsche Onlinemedien geschafft hat, müssen wir nicht mehr aufdröseln — das hat der Linksgolfer im alten Jahre schon ausführlich getan.
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Und dann war da noch die österreichische “Kronen Zeitung”, die sich an Neujahr irgendwo zwischen Weihnachtstraditionen und der aktuellen Schweinegrippen-Hysterie verheddert hat:
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PS: Kein Fall fürs BILDblog ist übrigens die Aktion “12 Tage, 12 Geschenke”, bei der “Bild” seit dem 26. Dezember seinen Lesern täglich ein Produkt aus Apples iTunes-Store schenkt: Zwar kann man diese Sachen auch ganz ohne “Bild” herunterladen — es ist eine schon fast traditionelle iTunes-Aktion. Aber “Bild” ist durchaus Kooperationspartner von Apple, auch wenn der Computerkonzern das aus unbekannten Gründen – anders als bei den Partnern “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, “Glamour” und anderen – selbst verschweigt.
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1. “Präsentation: gewaltig. Beweislage: lausig” (faz.net, Michael Eder)
Die ARD-Sportschau stellt Radprofi Linus Gerdemann aufgrund von Schwankungen bei den Hämoglobinwerten unter Dopingverdacht. Anti-Doping-Experte Klaus Pöttgen hält das für “absolut unseriös”: “Zwei solche Werte einfach in die Öffentlichkeit knallen, das geht nicht, das ist eine Katastrophe für den betreffenden Sportler.”
2. “Times Metro Desk Cancels All Newspaper, Magazine Subscriptions” (observer.com, John Koblin, englisch)
Die Stadtredaktion der “New York Times” muss sich die Konkurrenzblätter auf Papier zukünftig selbst kaufen. Das eingesparte Geld soll für die Bezahlung von freien Journalisten verwendet werden.
3. “Tipps für Journalisten” (stigma-videospiele.de)
Ein Dossier über “Killerspiele” für Journalisten, das “Autoren ein bisschen Recherchearbeit abnehmen und einige allgemeine Schwachstellen bei Artikeln” aufzeigen soll. “Ich hoffe, dass diese Ratschläge für den einen oder anderen eine Hilfe darstellen und vielleicht zu einer sachlicheren Berichterstattung über gewaltdarstellende Videospiele führen.”
4. “Perfide Aktion” (epd.de, Katrin Schuster)
Katrin Schuster nennt die Aktion “Ohne Models” der Zeitschrift “Brigitte” eine perfide PR-Aktion, die “schon wieder die (und nur die)” treffe, “die in dieser Branche ohnehin keine Stimme haben, weil sie tatsächlich die seelenlosen, rechtlosen und charakterlosen Geschöpfe sind, die die Designer und Produzenten sich heranziehen”. Frauenzeitschriften wie die “Brigitte” seien jahrelang darum bemüht gewesen, “Frauen auf Stromlinienform zu trimmen – und dann werfen sie ihnen genau das vor.”
Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. (…) Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.
(…) Veröffentlichte Nachrichten oder Behauptungen, insbesondere personenbezogener Art, die sich nachträglich als falsch erweisen, hat das Publikationsorgan, das sie gebracht hat, unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen.
Soweit die Theorie. Und jetzt zur “Welt am Sonntag”. Nach dem Amoklauf von Winnenden war dort nämlich ein Artikel des “WamS”-Chefs Thomas Schmidt erschienen, (zu dem sich vieles sagen lässt und) den die “WamS” wie folgt präsentierte:
Weil das große Foto neben der überschrift aber nicht, wie sich hätte vermuten lassen, den Amokläufer, sondern einen namenlosen, trauernden Jungen in Winnenden zeigt (und BILDblog sich deswegen beim Presserat beschwerte), wurde die “WamS”-Veröffentlichung nun als Verstoß gegen o.g. Ziffern des Pressekodex beanstandet — und vom Presserat ein sog. “Hinweis” erteilt.*
“WamS” laut Presserat:
“Die Redaktion habe Trauer und Hilflosigkeit bebildern wollen, die die Tat hinterlassen habe und die in dem Gesichtsausdruck des gezeigten jungen Mannes zum Ausdruck komme. Die Bebilderung sei unglücklich gewählt bzw. hätte mit einer separaten Bildunterschrift versehen werden müssen, um jeden noch so geringen Zweifel an der Identität der gezeigten Person auszuschließen. Dies sei bedauerlicherweise nicht geschehen.”
Die “WamS” selbst zeigt sich in ihrer Stellungnahme zur Beschwerde übrigens zunächst einsichtig (siehe Kasten). Laut Presserat versuchte das Blatt jedoch auch zu begründen, warum die Redaktion sich selbst nicht wenigstens nachträglich korrigierte:
Ein Hinweis in der darauffolgenden Ausgabe sei allerdings verworfen worden, da die Redaktion davon überzeugt gewesen sei, dass Mediennutzer das Aussehen des Amokläufers Tim K. bereits vor Erscheinen der WELT AM SONNTAG gekannt hätten. Insofern gehe man (…) davon aus, dass mit der Seitenoptik kein falscher Eindruck entstanden sei und der deshalb auch nicht habe korrigiert werden müssen. Der Redaktion lägen auch bis heute keine gegenteiligen Erkenntnisse vor, insbesondere seien keine rechtlichen oder sonstigen Beschwerden des jungen Mannes bekannt geworden (…).
Es klingt, als wolle die “WamS” damit sagen: Eigene Fehler müssen nur grob und offensichtlich genug sein, um sie nicht selbst korrigieren zu müssen — “insbesondere” dann nicht, wenn sich niemand beschwert oder rechtlich dagegen vorgeht, oder?
*) Ein “Hinweis” ist die schwächste Sanktionsform des Presserates — und für das betroffene Medium folgenlos.
Es ist ein aufsehenerregendes Foto: Ein dunkelgraues Ungetüm, das einem Fisch ähnelt, eingehüllt in eine neblige Wolke, donnert über die Wüste Kaliforniens bei Los Angeles. Das Bild zeigt einen Stealth B-2-Bomber kurz vor dem Erreichen der Schallmauer.
Lassen Sie sich nicht irritieren: Eine B-2 (Top Speed: High Subsonic) wird die Schallmauer nie erreichen — aber darum soll es auch gar nicht gehen.
Bild.de zeigt dieses Foto vermutlich, weil Agenturen und verschiedene britischeMedien es in den letzten Tagen verbreitet hatten. Die “Daily Mail”, die unter den Ersten war, schreibt dazu:
[Das Bild] wurde passend zur Ankündigung verbesserter militärischer Software für die Flotte veröffentlicht und zeigt eine B-2, die während eines Flugs über Palmdale, nahe Los Angeles, eine hohe Unterschallgeschwindigkeit erreicht.
Auch das ist so nicht falsch. Tatsächlich hatte Semantic Designs, eine Firma, die an neuer Software für die B-2 arbeitet, das Bild selbst in seine Pressemitteilung eingebaut. Nur “veröffentlicht” hatten sie es damit nicht — allenfalls als Symbolfoto “wieder-veröffentlicht”. Das Bild selbst ist nämlich schon mindestens zwei Jahre alt.
Ungeachtet dieser Tatsache trat das Foto eine Reise durch die Medien dieser Welt an, zunehmend losgelöst von der eigentlichen Nachricht (neue Software für die B-2-Flotte). Aber es ist ja immer noch “ein aufsehenerregendes Foto” — und aktuell der zweitmeistgelesene “News”-Artikel bei Bild.de:
Einmal im Jahr veröffentlicht der Deutsche Presserat in seinem Jahrbuch alle Entscheidungen, die er im Vorjahr gefällt hat. Interessanter als seine nur selten nachvollziehbaren Urteile sind oft die (anonymisierten) Stellungnahmen der Zeitungen.
Das Jahrbuch bietet auch seltene Einblicke in die Argumentationsmuster innerhalb der notorisch öffentlichkeitsscheuen Axel-Springer-AG, wenn die Rechtsabteilung gegenüber dem Presserat ausgeruht die fragwürdigen Ad-Hoc-Entscheidungen der “Bild”-Zeitung zu rechtfertigen versucht.
Da war etwa die Beschwerde, dass “Bild” am Tag des Fußball-WM-Spiels gegen Polen 2006 dreizehn Witze über Polen veröffentlichte, von denen zwölf darauf abzielten, dass Polen Diebe seien. Ein Leser fand das diskriminierend und ehrverletzend. Der Presserat gab ihm Recht und sprach einen “Hinweis” aus. Die Rechtsabteilung von “Bild” aber erklärte in den Worten des Presserates:
Der Abdruck der Witze sei (…) dem aktuellen Ereignis geschuldet. Kollektiv abwertende Vorurteile würden nicht zum Ausdruck gebracht. (…) Die Rechtsabteilung verweist auf die gängige Praxis in der Sportberichterstattung, Schlagzeilen zu wählen, die mit dem sportlichen Wettkampf zusammenhingen und zum Ausdruck brächten, dass Deutschland hoffentlich gewinnen werde. Eine Diskriminierung oder Herabsetzung des Gegners gehe damit nicht einher. Es handele sich vielmehr um eine Motivationshilfe für das jeweilige deutsche Team.
Bemerkenswert ist auch die Erklärung des Verlages, warum es zulässig gewesen sei, das Porträtfoto eines 17-Jährigen zu zeigen, der gestanden hat, am Raubüberfall auf das Haus von Dieter Bohlen beteiligt gewesen zu sein — obwohl der Pressekodex eine solche Identifizierung in der Regel untersagt und bei Jugendlichen ganz besonders. Laut Presserat erklärte Springer:
Den Tätern habe auch klar sein müssen, dass ihr Überfall auf den prominenten Dieter Bohlen eine besondere öffentliche Wirkung entfalten würde. Das wiederum habe zwangsläuzfig zur Folge gehabt, dass auch sie im Fall einer Festnahme und anschließender Anklage einem besonderen Informationsinteresse ausgesetzt sein würden.
Die Erwiderung des Presserates, der in diesem Fall eine “Missbilligung” aussprach, liest sich vergleichsweise trocken: “Die Resozialisierungschancen eines Täters hängen nicht von der Prominenz des Opfers ab.” Nun ja, möchte man erwidern: dank “Bild” eben doch.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung oder eine Zeitschrift gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, tun sie es nicht.
Die nüchtern zusammengefassten Stellungnahmen der Rechtsabteilung lesen sich manchmal wie erstaunliche Leugnungen des Unleugbaren. Wenn “Bild” etwa in großer, aus gutem Grund unzulässiger Ausführlichkeit die tragischen Begleitumstände einer Selbsttötung schildert, und die Juristen erklären, der Artikel sei einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl geschrieben.
Dazu passt, dass “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, der die Suizid-Berichterstattung angeblich zur Chefsache gemacht hat, im vergangenen Jahr erklärte, “Bild” sei in diesem Bereich “extrem zurückhaltend”, weil man “wisse, dass die Berichterstattung über Selbstmorde labile Menschen möglicherweise zum Nacheifern veranlasst”. “Bild” hat in den vergangenen sechs Jahren acht Rügen für ihre Suizid-Berichterstattung kassiert.
Wie immer haben wir alle Rügen, die der Presserat im vergangenen Jahr gegen “Bild” ausgesprochen hat, und die jeweilige Rechtfertigung des Verlages dokumentiert.
Wie “Bild” aus schwererziehbaren Jugendlichen “Gangster” macht und andere Verstöße gegen Ethik und Menschenwürde: “Bild”-Rügen 2007
In einer norddeutschen Kleinstadt soll ein Heim für schwererziehbare Jugendliche gebaut werden – was einigen Nachbarn nicht gefällt. “Bild” titelt: “Ein Dorf hat Angst” und: “Behörde will Heim für Kindergangster im friedlichen (…) eröffnen”. Die Gefahr durch die “Kindergangster” illustriert die Zeitung, indem sie neben Fotos von dem Haus und den Nachbarn einen mit einem Messer bewaffneten Jugendlichen zeigt, ohne zu erwähnen, dass es sich nicht um einen der zukünftigen Bewohner, sondern nur um ein Symbolfoto handelt.
Die Rechtsabteilung von “Bild” erklärt, es bestehe ein hohes öffentliches Interesse daran, über das Projekt und den Widerstand dagegen zu berichten. Die Nachbarn hätten Angst vor Verletzungen und um Hab und Gut, fürchteten sich vor Drogenbeschaffungs- und Gewaltkriminalität. Der Begriff “Kindergangster” für schwer erziehbare Jugendliche sei eine zulässige Verkürzung und ein gebräuchlicher Terminus. Und “Bild” hätte ja keinen von ihnen gezeigt, sondern nur ein Symbolfoto.
Das Urteil des Presserates ist vernichtend: Der Artikel verstoße gleich gegen vier Ziffern des Pressekodex, darunter die Pflicht zur Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde. Schwererziehbare seien nicht Kriminellen gleichzusetzen. Der Begriff “Kindergangster” sei unangemessen sensationell. Das Foto von dem bewaffneten Jugendlichen sei irreführend und hätte zudem als Symbolfoto gekennzeichnet werden müssen. Die Überschrift “Ein Dorf in Angst” sei unangemessen sensationell, diskriminiere die Jugendlichen und werde im Artikel durch nichts belegt. Die Berichterstattung sei einseitig, unangemessen und unwahrhaftig. (Öffentliche Rüge)
* * *
“Bild” macht Werbung für Aldi Verstoß gegen Ziffer 7 (BK2-6/07)
“Bild” informiert seine Leser in einem Artikel darüber, welche Reisen man vom nächsten Tag bei Aldi kaufen kann. “BILD hat die besten Angebote jetzt schon recherchiert”, schreibt die Zeitung und nennt als “beste” Angebote sämtliche Angebote, die sich am folgenden Tag auch in einer ganzseitigen Anzeige in “Bild” fanden. “Bild” beschreibt genau die Angebote, nennt die Preise, gibt die Telefonnummern und eine Internetadresse von Aldi an, unter der die Reisen gebucht werden können.
Die Rechtsabteilung von “Bild” weist den Vorwurf zurück, dem großen Anzeigenkunden sei mit dem Artikel eine Gefälligkeit erwiesen worden. Der Anlass für den Artikel sei nicht werblich, sondern publizistisch gewesen: Erstmals sei ein Discounter ins Reisegeschäft eingestiegen, erklärt die Rechtsabteilung (wahrheitswidrig). An der Veröffentlichung habe es ein öffentliches Interesse gegeben; die Angabe von Telefonnummern und Internetseite sei zulässiger Service für die Leser.
Der Presserat widerspricht: Die Grenze zwischen zulässiger Information und unzulässiger Schleichwerbung sei eindeutig überschritten. Durch die detaillierten Angaben habe “Bild” den geschäftlichen Interessen des Anbieters Vorschub geleistet und ihm einen deutlichen Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten verschafft. (Öffentliche Rüge)
“Bild” macht Khaled al-Masri zum Irren Verstoß gegen Ziffer 8 (BK1-135/07 und BK1-136/07)
“Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren”, fragt “Bild” und meint mit “so einem” den vermutlich vom CIA verschleppten Khaled Al-Masri und mit “terrorisieren”, dass das Entführungsopfer Gerichte und Medien bemüht. “Bild” spielt seine Torturen herunter und nennt ihn u.a. “irre” und einen “durchgeknallten Schläger” und “Querulanten”.
Die Rechtsabteilung von “Bild” sagt, die Berichterstatung sei zutreffend und die verwendeten Begriffe durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. An der Aufdeckung des Falles Al-Masri bestehe ebenso wie an seiner Person ein hohes Informationsinteresse.
Der Presserat bestreitet das öffentliche Interesse nicht. Es sei unstrittig, dass “Bild” sich mit Al-Masri beschäftigen dürfe – aber nicht in dieser Form. Psychische Erkrankungen fielen laut Pressekodex grundsätzlich in die Privatsphäre des Betroffenen. Ihn “irre” zu nennen und zu fragen, “Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren” gehe gerade im Hinblick auf Al-Masris Erkrankung eindeutig zu weit, sei unangemessen und verletze ihn in seiner Ehre. (Öffentliche Rüge)
“Bild” macht Jugendlichen zum “Verbrecher” Verstoß gegen Ziffern 2 und 8 (BK1-194/06)
Ein 19-Jähriger steht vor Gericht, weil er an einer Schießerei beteiligt gewesen sein soll, bei der ein Mensch ums Leben kam. Das Gericht schließt die Öffentlichkeit von der Verhandlung aus, um den Heranwachsenden zu schützen. “Bild” schreibt daraufhin: “Frau Richterin, warum schützen Sie diesen Verbrecher” und nennt auch den Namen des Angeklagten. Dessen Anwalt beschwert sich beim Presserat darüber, dass “Bild” seinen Mandanten trotz des bewussten Ausschlusses der Öffentlichkeit identifizierbar gemacht habe und ihn “Verbrecher” nannte, obwohl es noch kein Urteil gebe.
Die Rechtsabteilung von “Bild” erklärt, die Forderung des Pressekodex, sich bei der Berichterstattung über Straftaten Jugendlicher besonders zurückzuhalten, gelte hier nur eingeschränkt, weil der Angeklagte sich an der Schwelle zum Erwachsenenstrafrecht befinde. Deshalb dürfe man ihn auch identifizierbar machen. Die Tat sei in Art und Ausführung so erschreckend, dass man darüber berichten dürfe. Die Presse könne nicht akzeptieren, vom Verfahren ausgeschlossen zu werden, wie es die Richterin getan habe. Zudem sei der Mann weitgehend geständig.
Der Presserat spricht zunächst nur eine Missbilligung aus: “Bild” hätte sich bei der Berichterstattung zurückhalten müssen; den Namen des Angeklagten zu nennen, sei ethisch unangemessen. Die Bezeichnung “Verbrecher” sei aber zulässig, weil der Angeklagte die Verstrickung in das kriminelle Geschehen zugegeben habe.
Der Anwalt des Mannes widerspricht: Er habe, anders als die Rechtsabteilung “Bild” behaupte, kein Geständnis gegeben. Daraufhin revidiert der Presserat sein Urteil und rügt nun doch den “Bild”-Artikel und das Wort “Verbrecher”: Weil der Angeklagte weder ein Geständnis abgelegt noch die ihm zur Last gelegte Tat unzweifelhaft unter den Augen der Öffentlichkeit begangen habe, sei es unangemessen und eine Vorverurteilung, ihn als Täter darzustellen. (Nicht-öffentliche Rüge)
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“Bild” macht aus Selbsttötung detailreiche Geschichte Verstoß gegen Ziffer 8 (BK2-57/07)
Unter der Überschrift “Todes-Drama um die schöne Anika (16)” berichtet “Bild” detailreich über einen Suizid. Die Zeitung zitiert wörtlich die Abschiedsnachricht des Mädchens, das auf eigenen Wunsch aus der psychiatrischen Behandlung entlassen worden sei, und schildert, wie die Schwester des Opfers vergeblich auf die S-Bahn gewartet habe, vor die sich das Mädchen geworfen hatte. Der Chef des Krankenhauses, in dem das Mädchen war, beschwert sich über den Artikel: Der Redakteur habe die Tatsachen trotz eindringlicher Hinweise falsch dargestellt.
Die Rechtsabteilung von “Bild” sagt, die Berichterstattung gehe auf Berichte der Eltern des Mädchens zurück. Der Artikel über die Selbsttötung sei einfühlsam und mit viel Fingerspitzengefühl geschrieben.
Der Presserat kann sich diesem Urteil nicht anschließen. Wenn “Bild” beschreibe, wie die Schwester ausgerechnet auf die S-Bahn gewartet habe, von der das Mädchen überrollt wurde, verletzte die Zeitung die Pflicht, sich gerade mit der Schilderung solcher Begleitumstände bei Selbsttötungen zurückzuhalten. Es sei auch nicht zurückhaltend, der Öffentlichkeit die Krankheitsgeschichte des Mädchens zu schildern. (Nicht-öffentliche Rüge)