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Spiegel, Neue Welt, Gottschalk live

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Wildsau im Blätterwald – Meine Gegendarstellung”
(dagmar-woehrl.de)
CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl erklärt sich “zu den mir im Spiegel und in der Leipziger Volkszeitung gemachten Vorwürfen bzgl. meiner Reise mit Bundesminister Niebel nach Myanmar und Laos”. Siehe dazu auch “Spiegelplag: Schuldig im Sinne des Anklägers”.

2. “Der ‘Spiegel’: Das Sturmgeschütz des Shitstorms”
(blog-cj.de, Christian Jakubetz)
Christian Jakubetz nimmt den Fall von Wöhrl auf: “Es ist journalistisch ziemlich fragwürdig, wenn man jemanden auf drei Seiten mit Vorwürfen überzieht und ihn dann mit seinen Erwiderungen erstens nur ausgesprochen kurz und zweitens auch noch sinnentstellend wiedergibt.” Weiter zum Thema schreiben auch pottblog.de und hrbruns.de.

3. “Debatte um Christian Kracht”
(zeit.de, Adam Soboczynski)
Schriftsteller Daniel Kehlmann äussert sich zur Kritik von Georg Diez an Christian Kracht im “Spiegel”. “Selbst wenn man ihn für weltanschaulich bedenklich hält, müsste man sehr genau überlegen, ob man einen Angriff an diesem Ort in dieser Größe vorbringen muss. Er handelt sich ja um keine kleine Literaturzeitschrift, sondern um das sogenannte ‘Sturmgeschütz der Demokratie'”.

4. “Ja! Kai Winckler erwartet einen Jungen von Prinzessin Victoria”
(stefan-niggemeier.de)
Die WAZ-Zeitschrift “Neue Welt” titelt zur Geburt der Tochter von Prinzessin Victoria von Schweden, Estelle von Schweden: “VICTORIA – Hurra, ein Junge! Silvia weinte vor Glück”. Dazu berichten auch aftonbladet.se und ekstrabladet.dk.

5. “Erde an Planet ‘Gottschalk live’: Aufwachen, anpacken!”
(dwdl.de, Thomas Lückerath)
“Gottschalk live” sei deutsches Fernsehen, wie wir es eben lange nicht mehr gewöhnt waren, schreibt Thomas Lückerath und gibt zu bedenken, dass es nur noch wenige Experimentierflächen gebe. “Das Problem liegt hinter der Kamera. Ein vergleichsweise großes Team hat also in den Wochen vor dem Sendestart nicht gemerkt, dass man eine Sendung plant, die so nicht zum Protagonisten passt und die so wie es beispielsweise in der ersten Sendewoche zu erleben war, auch nicht in den zeitlichen Rahmen passt.”

6. “Bevormundete Bundesrätin”
(medienspiegel.ch, Christof Moser)
Wie PR-Verantwortliche den Kontakt von Journalisten zum Bundesrat erschweren. “Eine gewählte Politikerin, der Bevölkerung verpflichtet, und ein Journalist, der Öffentlichkeit verpflichtet, können kein Wort miteinander wechseln, weil eine PR-Verantwortliche ohne jede demokratisch legitimierte Rolle und nur der Imagepflege verpflichtet, sie erfolgreich daran hindert.”

Gauck, Griechenland, Augstein

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Teure Imagepflege: Wo sind die Grenzen des Wissenschaftsmarketings?”
(scilogs.de, Peter Zekert)
Kritische Anmerkungen zur “Zeit”-Beilage “Wie wird geforscht in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt” von Peter Zekert, der am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig für die Pressearbeit zuständig ist. Es werde Druck aufgebaut, um Universitäten und Forschungseinrichtungen dazu zu bewegen, Anzeigen und Advertorials zu schalten.

2. “Diesen Kuss der ganzen Welt”
(perlentaucher.de, Thierry Chervel)
Thierry Chervel zeigt auf, wie die deutschen Verlage den Begriff “geistiges Eigentum” deuten und nutzen. “Eigentum bezeichnet die Verfügungsgewalt über eine Sache, also eigentlich das Recht, sie zu zerstören. Den Stuhl, den ich besitze, kann ich auch zerhacken und verheizen. Nicht einmal der Urheber eines Werkes aber hat diese Gewaltoption und dieses Recht, zumindest wenn das Werk veröffentlicht ist. Ist ein Werk in der Welt, gehört es ihr auch. Thomas Mann kann nicht in die Nationalbibliothek gehen und auf die Herausgabe des ‘Zauberbergs’ drängen, weil er den Schluss überarbeiten will.”

3. “Journalismus ohne Mut ist etwas ganz Trauriges”
(vocer.org, Ulrike Langer und Stephan Weichert)
Ein Gespräch mit Jakob Augstein, Verleger von “Der Freitag”. “Wir haben eine sehr gut funktionierende Medien- und Presselandschaft, auch wenn die Verlage große Panikstimmung verbreiten. Wenn man ehrlich ist, geht es den Verlagen doch gar nicht so schlecht.”

4. “Gauck in der Filterbubble oder wie wir lernten den Kontext zu ignorieren”
(blog.karlshochschule.de, Patrick Breitenbach)
Patrick Breitenbach prüft Aussagen über Haltungen, die Joachim Gauck angeblich hat. Siehe dazu auch “Was Gauck wirklich gesagt hat” (sueddeutsche.de, Kathrin Haimerl), “Wie das Netz den bösen Gauck erfand” (cicero.de, Christian Jakubetz) und “Wie Gauck durch halbe Zitate zum Sarrazin-Kumpel wird” (medien-monitor.com, Christian Spöcker).

5. “Bild-Zeitung skandalisiert ‘Vagina Monologe'”
(badische-zeitung.de, Julia Littmann)

6. “Im freien Fall”
(sueddeutsche.de, Alex Rühle und Kai Strittmatter)
Ein ausführlicher Lagebericht aus Griechenland (Druckversion): “Auch wenn die Worte ‘Merkel’ und ‘Hitler’ schnell mal zusammengespannt werden in hitzigen Wortgefechten auf den Straßen Athens – nein, man wird nicht beschimpft als Deutscher. Manchmal hält der andere einfach nur inne. ‘Aah, Deutscher.’ Eine Pause, dann, ein wenig bitter, ein wenig ehrfürchtig: ‘Ihr habt noch Lohn, ihr Deutschen. Ihr habt noch Arbeit. Ihr habt noch Rechte.'”

Vor der Kälte sind alle gleich

Kaum einer hätte noch damit gerechnet, aber jetzt ist der Winter doch noch da. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Osteuropa, wie die “Tagesthemen” gestern berichteten.

Da ist der Mann in Tschechien, der morgens eine halbe Stunde länger schlafen kann, weil er seinen Weg zur Arbeit über einen gefrorenen Stausee abkürzt. Ein Sachse erklärt, es sei nun mal Winter, kein Sommer, und konfrontiert den Reporter mit der Frage, ob ihm etwa kalt sei. Tausende haben in Osteuropa keine warme Unterkunft, weil die Stromleitungen kollabieren und die Wasserrohre bersten.

Und auch dafür ist noch Zeit beim Osteuropa-Hopping:

Eine Streife der ukrainischen Miliz in einem Park der Hauptstadt Kiew. Bis unter Minus 33 Grad sind die Temperaturen vergangene Nacht gefallen. Er ist froh, diese Nacht überlebt zu haben — in einem Zelt: Walordimir, 41 Jahre alt. 40.000 Menschen leben in der Ukraine derzeit in Notunterkünften, weit über 100 Menschen sind in Osteuropa bereits erfroren.

Das alles mag stimmen, aber es gibt da ein Problem mit der “Streife der ukrainischen Miliz”:

Auf den Westen der Männer steht “Straż Miejska”, was Polnisch ist und “Stadtpolizei” bedeutet. Polnische Polizisten im Einsatz in Kiew?

Kai Gniffke, Chefredakteur von “ARD Aktuell”, erklärt dazu auf unsere Anfrage:

Uns hat auch bereits ein Zuschauer auf die ukainische Miliz in polnischer Uniform aufmerksam gemacht. Unser Prag-Korrespondent hatte gestern den Beitrag über die Kältewelle in Osteuropa gemacht. Dabei bekam er Material vom MDR in Leipzig zugespielt. Bei der Bearbeitung des Materials hat er dann die sogenannten “Dope-Sheets” verwechselt d.h. die Listen, auf denen vermerkt ist, wo welches Material wann gedreht wurde. Und obwohl er als gebürtiger Sorbe die slawischen Sprachen ganz gut kennt, sind ihm die “polnischen Ukrainer” leider nicht aufgefallen. Und in der Endkontrolle bei uns ist es eben auch nicht aufgefallen. Polen und die Ukraine richten zwar gemeinsam die EM aus, aber die Ordnungshüter treten nach wie vor in unterschiedlichen Uniformen auf – das ist uns jetzt ein für allemal klar.

Mit Dank an Christian L.

Nachtrag, 5. Februar: In der Mediathek von tagesschau.de, in der die ARD bekanntlich keine fehlerhaften Beiträge archivieren will, haben sich die Redakteure für eine kreative Lösung entschieden. Wenn eigentlich die Männer mit den “Straż Miejska”-Westen im Bild wären, erscheint einfach diese Einblendung:

Kurze Unterbrechung. (Diese Bilder dürfen im Internet aus rechtlichen Gründen nicht gezeigt werden.

Jonathan H. und die Geier

Im November fand man in Leipzig in einem Fluss die zerstückelte Leiche eines jungen Mannes. Am vergangenen Freitag konnte er als Jonathan H. identifiziert werden.

Und weil Jonathan H. in seinem Leben Spuren im Internet hinterlassen hat, ist der Fall für die Presse klar: Die “Dresdner Morgenpost” glaubt an einen “Manga-Mord”, und anders noch als am Samstag auf der Titelseite (Ausriss oben rechts) benutzt sie das Wort inzwischen auch ohne Fragezeichen. Und die “Bild”-Zeitung braucht nur zwei Sätze, um Leben und Sterben von Jonathan H. zu charakterisieren:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Sie haben sich großzügig bedient, bei den Fotos, die sie von Jonathan H. gefunden haben. Sie haben sie ebenso großzügig und ohne Rücksicht auf Verluste interpretiert und Jonathan gleich noch einmal auf eine andere Art zu einem Opfer gemacht.

Nicole B. hat Jonathan gekannt. Sie hat gezögert, den Lügen und Zumutungen von “Bild” und “Morgenpost” öffentlich zu widersprechen, weil sie Angst hat, dass deren Leute sich daraus wieder Dinge herauspicken und nach Belieben verdrehen werden. Sie will dem Ruf ihres ermordeten Freundes nicht noch weiter durch Abfalljournalismus schaden.

Aber sie möchte auch nicht schweigen. Mit ihrer Genehmigung veröffentlichen wir ihren Offenen Brief:

Ich weiß, dass die Ursache dieses Briefs für journalistische Verhältnisse weit zurück liegt. Es fiel mir jedoch ungeheuer schwer, die passenden Worte zu finden. Ich sehe aber — außer rechtlichen Schritten — keine andere Möglichkeit, den geschmacklosen Äußerungen und Berichten zu widersprechen.

Es geht um den Mord an Jonathan H., einen Freund. Jemand, der da war, wenn man ihn brauchte. Jemand, der stets sagte: “Das kriegen wir schon wieder hin!”, wenn man selbst nicht mehr daran glaubte. Jemand, der sich kümmerte und sorgte und immer aushalf, wenn es nötig war. Jemand, mit dem man über Gott und die Welt reden konnte und dessen Lächeln seit dem 6. November auf ewig fehlen wird.

Ein Mensch, in dessen Gesicht die Emotion “Wut” nicht passt und der sich wohl eher zurückzog, wenn man ihn kränkte.

Es ist schon schmerzlich genug, dass man uns einen derartigen Freund auf grausame Art und Weise nahm. Doch die “Bild”, “Morgenpost” und andere sind wie Geier, die auch noch das letzte, was von ihm blieb, vor unseren Augen zerstückeln!

Er war — wie viele andere – Anime- und Mangafan. Er war kein Cosplayer. Er bewunderte zwar die Ergebnisse der Cosplayer, jedoch wie viele traute er sich selbst die komplizierte, teure und aufwändige Fertigung eines Kostüms wahrscheinlich nicht zu. Seine Interessen lagen ohnehin wesentlich stärker in Informatik, darüber konnte er stundenlang reden und es auch noch sehr anschaulich erklären.

Entgegen der Berichterstattung war Jonathan auch kein Zeichner. Er hat hin und wieder — aus Interesse — den Stift in die Hand genommen und es sich von denen, die ihre Freizeit mit Zeichnen verbringen, erklären lassen.

Jonathan war auch kein Eigenbrötler — im Gegenteil! Er war stets der erste, der vorschlug, sich mal wieder zu treffen, wenn man sich nach langer Zeit wiedersah. Er war auch immer derjenige, der sich die Zeit für die Treffen nahm und auch immer erschien, wenn man sich traf. Er war ein bekanntes Gesicht, auch bei denen, die nicht viel mit ihm zu tun hatten.

Und ich möchte eines auf jeden Fall und mit Nachdruck klarstellen: Er war auch kein homosexueller Transvestit, der sich prostituierte, wie die “Bild” und ihre Ableger glauben machen möchten!

Dieses eine Foto, auf dem er als Cosplayer dargestellt wird, hat die “Bild” nicht nur unrechtmäßig von der Community genommen und verwendet. Es war auch noch als Scherz gedacht. Es war ein Spaß für alle Außenstehenden und wie man an den Kommentaren der Fotos von Jonathan erkennen kann, fand er es auch witzig.

Cosplay ist eine Abkürzung von “Costume Play”, jedoch wurde — auch wenn das Wort aus dem Englischen stammt — dieser Begriff von den Japanern geprägt, wo Cosplay eine lange Tradition hat. Beim Cosplayen geht es nicht um irgendwelche abstrusen Rollenspiele, auch wenn der Begriff “In Character” (sich wie der Charakter, den man darstellt, verhalten) von vielen betont wird. Dies gilt nur für die Auftritte vor Publikum und Jury.

Beim Cosplay geht es um den Spaß, den man während des Fertigens hat. Der Weg ist das Ziel, dementsprechend stark richtet sich Cosplay auf kreative Problembewältigung, Planung und handwerkliches Geschick aus. Das Ziel ist, mit einem begrenzten Budget dem Original so nah wie möglich zu kommen. Das Tragen des Endprodukts ist nur die “Creme auf der Torte”.

Jonathan war verträumt, aber begeisterungsfähig, kontaktfreudig, rücksichtsvoll, hochintelligent und einfach ein Visionär. Er war stets optimistisch und ihm war zuzutrauen, dass er die Welt verändern konnte, mit all den genialen Ideen, die ihm scheinbar aus dem Nichts zuflogen. Oftmals während des Sprechens über ein Problem, mitten im Satz, weswegen er das Weiterreden als überflüssig ansah, den begonnenen Satz zu beenden, um sich anderen, neuen Problemen zuzuwenden.

Er war auf jedem Treffen dabei und entgegen der angeblichen Aussage seiner Nachbarn sehr gern und oft unter Menschen, bei denen er sich wohlfühlte: uns. Ist es nicht normal, wenn man unter Freunden offener und zugänglicher ist als unter Fremden? Ist man deswegen ein Sonderling und Eigenbrötler??

Er war ein normaler Mensch mit einem normalen Hobby.

Ich kann einfach nicht verstehen, wieso man einen liebenswerten Menschen derartig diffamieren kann, nur, weil sein Hobby außergewöhnlich erscheint. Jonathan oder Angehörige der Anime- und Mangaszene werden nicht nur als “bizarr” bezeichnet und abgewertet. Es werden auch haarsträubende Vermutungen angestellt, wie zum Beispiel, dass Cosplay erotische Rollenspiele wären, wie die “Bild” und “Morgenpost” fälschlicherweise angeben.

Wäre es denn normaler, wenn er sich Nacht für Nacht in irgendwelchen Clubs zugesoffen hätte? Wäre das gesellschaftlich akzeptabler als eine kreative Freizeitbeschäftigung wie Zeichnen, Schneidern und Basteln? Wird Zeichnen, Schneidern und Basteln eine andere Tätigkeit, nur weil man nebenbei beispielsweise “Lady Oscar” im Fernseher schaut oder “Wish” liest?

Sind Anime- und Mangafans weniger zuverlässige, verantwortungsbewusste und engagierte Schüler, Studenten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Menschen mit “normalen” Hobbies?

Die Antwort ist klar und deutlich “Nein”, und wenn irgendwer oder irgendeine Institution darüber urteilt, so urteilt sie in einer Art und Weise, die nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen wie Jonathan missachtet und in den Schmutz zieht, sondern einem Mordopfer auch noch die Schuld an seinem brutalen und grausamen Mord gibt.

Jonathans Mörder hat ihm nicht nur das Leben genommen, sondern auch seine Identität gestohlen, indem er ihn zerstückelte und wie Müll entsorgte. Ich verwende bewusst diese emotionale Metapher, da der (oder die) Täter in meinen Augen nichts anderes als eben das getan hat (haben). Auch fällt es mir, als eine von Jonathans Freunden schwer, mich gefühlsmäßig von seinem schrecklichen Tod zu distanzieren.

Umso mehr schockt es mich, dass Medien wie “Bild” und “Morgenpost” derartig diffamierende Berichterstattung über Jonathan betreiben.

Warum wird ein aufrichtiger und lieber Mensch wie er wegen eines “Partygags” verurteilt und in den Schmutz gezogen? Reicht es nicht, dass er ermordet und zerstückelt wurde? Reicht es nicht, dass im Kreis seiner Freunde eine große Lücke klafft, die niemals wieder gefüllt werden kann? Genügt es nicht, dass wir nur noch trauern können? Dass wir nichts haben, außer der Hoffnung, der oder die Mörder möge/n gefunden werden?

Wie krank ist die Redaktion der “Bild” und ihrer Ableger, ein Mordopfer derartig zu diffamieren und den Lesern zu vermitteln, es wäre an seinem eigenen Tod Schuld?! Es starb ein Freund, ein Sohn, ein Mensch! Und für Verkaufszahlen, Geld und Auflagengeilheit wird sein Name besudelt?

Nicole B.

Bild  

Angels deserve to die

Wenn “Bild” in großer Aufmachung die “kranke”, “irre” oder “bizarre” Welt irgendeiner Person darstellt, so handelt es sich meist um mühsam zusammengetragene Null-Informationen aus dem Leben eines Verbrechers — etwa die “kranke Welt des Killers” oder die “irre Welt des Taxi-Entführers”.

In einem aktuellen Mordfall in Leipzig hat die Polizei noch keinen Täter ermitteln können, den “Bild” großflächig porträtieren konnte. Aber in Zeiten des Internets ist das kein Problem, so dass “Bild” am Montag einfach die “bizarre Welt” des Opfers zeigen konnte:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog. Die bizarre Welt des Jonathan H. (†23)
Schon die Dachzeile, die auch aus einem 35 bis 60 Jahre alten “Bild”-Artikel stammen könnte, ist geeignet, dem geneigten Leser den Ausruf “Selbst schuld!” auf die Zunge zu legen, ohne diesen Gedanken explizit formulieren zu müssen:

Er trug Frauenkleider, lackierte sich die Fingernägel schwarz und empfing fremde Männer. Bis man seine zerstückelte Leiche aus dem Elsterbecken zog.

Die drei Fotos des Opfers, die “Bild” unverfremdet zeigt, sind natürlich “privat” — sie stammen alle aus dem Online-Forum einer Anime- und Manga-Community und wir wären ehrlich gesagt überrascht, wenn “Bild” die Fotografen vorher um Erlaubnis gebeten oder ihnen ein Honorar gezahlt hätte. Aber es sind ja auch ganz wunderbar … äh: “bizarre” Motive, die dem Leser nicht vorenthalten werden sollen und die zu Einleitungen wie dieser einladen:

Der Junge mit den Engelsflügeln – er wurde das Opfer eines bestialischen Killers.

Nun hat der “Junge mit den Engelsflügeln” überhaupt keine Engelsflügel: Wenn man das Originalfoto aus dem Manga-Forum nicht (wie “Bild”) an den Rändern beschneidet, sieht man nämlich ganz gut, dass der “Junge” vor einem Plakat mit Engelsflügeln steht:

“Bild” fragt:

Wer war der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte?

Natürlich kennt die Zeitung die Antwort selbst nicht, aber die “Bild”-Reporter Bernhard Nathke, sonst Fotograf für Klickstrecken wie “Zwei Männer in Auto verbrannt” oder “Nissan Fahrer rast in Stauende und stirbt”, und Johannes Proft, der auch gerne mal mit Menschenknochen im Internet posiert, haben sich offensichtlich viel Mühe gegeben, ein “bizarres” Gesamtbild zusammen zu puzzeln. Sie zitieren “eine ehemalige Bekannte” und “Nachbarn” und malen so das Bild eines “ängstlichen Eigenbrötlers”, der von Hartz IV lebt und “in eine Phantasiewelt” abgetaucht sei (“Gefesselt von japanischen Manga-Comics und Rollenspielen”).

Diese “Phantasiewelt” ist natürlich ein Boulevard-Thema, das die “Bild”-Reporter wunderbar ausschlachten können. Zwar hält die schon genannte Online-Community nicht viele Informationen bereit, dafür aber einige Fotos des Ermordeten. Und weil er so unvorsichtig war, sich zumindest bei einer Gelegenheit mal in Frauenkleidern fotografieren zu lassen, und er wenigstens auf einem anderen, fünf Jahre alten Foto mit schwarz lackierten Fingernägeln zu sehen ist, ist er für “Bild” jetzt “der Tote, der sich in Frauenkleidern fotografieren ließ und seine Fingernägel schwarz lackierte”.

In einer Art Serviceteil beantwortet “Bild” die Frage “Manga & Cosplay — Was ist das eigentlich?”. Nach ein paar sachlichen Informationsbrockenen schwenkt “Bild” zum Ende wieder auf die bekannte Linie:

Auch sexuelle Rollenspiel-Varianten sind bekannt, aber eher selten.

Offenbar nicht zu selten, um auf die vermeintlich anrüchige Information zu verzichten.

Dazu passt auch diese Information, die “Bild” von “Nachbarn” erfahren haben will:

Homosexuell, mit ständig wechselnden Männerbekanntschaften.

Wie sehr sich “Bild” in die Theorie irgendeines perversen Milieu-Mordes verbissen hat, zeigt sich in einem Artikel vom Samstag, bei dem die Geilheit des Autors geradezu aus den Zeilen trieft:

Nach BILD-Informationen wird derzeit jedoch besonders intensiv geprüft, ob das Opfer im homosexuellen Milieu aktiv war, möglicherweise sogar seinen Körper an Freier verkaufte. Der Staatsanwalt, der alle anderen Thesen klar abwies, bleibt bei dieser vorsichtig: “Das möchte ich weder bestätigen noch dementieren.”

Sollte sich dieser Verdacht erhärten und der Täter bald gefasst werden, kann “Bild” in Kürze schon wieder mit dem Porträt irgendeiner “kranken” oder “irren” Welt aufwarten.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

5. Dezember

Die ersten Jahresrückblicke sind bereits gelaufen und haben zurückgeblickt auf ein Jahr voller Katastrophen, Rückschläge und schlechter Nachrichten.

Selbst die heiteren Tiergeschichten hatten 2011 kein Happy End: Heidi, das schielende Opossum aus dem Leipziger Zoo, das die Medien so lange erfreut hatte, ist in diesem Jahr von uns gegangen. Ein Grund mehr, hier im BILDblog-Adventskalender noch einmal an Heidis vielleicht größten Auftritt zu erinnern — zumindest, was die Anzahl der Namensnennungen in einem einzigen Artikel betrifft.

BILDblog vom 24. Februar 2011

Angst, Hass, Titten und der Wetterbericht

Die Berliner Band Die Ärzte hält nicht viel von der “Bild”-Zeitung. Sie hält auch nicht viel von der Leipziger Band Die Prinzen.

Aus diesem Dreieck ist jetzt eine Geschichte in der Leipziger Regionalausgabe von “Bild” entstanden:

Wegen Prinz Sebastian! "Ärzte" legen sich mit ihren Fans an

Die Ärzte sind Deutschlands berühmteste Spaß-Punk-Kombo – doch bei den Prinzen hört für sie der Spaß auf!

Unglaublich, aber wahr: “Den die ärzte ihr offizieller Fanclub” (die Band schreibt sich bescheidenerweise selbst klein) muss das “offiziell” ab sofort streichen, heißt jetzt “Die Ärzte Fanclub” (5560 Mitglieder). Auslöser: Ein Interview mit Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel im Fanclub-Magazin “Prawda”!

Bei Bild.de ist die Überschrift sogar noch ein bisschen eskalativer:

Wegen Interview mit Prinzen-Sänger: "Die Ärzte" zensieren ihre Fans

Tatsächlich scheint das Interview in der Fanclub-Zeitschrift ein Katalysator für die Umbenennung gewesen zu sein:

Ärzte-Manager Axel Schulz auf der Fanclub-Homepage (www.​daefc.​de): “Nach außen wird durch den Zusatz ‘offiziell’ unkorrekterweise vermittelt, der Fanclub würde die Meinung der Band wiedergeben. (…) Höhepunkt war sicherlich das Interview mit Sebastian Krumbiegel.”

So weit das Zitat in “Bild”.

Aus dem, was Schulz noch so schrieb, lässt sich gut erkennen, wie unpassend die “Bild”-Schlagzeile mit der “Zensur” ist:

Wir können und wollen euch die Inhalte der PRAWDA und des Newsletters nicht vorgeben, geschweige denn alle Texte vor Abdruck prüfen. Der mündige Fan ist uns wichtig! Deshalb hat sich das Management, auch im Namen der Band, entschlossen, sich von dem Titel “offiziell” im Fanclub zu verabschieden. Wir sind der Ansicht, dass wir alle davon profitieren werden. Ihr gelangt so zu mehr Unabhängigkeit und werdet als eigenständiges Sprachrohr der Fans wahrgenommen. Auch der Vorwurf der Kritiklosigkeit durch eine vermeintlich zu große Nähe zum Management lässt sich so entkräften.

Und ganz so herzlos, wie “Bild” es darstellt, scheinen Band und Management auch nicht zu sein:

Zudem werden wir die Kosten der Namensumstellung übernehmen, und die versprochenen Ticketvergünstigungen wie bisher beibehalten, so dass aus der Namensänderung den Fans keine Nachteile entstehen.

Auch der Fanclub selbst ist mit der neuen Situation nicht unglücklich, befreit es den Club doch aus einem Dilemma:

Wir können uns eine Fanclubarbeit, bei der jede Kleinigkeit (insbesondere, wenn sie nicht direkt die Band betrifft) dem Management vorgelegt und abgesegnet werden muss, nicht vorstellen, und wir sind auch nicht der Meinung, dass das in eurem Interesse wäre. Das Management teilt in dieser Hinsicht unsere Meinung.

Von der Seite der Mitglieder wiederum hören wir immer wieder die Aussage, dass der Fanclub zu unkritisch berichtet und als reines Promoorgan des Managements fungiert.

Mit Dank an Miguel.

Schade, Maskerade

Scheinbar inspiriert durch Halloween fand es “Bild”-Reporterin Angela Wittig angebracht, in der Leipziger Regionalausgabe über dieses Phänomen zu berichten:

Maskenball im Amtsgericht

Dazu zeigt “Bild” fünf verschiedene Angeklagte, die sich wahlweise hinter einer Kindermatratze, der sächsischen Verfassung oder anderen Gegenständen verbergen, und garniert diese Aufnahmen mit Bemerkungen wie:

MODELL MIEZEKATZE
Tarnung: Fellkapuze und Kätzchen-Notizbuch
Dahinter: Bäcker Oliver Q. (42)
Er nahm 19 Geiseln bei “H&M” (…). Galt aber zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig, bekam vom Landgericht fünf Monate auf Bewährung.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Zeitung, die regelmäßig vom Presserat gerügt wird, weil sie ebenso regelmäßig darauf pfeift, die Identität von Angeklagten zu schützen, zeigt reihenweise Angeklagte, die versuchen, eben nicht in Zeitungen wie “Bild” zu erscheinen, und verspottet sie auch noch.

Interessanterweise scheint Frau Wittig zwei verschiedene Versionen ihres Artikels verfasst zu haben. So behauptet sie online:

(…) Darf man als Angeklagter kostümiert zum Prozess erscheinen?

Eigentlich nicht, denn man muss vor den ehrwürdigen Richtern aufstehen, wenn sie den Saal betreten, um ihnen Respekt zu zollen.

Das ist so nicht richtig. Laut § 178 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) “kann” gegen “Beschuldigte (…), die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen” zwar “ein Ordnungsgeld bis zu eintausend Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden”, dies liegt aber im Ermessen des Richters.

In der gedruckten “Bild” heißt es daher auch korrekterweise:

Ausdrücklich verboten ist die Maskerade übrigens nicht. Laut Prozessordnung müssen die Angeklagten zwar aufstehen, wenn der Richter den Saal betritt. Solange aber die Fotografen und Kameraleute im Prozess sind, toleriert das Gericht die Maskerade. Erst danach müssen die Verkleidungen abgelegt werden.

Übrigens müsste ausgerechnet Angela Wittig am besten wissen, warum es sogar ratsam ist, sich nicht von “Bild” fotografieren zu lassen. Sie selbst war es nämlich, die vor gut zweieinhalb Jahren einen unschuldigen Mann zum Kinderschänder erklärte (BILDblog berichtete). Erst acht Monate später, nachdem BILDblog eine Beschwerde beim Presserat eingereicht hatte, war “Bild” bereit, diesen Fehler einzuräumen (BILDblog berichtete).

Mit Dank an Philipp E.

Bild  

Bubi ist bloß Bengel

Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.

Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:

Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.

Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.

Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!

Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichen Hochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.

Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:

Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.

Dabei erfuhren die Reporter so einiges:

Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”

Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:

“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”

Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 8.4 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.

Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).

Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:

Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!

[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.

Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).

Aber nicht nur das:

Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”

Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.

Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.

Mit Dank an Ares, Frank und Björn.

Hängt ihn, aber gebt ihm keine Tiernamen

“Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig hatte einen Vorschlag, was mit Magnus Gäfgen passieren sollte, einen Kindermörder, der den Staat auch noch auf Schmerzensgeld verklagt hatte:

Meine Meinung: Ab in eine Gemeinschaftszelle und Hofgang mit allen anderen Ganoven!

Man kann sich ausmalen, was mit Gäfgen passieren würde, in einer Gemeinschaftszelle und beim Hofgang mit allen anderen Ganoven. Er würde es nicht überleben.

Man muss in dem Vorschlag von “Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig den Wunsch nach einer Lynchjustiz sehen oder gar den Aufruf dazu. Man kann es deshalb abstoßend finden, dass die “Bild”-Zeitung diese Leserstimme ausgewählt und veröffentlicht hat.

Doch der Presserat hat kein Problem damit. Er lehnte eine Beschwerde von uns schon im “Vorverfahren” ab, ohne überhaupt den Beschwerdeausschuss mit der Sache zu befassen.

Der Inhalt […] spiegelt nach unserer Einschätzung die Meinung eines Teils der Leserschaft wieder. Um allen Lesern zu verdeutlichen, welche Standpunkte in der Bevölkerung zu der Forderung bzw. zu der Person von Magnus Gäfgen existieren, ist es vertretbar, wenn diese Äußerungen dann so veröffentlicht werden. Es sind zwar extreme Meinungen, jedoch verstoßen sie nach unserer Ansicht nicht gegen die Menschenwürde Gäfgens.

Das betrifft auch andere Leserstimmen mit ähnlichem Tenor, die “Bild” und Bild.de im März veröffentlicht hatten, etwa die von Bernd M. Aus Lüdenscheid:

Das gibt es nur in Deutschland. In Amerika wäre diese Bestie kein Thema mehr.

Dass der Presserat das Wort “Bestie” nicht missbilligen würde, hätten wir natürlich vorher wissen können. 2009 urteilte der Beschwerdeausschuss über die “Bild”-Berichterstattung über einen mutmaßlichen Kinderschänder:

Außerdem sieht der Presserat mit der Bezeichnung “Dreckschwein” die Ziffer 1 des Pressekodex verletzt. Die Mehrheit im Beschwerdeausschuss kann der Argumentation der Zeitung nicht folgen, wonach auf diese Weise der vorherrschenden öffentlichen Meinung Ausdruck verliehen werde. Unabhängig von der Schwere der Vorwürfe gilt der Schutz der Menschenwürde. Die Bezeichnung “Sex-Bestie” hingegen hält der Beschwerdeausschuss für zulässig.

Einen Mann lynchen oder hinrichten lassen zu wollen, geht also menschenwürdetechnisch in Ordnung, so lange man ihn nur nicht mit einem Schwein vergleicht.

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