Suchergebnisse für ‘leipzig’

Fest-geklitterte “Zeit”-Geschichte

Nicolaus Fest, Mitglied der “Bild”-Chefredaktion, hat sich über einen Artikel in der “Zeit” geärgert. Das kommt in den besten Familien vor, und zum Glück hat Fest ja eine Kolumne auf Bild.de, in der er seinem Ärger gründlich Luft machen kann. Soweit, so unspektakulär.

Das Bemerkenswerte aber ist, dass es gleich zwei Möglichkeiten gegeben hätte, wie der Ärger von Nicolaus Fest zu vermeiden gewesen wäre. Erstens, wenn die “Zeit” nicht diesen Artikel geschrieben hätte. Zweitens, wenn Nicolaus Fest ihn verstanden hätte.

Fest zitiert aus dem “Zeit”-Artikel von Christoph Dieckmann:

“Gysis größtes Verdienst betrifft die deutsche Einheit. Es ist ihm maßgeblich zu verdanken, dass eine enorme Menge der staatsnahen DDR-Bevölkerung sich zur parlamentarischen Demokratie überreden ließ.”

Und kommentiert:

Aha. So war das also. Die Demonstranten in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin wollten zunächst gar nicht die parlamentarische Demokratie, wollten kein selbst bestimmtes, ungegängeltes “Leben der Anderen”.

In Wahrheit waren sie, trotz “Wir sind ein Volk” und der überragenden Zustimmung zum Beitritt, im November 1989 gar nicht sicher, ob sie ihre verfallenden Städte, die Fürsorge der Stasi und die Bruderschaft mit den russischen Besatzungstruppen tatsächlich gegen Reise- und Meinungsfreiheit, D-Mark und Rechtstaatlichkeit eintauschen sollten.

Lange schwankten sie, ob sie wirklich Begrüßungsgeld nehmen, ob sie Golf statt Trabi fahren, ob sie das Grau ihrer Häuser wie ihres staatlich überwachten Lebens den Billionensubventionen der alten Bundesländer opfern sollten.

Er hat sich richtig in Rage geschrieben. Nur: Er hat nicht gemerkt, dass die “Zeit” gar nicht behauptet, Gysi habe das Volk in der DDR zur parlamentarischen Demokratie überredet. Die “Zeit” schreibt, Gysi habe einen großen Teil “der staatsnahen DDR-Bevölkerung” überredet. Sie spricht ausdrücklich von den SED-Mitgliedern und “Armee, Polizei, Geheimdienst”. Auf sie bezieht sich die Formulierung vom “überreden”.

Aber vielleicht hat Nicolaus “Hieb und Stich” Fest das gar nicht missverstanden, sondern missverstehen wollen. Denn als nächstes schreibt er über die DDR-Bürger:

Doch dann wurde ihnen, so Dieckmann, “im Dezember 1989, kurz vor Mitternacht, ein kurioser Heiland geboren” — Gregor Gysi.

Da hat Fest den Anfang des Satzes weggelassen. Weglassen müssen, denn sonst wäre aufgefallen, worauf sich die “Heiland”-Formulierung wirklich bezieht:

Die SED hatte vor der Wende 2,3 Millionen. Sie befehligte noch Armee, Polizei, Geheimdienst, als ihr im Dezember 1989, kurz vor Mitternacht, ein kurioser Heiland geboren wurde. Nur in tiefster Krise konnte dieser intellektuelle Entertainer Honecker und Krenz beerben.

Dieckmann behauptet nicht, dass Gysi der Erlöser für die DDR-Bürger war. Dieckmann behauptet, dass Gysi der Erlöser für die SED war — und begründet das u.a. damit, dass er “der PDS gewordenen SED [half], ihr Parteivermögen zu retten” und dank seiner “die PDS am 18. März 1990 bei den freien Wahlen 16,3 Prozent” erreichte.

Gegen Schluss schreibt Fest:

Irgendwann, so sagen Ältere, war DIE ZEIT mal eine ernst zu nehmende Zeitung.

Das Problem hat er bei seiner Zeitung natürlich nicht.

Allgemein  

Steinzeitjournalismus

Die brasilianische Indianerbehörde FUNAI hat unlängst einige Fotos einer Indianergruppe im brasilianischen Amazonasgebiet öffentlich gemacht. Und “Bild”?

“ERKLÄRT DAS GEHEIMNISVOLLE DSCHUNGEL-VOLK”, was sonst?

"Die Urwald-Männer zähmen Spinnen"

Und ja, es ist wohl wirklich die “Bild”-Zeitung, die da am Samstag das Dschungel-Volk “erklärt” hat – auch wenn das Blatt selbst einen anderen Eindruck erweckte und sich gleich mehrfach auf “Dr. Jochen Schulz (50) von der Universität Leipzig” berief.

Schulz jedoch ist (wir kennen das) mit der Darstellung nicht besonders glücklich. Wie uns der Ethnologe auf Nachfrage sagt, handele es sich bei dem “Bild”-Artikel “um keine adäquate Darstellung” — zumal die “Bild”-Autoren “sehr viel dazugedichtet” hätten.

Dazugedichtet? Tatsächlich finden sich – zwischen zwei offenbar halbwegs korrekt wiedergegebenen Schulz-O-Tönen – zum Beispiel ganz nebenbei auch die Spinnen aus der Überschrift wieder:

Zudem halten sie [die Indios] sich Jagdhunde, zahme Vögel und sogar Vogelspinnen.

Von ihm, so Schulz, stamme diese Erklärung nicht. Ganz abgesehen davon, dass selbst die FUNAI betont, “eigentlich sonst nichts von diesen Indios” zu wissen, ist dem Experten nach eigenem Bekunden insbesondere von gezähmten Spinnen als Indio-Haustieren schlichtweg “nichts bekannt”. Und eine Quelle für die offenbar ganz und gar abwegige Behauptung gibt “Bild” nicht an.

Auf die Frage von “Bild”, mit welcher Kulturstufe das Leben der Indianergruppe zu vergleichen sei, habe Schulz übrigens davor gewarnt, “um Gottes willen nicht mit Begriffen wie ‘Steinzeit’ zu operieren” – mit, nun ja, mäßigem Erfolg:

"Steinzeit-Menschen entdeckt!"

Mit Dank auch an Dominic I.

Allgemein  

Heiß, hüllenlos – und 13

Im Sommer 2003 suchte die “Bild”-Zeitung das “Sommer-Girl 2003”. Täglich zeigte sie auf ihrer ersten Seite eine junge Frau, die die Jahreszeit als Vorwand nutzte, wenig Kleidung zu tragen, und schrieb Sätze dazu wie:

Die Hitze lässt die Knospen sprießen… Aileen (17) zeigt uns ihre schönsten Seiten des Sommers.

Bei allen Kandidatinnen gab “Bild” wie bei Aileen das Alter an: Susan war (18), Jasmin (23), Doreen (18), Aicha (23), Bea (22). Am Ende gewann Sakina (27).

Sämtliche Kandidatinnen hatten ein Alter — bis auf die erste: Melanie aus Leipzig.

Allerdings hätte “Bild” auch schwerlich das richtige Alter des halbnackten Mädchens angeben können: Melanie war 13.

Der Chefredaktion sei das Alter des Mädchens damals nicht bekannt gewesen, sagte ein Sprecher der “Bild”-Zeitung gegenüber dem “Spiegel”, der in seiner aktuellen Ausgabe über die erst jetzt “durch eine Indiskretion” bekannt gewordene Angelegenheit berichtet. Laut “Bild” sei das Foto gegen Honorar und mit schriftlicher Zustimmung der Mutter des Mädchens veröffentlicht worden. Nun habe man das Bild aber aus dem Archiv gelöscht, um eine erneute Veröffentlichung auszuschließen.

Warum die “Bild”-Zeitung völlig entgegen ihrer Gewohnheit bei der 13-jährigen auf eine Altersangabe verzichtete, wissen wir nicht. Im Nachhinein wirkt auch der Text beunruhigend treffend, mit dem sie den fünften Teil der “Sommer-Girl”-Serie bestritt:


Wer sagt eigentlich, dass nur die ganz jungen Mädchen Chancen haben, das BILD-Sommer-Girl 2003 zu werden?

6 vor 9

Journalisten in der Abseitsfalle
(faz.net, Jochen Hieber)
Um die kostbare Fernsehware Bundesliga zeichnet sich ein Bieterkampf ab. Es wird viel Geld im Spiel sein. Die journalistischen Standards künftiger Fußballberichte im Fernsehen werden dabei eher eine Nebenrolle spielen.

Roger de Diesbachs Plädoyer für den investigativen Journalismus
(nzz.ch, Frank Wittmann)
“Ausgangspunkt des Buchs sind die hinlänglich bekannten Übel: Die Schweizer Zeitungen werden immer populistischer. Reisserische Themen nehmen überhand, der Anteil an ungeprüften Depeschen erhöht sich sukzessive, PR-Meldungen bleiben regelmässig unhinterfragt, die Werbung durchdringt schleichend den redaktionellen Inhalt, und der vermittelten Information gelingt es immer seltener, die komplexe politische, ökonomische und soziale Realität transparent zu machen.”

“Überleben zu wollen, reicht einfach nicht”
(sueddeutsche.de, Stephan Weichert und Alexander Matschke)
Blogger müssen keine Gefahr für Profi-Journalismus sein: Online-Journalist Simon Waldman vom Guardian erklärt im Interview, wie sich das digitale Zeitalter als Chance begreifen lässt.

“Mehr Spaß, mehr Nützliches”
(zeit.de, Götz Hamann)
Max Levchin ist Gründer von PayPal, dem weltweit erfolgreichsten Internet-Bezahldienst. Nun profitiert er mit seiner neuen Firma Slide vom Facebook-Boom. Ein Interview.

Journalisten aus Ost und West diskutieren über ihren Anteil am Ende der DDR
(tagesspiegel.de, Torben Waleczek)
“Siegbert Schefke steigt aus dem Fenster seiner Etagenwohnung im Prenzlauer Berg, klettert über die Dächer, gelangt schließlich zu dem Trabbi eines Freundes und rast Richtung Leipzig. Die Stasiagenten vor seinem Haus haben nichts gemerkt. In Leipzig angekommen, nimmt Siegbert Schefke seine Kamera, verschanzt sich in einem Kirchturm und dreht die ersten Filmaufnahmen der legendären Montagsdemonstrationen…”

das magazin: ende der leserbeteiligung
(henusodeblog.blogspot.com)
schon bemerkt? – “das magazin” hat seine website umgestellt. wegen mir. aber jetzt mal schön der reihe nach.

Wir sind Franz!


Jens Weinreich, 42, leitet das Sportressort der “Berliner Zeitung” und ist wegen seiner regelmäßigen Enthüllungen über die Schattenseiten des organisierten und kommerzialisierten Sports vielleicht einer der meistgehassten Sportjournalisten in Deutschland. Er kritisiert den “Fanjournalismus” im Stil Waldemar Hartmanns und das Hochjubeln von “Kirmesboxern” durch die jeweils übertragenden Sender und ist Autor mehrerer Bücher und Filme vor allem über Doping und kriminelle Machenschaften im Sport. 2005 gewann er den “Wächterpreis der Tagespresse” für seine Enthüllungen von Unregelmäßigkeiten bei der missglückten Olympia-Bewerbung Leipzigs und gründete das “Sportnetzwerk”, das kritischen Sportjournalismus fördern will.

Von Jens Weinreich

Oft habe ich den Kollegen verflucht, der mich zu diesem Beitrag überredet hat. Denn ich gestehe: Ich blättere gewöhnlich nicht in der “Bild”-Zeitung, und darauf lege ich Wert. Vielleicht ein oder zwei Mal im Monat schaue ich in dieses Blättchen. Es mag schrecklich unprofessionell klingen für einen Sportjournalisten, doch das ist mir egal. “Bild” ist für mich vor allem eines: irrelevant. Über Bundesliga und Nationalmannschaft erfahre ich auch ohne “Bild” genug, ob ich es will oder nicht. Und es ist wahrlich nicht so, dass “Bild” in diesem Unterhaltungssektor allen anderen voraus marschieren würde. Ganz im Gegenteil.

Ich will nur über die Sportseiten reden. Da habe ich in dieser Woche nichts gesehen, was ich nicht auch woanders gelesen hätte. Allerdings hat vieles gefehlt, journalistische Texte beispielsweise, aber das ist ja nichts Neues. Hintergründe zu den Dopingpraktiken im deutschen Sport, ob nun im Team Telekom oder an der Universitätsklinik Freiburg? Korruptionsskandale in zahlreichen Sportarten, etwa im Handball-Weltverband, wo gerade Olympiaqualifikationsspiele neu angesetzt werden mussten? “Bild” hat da nichts Eigenes zu bieten. Der frisch fertig gestellte Bericht des Bundesinnenministeriums (“Projektgruppe Sonderprüfung Doping”) wird in “Bild” nicht einmal erwähnt. (Ich hoffe, ich habe keine dreizeilige Kurzmeldung übersehen.)

Dennoch hat “Bild” heute wieder einen großen Sport-Tag. Man kapriziert sich auf die übliche Mischung: Helden, Sex und Zwistigkeiten. Der FC Bayern läuft immer: “Hitzfeld geht!” Nacktfotos gehen auch: “Sex-Skandal um schöne Olympia-Königin”. Und wenn ausnahmsweise mal fünf deutsche Fußballteams unter den letzten 32 Vereinen im zweitklassigen Uefa-Pokal stehen, titelt “Bild”, wie einfallsreich: “Wir sind Uefa-Cup!” Mit anderen Worten: Es fehlt dem Blatt an exklusiven Sportmeldungen. Selbst den ewig nörgelnden Fußballtorhüter Jens Lehmann (“Er muss da weg!”) schreibt man von anderen ab. Diesmal hat Lehmann mit dem Fußball-Zentralorgan “kicker” geredet. “Bild” zitiert nur, aber wenigstens mit Quellenangabe.

Lustig wird es allerdings in der Berliner “Bild”-Ausgabe auf der letzten Seite, die dem FC Bayern gewidmet ist. Dass Ottmar Hitzfeld den FC Bayern verlassen will, schreibe man “bereits seit Tagen”, plustert sich “Bild” auf. Ich weiß nicht, wer das in diesem Lande noch nicht geschrieben hätte. Egal, “Bild” nennt potenzielle Nachfolger, aber nur die üblichen Verdächtigen. Wenn mehrfach von “Bayern-Bossen” die Rede ist, wird zwar “Killer-Kalle” Karl-Heinz Rummenigge genannt, auch Uli Hoeneß — nur einen anderen, den Bayern-Präsidenten, sucht man vergebens in der Liste der Schuldigen am Hitzfeld-Drama.

Kein Wunder, denn Franz Beckenbauer ist als Lichtgestalt sakrosankt. Kritik an ihm verbietet sich. Franz ist nicht nur Kaiser, er ist Gott, wenn es sein muss, geht er über Wasser — und Bild macht ihn zur Not zum Bundeskanzler. Stolz präsentiert “Bild” auf dieser Bayern-Seite noch eine krude Rangliste des “Manager-Magazins”. Die Frage lautet: Wer regiert in Deutschland das Sport-Business? Die Antwort hätte man sich fast gedacht. “Auf Platz 1: ‘Bild’-Kolumnist Franz Beckenbauer.” Auf Rang 14, zwar hinter dem IOC-Präsidenten Jacques Rogge (7), aber vor Sportminister Wolfgang Schäuble (17), “noch ein Bild-Mann: Vize-Chefredakteur Alfred Draxler”.

Heißa, da ist die Sportwelt doch wieder in Ordnung, zumindest aus Sicht der “Bild”-Strategen. Wir sind Uefa-Pokal, wir sind Franz und wir sind wichtig. Wir sind übrigens auch ein bisschen unterwürfig: Wie erkundigte sich der “Bild”-Reporter Walter M. Straten vergangene Woche beim “Bild”-Kolumnisten Franz Beckenbauer? “Was ist dran an den Gerüchten, dass Sie ein Franz-Beckenbauer-Museum planen?” Der Springer-Lohnschreiber dementierte, vorerst noch. “Ein Museum mit meinem Namen?”, erwiderte der Kaiser, “definitiv nicht. Da müsste ich mich ja selbst reinstellen.”

“Bild” bleibt dran. Bis zur nächsten Kolumne.

 
Unsere Reihe BILDblogger für einen Tag beschließen, wenn alles klappt, Judith Holofernes und Max Goldt.

neu  

Das doppelte Lokchen

In weiten Teilen Deutschlands streikten gestern nicht nur die Lokführer, sondern man konnte auch den 29-jährigen Maik Richter auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung sehen, denn:

1. Lokführer gibt offen zu: Ich finde das Bahn-Chaos gut! / STREIK-LOKFÜHRER: "Die Leute müssen merken, wie wichtig wir sind!"

Millionen Pendler kommen zu spät oder gar nicht zur Arbeit! Tausende warten in der Kälte vergebens auf ihren Zug! Fabriken bleiben ohne Nachschub! Der größte Bahnstreik in der Geschichte legt das halbe Land lahm – und dieser Lokführer gibt offen zu: “Ich find das Chaos gut.”

(…) Richter sagt: “Die Leute sollen mal merken, wie wichtig unsere Arbeit ist, die auch gut bezahlt werden muss. Klar ist es nicht schön, am Bahnsteig zu warten, aber ich muss auch an meine Familie denken.” (…) Er sagt: “Auf dem Bahnhof werden wir jetzt beschimpft. Aber ich hab ein dickes Fell.”

Sagen wir’s so: Maik Richter wird nach der gestrigen “Bild”-Schlagzeile nicht weniger beschimpft worden sein. “Unter den Bundesbürgern stößt der Ausstand jetzt immer mehr auf Ablehnung”, schrieb “Bild”. Und die Nachrichtenagenturen berichteten: “Nach einer Forsa-Umfrage für die ‘Bild’-Zeitung hat eine Mehrheit von 51 Prozent der Bundesbürger kein Verständnis für den Streik.” Nun ja. Und obwohl die Sympathie für den Lokführer-Streik in der Bevölkerung im November doch laut n-tv nicht ab-, sondern sogar wieder zugenommen haben soll, dürfte so ein demonstratives Gutfinden des Bahn-Chaos auf der Titelseite von “Bild” für die Gewerkschaft wenig hilfreich sein.

Das Lokführer-Dementi

“Auch wir Lokführer haben Verständnis für die Verärgerung unserer Reisenden und
‘ICH FINDE DAS BAHNCHAOS NICHT GUT!!!’

Sehr geehrte Damen,
sehr geehrte Herren,
mit großem Interesse habe ich soeben den Bericht über meine Person auf www.bild.de gelesen. Dabei musste ich leider feststellen, dass hier Zitate verwendet wurden, welche ich definitiv nicht gesagt habe.

‘Ich finde das Bahnchaos gut’ soll ich wörtlich gesagt haben und ‘Die Leute müssen merken, wie wichtig wir sind’. Dies sind Sätze, welche ich nie behauptet und auch in keinster Weise angedeutet habe. Ich habe Ihren Reportern gesagt, dass meine Kollegen und ich vollstes Verständnis für den Ärger unserer Kunden bzw. Reisenden haben. Weiterhin habe ich um Verständnis bei den Reisenden gebeten, da uns leider kein anderes Mittel bleibt, unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen. (…)”

(Quelle: lokfuehrer-in-dortmund.de)

Dass sich Lokführer Maik Richter entschied, auf seiner Homepage ein deutliches Dementi der ihm von “Bild” und Bild.de zugeschriebenen Aussagen zu veröffentlichen (siehe Kasten), hat uns daher nicht wirklich überrascht.

Überrascht hat uns vielmehr die gestrige Titelgeschichte in der Leipziger “Bild”-Ausgabe:

1. Lokführer gibt offen zu: Ich finde das Bahn-Chaos gut! / STREIK-LOKFÜHRER: "Die Leute müssen merken, wie wichtig wir sind!"

Die Überschriften sind identisch, auch große Teile des Artikels — nur der zitierte und abgebildete “1. Lokführer” ist in Leipzig nicht der 29-jährige Maik Richter aus Dortmund, sondern der 36- bzw. 37-jährige Thorsten R.* aus Leipzig:

Millionen Pendler (…) in der Kälte (…) Fabriken (…)! Der größte Bahnstreik in der Geschichte legt das halbe Land lahm – und dieser Lokführer gibt offen zu: “Ich find das Chaos gut.”

(…) R. sagt: “Der Streik mit seiner Folge, Deutschland im Personen- wie im Güterverkehr lahmzulegen, ist das einzige Mittel um unsere Forderungen durchzusetzen. Das jetzige Chaos ist gut, weil es notwendig ist und unsere Forderungen unterstreicht. Die Leute müssen merken, wie wichtig wir sind.”

Ob der Leipziger R. ebenfalls behauptet, dies seien Sätze, welche er nie behauptet und auch in keinster Weise angedeutet habe, wissen wir (noch) nicht. Wir wissen nur, dass die trotzkistische Website WSWS.org von den Lokführer-Streiks in Berlin berichtete:

Insbesondere als ein Redakteur der “Bild”-Zeitung nach einem Interview fragte, fand sich niemand, der sich dazu bereit erklärte. Diesem “Lügenblatt” gebe man keine Interviews.

Mit Dank an die Hinweisgeber und an Kai L. für die “Bild”-Leipzig-Scans.

*) Name und Gesicht von uns unkenntlich gemacht.

Nachtrag, 20.11.2007: Inzwischen erreichte uns auch eine Stellungnahme des Leipziger Lokführers Thorsten R. (37), der ebenfalls darauf hinweist, dass seine Aussagen von der “Bild”-Zeitung “sinnentstellt und völlig aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt” worden seien. (Nicht “die Leute” sollten merken, wie wichtig die Lokführer seien, sondern “der Bahnvorstand”; und das Chaos finde er nicht “gut”, sondern “notwendig”.) Auf Nachfrage sagte uns R*, er habe mit dem “Bild”-Reporter, mit dem zunächst in den Streiklokalen in Halle und Leipzig niemand zu reden bereit gewesen sei, lange über den Alltag der Lokführer in der Güterverkehrssparte Railion gesprochen, nachdem ihm der “Bild”-Reporter zu verstehen gegeben habe, dass die “Bild”-Zeitung mit ihrer Berichterstattung “was für die Lokführer tun” wolle.

  

Schlecht gelaunter Faust am Montagmorgen

Ein Gastbeitrag von Nils Minkmar

Kai Diekmann ist berühmt, reich, hat eine nette Familie und macht einen Job, der schon ganz andere verschlissen hat. Wann also schreibt der Mann ein Buch? Und vor allem: Warum?

So lassen sich die Reaktionen der versammelten Buchbranche auf die Verlagsankündigung zusammenfassen. Nicht dass man es Diekmann nicht zugetraut hätte; man hatte ihn bloß für so schlau gehalten, sich nicht aus der Deckung seiner Boulevardzeitung von monströsen Ausmaßen heraus zu bewegen. Schließlich gehört zum “Bild”-Mythos, dass man wenig über ihre Macher weiß, dass man nie weiß: Spaß oder Ernst, Schlamperei oder Zynismus, Chaos oder Kampagne? Ist es da wirklich von Vorteil, ins eindeutige, uncoole Sachbuchfach zu wechseln? Mutig geht Diekmann ins Offene, doch die Jahre bei “Bild” bleiben nicht ohne Wirkung: Überall, wo er hinsieht, hindenkt, ist “Bild” schon da, er dreht sich permanent im Kreis, wie Rilkes Panther, den es in eine Manege verschlagen hätte.

“Der große Selbstbetrug” ist schon ein verräterischer Titel. Man hätte das Buch auch “Die bösen 68er “oder “Was ich immer schon mal sagen wollte” nennen können, so aber ist Diekmann damit gar nicht ausgenommen: Er ist zugleich Betrüger und Betrogener, beides empfindet er als einen Skandal und nimmt Verfolgung auf. Der Leser muss dann den Nacken bewegen wie die Zuschauer in Wimbledon, es geht hin und her, aber es bleibt doch nur die Bewegung eines einsamen Chefs beim Monologisieren. Sein Blick fällt aus einem oberen Stockwerk auf das Land, die Leute, das eigene Leben und — nichts stimmt.

Wem fallen dazu nicht noch mehr Beispiele ein?

Es ist ein Hadern mit der Welt von Faustischen Dimensionen, das sich streckenweise aber liest wie das Geschimpfe im Büro am Montagmorgen: Die Leute zu neugierig oder zu stumpf, die Deutschen wie der Michel verpennt oder laut und verzogen, und alle beklagen sich immerzu, dabei geht es uns doch so gut wie nie. So gut wie nie? Alles Selbstverblendung, denn die Familien sind kaputt, die Kirchen leer, die Schulen schlecht. In Wahrheit wird alles immer schlechter. Immer schlechter? Das wollen uns die deprimierenden Umweltfreaks weismachen, die keine Freude am Leben und am Luxus haben. Luxus? Alle denken nur noch an den schnellen Euro, vornedran die Politiker und Wirtschaftsbosse, dass der kleine Mann immer weniger in der Tasche hat, kümmert sie nicht. Kümmern? Der Staat und die Medien schränken unsere persönliche Freiheit immer mehr ein, schon muss man sich im Auto anschnallen und den Hundedreck einsammeln. Hunde sind den Deutschen eh lieber als Kinder, die einzigen, die das anders sehen sind die Nichtdeutschen, die Ausländer, die Araber etwa haben viele Kinder und hassen Hunde, aber, hah, der Islam in Deutschland… so geht das Seite um Seite. Wenn man all diese Tiraden zusammenzufassen wollte, bräuchte nur eine einzige Gleichung auf seinen Block zu kritzeln: “Deutschland = Absurdistan”. Darauf kann man alles reduzieren, dann kann es wieder weitergehen, denn wem fallen dazu nicht noch mehr Beispiele ein? Schließlich ist das ganze Leben ja absurd.

Vom Genre her soll der “Selbstbetrug” aber kein existentialistischer Monolog eines um sich selbst kreisenden Mannes in der Lebensmitte sein, sondern ein Buch über Deutschland. Es reiht sich ein in eine Folge in den letzten Jahren erschienener Titel, in denen es den Autoren jeweils um eine Klärung ihres Verhältnisses zu ihrer Heimat, aber auch um eine Begutachtung der deutschen Lande ging. Mathias Matussek hat das in “Wir Deutschen” versucht, Roger Willemsen und Wolfgang Büscher haben sich persönlich auf die Reise gemacht, Experten wie Hans Werner Sinn oder Meinhard Miegel haben von ihren extensiven Studien profitiert.

Bei Diekmann aber wirkt die Liebe zum Land, die Sorge um seine Leute bloß behauptet. Der “Selbstbetrug” ist kein konservatives Buch, denn es fehlt ihm die Liebe zum Gegenstand. Wer Deutschland nicht kennt, wird nach der Lektüre jedenfalls nicht inspiriert, das Land nach vorne zu bringen. Nirgends beschreibt er es auf originelle Weise, nirgends spürt man wirkliche Neugier, es fehlt jegliche Erfahrung, es fehlen Menschen in diesem Buch. Sicher, der “Bild”-Chef kennt halb Deutschland, und zwar nicht unbedingt aus der vorteilshaftesten Perspektive. Er weiß um die Versuche, in sein Blatt zu kommen, und die entsprechenden Scheinheiligkeiten. In seinen Schubladen landen Fotos, die keiner sehen darf, er weiß vermutlich einfach zu viel und hat, wie einst John Lennon, von Leuten die Nase voll.

Schade, denn was könnte Diekmanns Leben, sein Alltag, für ein Buch über Deutschland abgeben?

Stattdessen dieses Recycling tausendmal gehörter Argumente gegen Multikulti und Windkrafträder. Das Problem des Standpunktes, von dem aus diese ganzen Thesen vorgetragen werden, erweist sich im Laufe der Lektüre immer gravierender. Denn Diekmann hat keine Verbesserungsvorschläge zu machen, sein Furor richtet sich ja, sobald er einmal in der Welt ist, wieder gegen sich selbst. Das Buch braucht aber ein Gegenüber, einen Antagonisten. Da Diekmann nicht auf Aliens rekurrieren kann und nicht die Ausländer anklagen möchte, braucht er eine andere, weit entfernte Spezies, das sind dann halt “die Achtundsechziger”. Sie sind natürlich die ganze Generation — unabhängig von der Frage, ob damals nicht etwa auch der RCDS oder die Burschenschaftler auch noch da existierten.

Ist Dieter Bohlen ein Vorbild in puncto Familiensinn?

Wer zufällig solche von damals kennt, solche Achtundsechziger, kann nur staunen, welche fulminante Macht Diekmann ihnen zuschreibt: Wirtschaft, Forschung, Religion und Familie haben sie gleichzeitig erledigt. In Wahrheit waren sie damals froh, Miete zahlen zu können und ihre klapprigen Autos im Griff zu behalten — die Diekmannschen Projektionen sind schlicht lächerlich, er kennt auch gar keine Achtundsechziger. Umso leichter schreibt er ihnen alles und das Gegenteil zu, und doof sahen sie außerdem aus. Na, sie werden sich ja gegen ihn auch kaum wehren. Denn wo sind die Achtundsechziger heute? Fröhlich in Rente, einen würdigen Gegner geben sie nicht mehr ab. Aber den braucht es nicht. Diekmann will gar nicht wirklich kämpfen, sondern klagen — unter anderem dagegen, dass so viele immer klagen.

So trifft der Diekmannsche Furor vor allem ihn selbst, er und die “Bild” kommen aus diesen Rundumschlägen grün und blau hervor. Oder ist Dieter Bohlen, der dank “Bild” weit größeren Einfluss auf die heutigen Deutschen hat, als ihn ein Rainer Kunzelmann auch zu seiner Zeit vor vierzig Jahren je hatte — ein solches Vorbild in puncto Familiensinn und christliche Werte? Und das Comeback Oskar Lafontaines, welches Diekmann so wortreich beklagt und analysiert — wäre es denkbar gewesen ohne das Massenmedium “Bild”, das ihn in den Zeiten seiner völligen politischen Isolation Woche für Woche zu Wort kommen ließ?

Diekmann kennt die Antworten besser als jeder andere, und das macht ihn nicht gerade glücklicher. Das Buch ist sein langer Seufzer, ein Zeugnis der Krise. Es würde nicht überraschen, wenn ein zweites Buch folgte, anknüpfend an einen Erfolgstitel, irgendwas mit “Ich bin dann mal im großen Selbstverlust, wie wir pilgernd hinter Klostermauern das Glück finden.”

Nils Minkmar, 40, ist Redakteur im Feuilleton der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”. Er besuchte Pierre Bourdieus Doktorandenseminar, promovierte in Neuer Geschichte mit einer Arbeit über Ehrenkonflikte im frühneuzeitlichen Colmar und arbeitet seit vielen Jahren an einer mehrbändigen Jodie-Foster-Biographie.

No Logo

Man kennt das. Kommt nach Hause, guckt sich die gemachten Fotos an und merkt, dass gerade die schönsten Aufnahmen nicht zu gebrauchen sind. Auf dem einzigen scharfen Portrait von Monika war vor ihrem Gesicht ein Insekt, das nun wie ein Pickel aussieht. Ins Gruppenfoto mit Brautpaar hat sich rechts die blöde Tante Ulla gequetscht. Und beim Fotografieren des herrlichen Bergpanoramas hatte man die fiese Werbetafel übersehen. Aber zum Glück lässt sich so etwas heutzutage ja leicht retuschieren.

Solche Pannen passieren nicht nur uns, sondern auch den Profis von der “Bild”-Zeitung. Die hatte für ihren heutigen Bericht über Senioren, die im Internet einkaufen, unter anderem einen ehemaligen Werkzeugmacher aus Leipzig fotografiert. Der Mann schwärmt davon, wie gut man im Internet Preise vergleichen kann:

Aber was ist das für eine Seite, mit er so gerne Preise vergleicht? Offenbar eine, die eigentlich so aussieht:

Jede Wette, dass jemand in der “Bild”-Redaktion einen “Oh Gott, da ist ja Tante Ulla im Bild”-Moment hatte, als er das ursprüngliche Foto von dem Internet-Senioren vor seiner mutmaßlichen Lieblingspreisvergleichsseite sah. Denn seit gut einem Jahr besitzt der Verlag Axel Springer die Mehrheit am Preisvergleich Idealo, und das ist ein direkter Konkurrent von guenstiger.de, dessen Schriftzug groß auf dem Bildschirm des Internet-Senioren geprangt haben muss.

Aber zum Glück lässt sich so etwas heutzutage ja leicht retuschieren.

Vielen Dank an Marius M. und D.L.!

6 vor 9

Faria, faria ho (+)
(spiegel.de, Helmut Merschmann)
Lustig ist das Zigeunerleben: Berlins digitale Bohème feiert sich auf dem Festival “9to5. Wir nennen es Arbeit” und hält die Selbstvermarktungs-Riesenmaschine in Schwung. Die Größen von Blogistan geben sich ein Stelldichein, eigentlich aber bewegt sich gar nichts.

Am siebten Tag sollst du lesen
(stern.de, Uwe Felgenhauer)
Gedrängel am heiligen Sonntag: Die “FAS” liegt aus, die “WamS”, die “BamS”, “Der Spiegel” kommt, die “Süddeutsche” will auch. Für Verlage ist der Sonntag sexy. So sexy, dass sich einige schon die Finger verbrannt haben.

“In zehn Jahren ist Google tot”
(faz.net, Georg Meck)
Ein Kölner Verlagshaus expandiert: Im Interview spricht Verleger Christian DuMont Schütte über das kurze Leben von Internetfirmen, junge Zeitungsverweigerer und sein Interesse an der ?Süddeutschen Zeitung?.

Vorsicht, Paparazzi!
(tagesspiegel.de, Sonja Pohlmann)
Mit den Foto-Handys kamen die Leserreporter. Bilanz einer umstrittenen Medienpraxis.

?Ich sehe mich auf der Seite der Schwächeren?
(fuldaerzeitung.de, Klaus H. Orth)
Der Autor Günter Wallraff über Heinrich Böll, Rollen, Recherche und den Kampf gegen Ungerechtigkeit.

Germans in Springfield
(youtube.com, Video, 2:18 Minuten)
Added: July 21, 2006

Allgemein  

“Bild” hört Phantomband bei Genesis-Konzert

Die Schwierigkeiten, die das journalistische Genre des Konzertberichtes mit sich bringt, sind offenbar wirklich, wirklich nicht zu unterschätzen. Unter einem im Nachhinein selbstironisch wirkenden Seitenmotto überraschte die Leipziger “Bild”-Ausgabe Kenner und Augenzeugen am Donnerstag mit der Information, dass es beim Genesis-Auftritt im Zentralstadion am Mittwoch eine Vorband gegeben habe. Und nicht irgendeine:

Da nicht nur nicht UB40, sondern niemand vor Genesis aufgetreten war, zögerte “Bild” nicht, den Fehler am folgenden Tag zu korrigieren — wenn auch vielleicht nicht unter der naheliegendsten Überschrift:

Aber das wüssten wir dann doch gerne genauer, wie das war, als die Reporterin der “Bild”-Redaktion die Informationen, äh, übermittelte:

Vielen Dank an Daniel G. für den Hinweis, die Scans und alles!

Blättern:  1 ... 21 22 23 24 25