Der niederländische Politiker Geert Wilders, dessen Freiheitspartei bei der Europawahl in seinem Land zweitstärkste Kraft wurde, ist ein Mann fürs Grobe. Den Islam bezeichnet er als “faschistische Ideologie”, den Koran vergleicht er mit Hitlers “Mein Kampf”; er will ein Einwanderungsverbot für Muslime und gegen ihn wird wegen Volksverhetzung ermittelt.
Doch das bedeutet nicht, dass die Medien bei der Berichterstattung über ihn auch gern mal ein bisschen gröber zu Werke gehen dürfen und es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen müssen.
In einem “ZDF-Spezial” zur Europawahl berichtete der Sender gestern abend über Wilders:
Für Empörung in der muslimischen Welt sorgte der von Wilders mit Theo van Gogh produzierte islamkritische Film “Fitna”. Intoleranz mit schlimmen Folgen: Theo van Gogh wurde 2004 ermordet.
Das ist ebenso falsch wie perfide.
Falsch, weil das ZDF Wilders’ Film “Fitna” mit van Goghs Film “Submission” verwechselt. Aus “Submission” stammen auch die Szenen, die der Beitrag zeigt. An dessen Produktion war Wilders aber gar nicht beteiligt. Sein Film “Fitna” ist von 2008, kann also schlechterdings nicht van Goghs Ermordung 2004 zur Folge gehabt haben.
Und perfide, weil die Formulierung des ZDF van Gogh eine Mitschuld an seinem eigenen Tod zu geben scheint. Der umstrittene Filmemacher wurde von einem Amsterdamer marokkanischer Herkunft auf offener Straße erschossen. Der Mörder schnitt ihm dann die Kehle durch und hinterließ ein Bekennerschreiben, indem er seinem Opfer das Messer mit dem Papier in den Leib rammte. Das sind, laut ZDF, die “schlimmen Folgen” von van Goghs eigener “Intoleranz” und der des nicht einmal beteiligten Geert Wilders.
Wenn sie von den Rechtspopulisten kämen, würde man solche Formulierungen und Unwahrheiten als Hetze bezeichnen. Zu Recht.
Nicolaus Fest weiß, dass die “Bild”-Zeitung nach dem Amoklauf von Winnenden nichts Unzulässiges gemacht hat, und er kann es auch beweisen: “Kein einziges presserechtliches Verfahren” habe es gegen die Berichterstattung des Blattes gegeben. So.
Nicolaus Fest ist Mitglied der Chefredaktion von “Bild”. Gisela Mayer ist die Mutter einer jungen Frau, die bei dem Amoklauf getötet wurde. Sie sagt, dass ein Foto ihrer Tochter, das in den Medien gezeigt wurde, von deren jüngerer Schwester in einem ganz privaten Rahmen gemacht worden sei. Die Familie habe nicht eingewilligt, dass es veröffentlicht wurde. “Es war uns bewusst, dass wir einen Anwalt beauftragen könnten, um dagegen vorzugehen”, sagt sie. “Aber wir waren zu schwach, trauerten, waren menschlich am Ende.”
Beide sitzen nur wenige Meter auseinander auf dem Podium der Tagung des “Netzwerks Recherche”, das am vergangenen Samstag über die Grenzüberschreitungen bei der Berichterstattung über den Amoklauf diskutiert. “Geklaute Fotos, verletzte Intimsphäre — Medien ohne Moral?” ist der Titel, und Nicolaus Fest hängt in einer Weise in seinen Stuhl, dass sein ganzer Körper demonstriert, wie sehr ihn die Diskussion langweilt und nervt.
Eigentlich hätte er stattdessen zum Thema “Leser-Reporter” diskutieren sollen, aber in der Runde ist auch der ehemalige BILDblogger Christoph Schultheis, und Fest weigert sich, mit ihm auf einem Podium zu sitzen.
Frank Nipkau, der Chefredakteur der “Winnender Zeitung”, gibt sich große Mühe, Fest nicht anzusehen, wenn er erzählt von der “Jagd auf die Opfer” und davon, dass sogar Polizeistreifen nötig waren, um Angehörige vor Journalisten zu schützen. Seine Zeitung habe sich von einfachen Regeln leiten lassen: keine Opferfotos, keine Berichte von Beerdigungen, Vorsicht mit Stellungnahmen traumatisierter Kinder. “Es war eine einfache Haltung”, sagt Nipkau, “aber schon die erregte bundesweite Aufmerksamkeit.”
Nicolaus Fest hält das alles für “standeswidrige Verlogenheit”: “Es ist unsere Aufgabe, Informationen zu sammeln und zu berichten. Dass dabei manchmal Fehler passieren, ist sicher richtig. Aber bei einem so wichtigen Zeitereignis wie diesem überwiegt das Berichterstattungsinteresse der Öffentlichkeit die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.” Die “Bild”-Zeitung habe sich von mehreren, auch externen, juristischen Experten beraten lassen, ob die Veröffentlichung der Fotos der (teils minderjährigen) Opfer erlaubt sei. Keiner habe Bedenken gehabt, sagt Fest. Andere Medienvertreter auf dem Podium sind erstaunt.
Manche Argumente versteht Fest einfach nicht. Von Gisela Mayer will er wissen, ob sie denn nun für oder gegen die Veröffentlichung von Fotos der Opfer sei, die Fronten seien ihm da nicht ganz klar. Sie erklärt ihm dann geduldig, aber vermutlich vergeblich, dass es auf den Kontext ankomme: Die Fotos der Opfer, wie sie der “Focus” auf seinem Titel gezeigt habe, seien für sie eine Art Traueranzeige und ein respektvoller Umgang gewesen. Unzulässig sei es dagegen, die Bilder zu benutzen, um sensationsheischend und falsch zu berichten.
Fest kann auch nicht nachvollziehen, warum man die riesige Fotomontage von “Bild”, die den Amokläufer in Kampfmontur zeigte, für eine unzulässige “Heroisierung” hält: Mitglieder von Truppen wie der GSG9 oder der KSK zeige man doch auch regelmäßig in solchen Posen. Dieses Missverständnis lässt sich auf dem Podium nicht ausräumen, aber immerhin gelingt es mehreren Teilnehmern mit vereinten Kräften, Fest darauf aufmerksam zu machen, dass der Amokläufer eine solche Kampfuniform nicht einmal getragen habe (vgl. BILDblog vom 13. März 2009). Fest sagt, das höre er gerade zum ersten Mal, aber wenn das stimme, müsse er dem Sprecher des Presserats, der neben ihm sitzt und die entsprechende Rüge für “Bild” erläutert hat, recht geben — “so schwer mir das fällt”.
Dennoch: “Hier wird eine Selbstskandalisierung betrieben, die wirklich Quatsch ist”, meint Fest. Natürlich gebe es Anlässe, bei denen Medien versagt hätten, der Fall Sebnitz zum Beispiel. Aber Winnenden gehöre wirklich nicht dazu. Er habe Verständnis dafür, dass die Berichterstattung für Frau Mayer schmerzhaft gewesen sei — “ja, das wühlt noch mal auf”, wenn man die Bilder und Berichte über die getötete Tochter sehen müsse — “aber wenn man eine Presse haben will, die diesen Namen verdient, muss man das leider in Kauf nehmen.” Und wenn man die Veröffentlichung von Fotos jugendlicher Täter oder Opfer von der Zustimmung der Eltern abhängig machen wolle, “dann kann man den Journalismus gleich vergessen.”
Journalismus? Frank Nipkau bestreitet, dass es darum bei vielen Berichten über Winnenden überhaupt ging: “Das war teilweise Gewaltpornographie. Das hat mit unserem Informationsauftrag nichts zu tun.”
Die Mutter Gisela Mayer kritisiert auch die Aufmerksamkeit, die viele Medien dem Amokläufer hätten zukommen lassen. Dieser Nachruhm sei Teil dessen, was Amokläufer antreibt. Den Täter groß in Szene zu setzen, wie dies geschah, könne nachweislich Nachahmungstäter animieren. “Schwachsinn, Schwachsinn, Schwachsinn”, zischt Nicolaus Fest an dieser Stelle vor sich hin.
In Schweden hat die Piratenpartei auf Anhieb einen Sitz im Europaparlament erobert. Auch in Deutschland stimmten gestern bemerkenswerte 0,9 Prozent für diese junge Partei, die von der “Bild”-Zeitung “Gaga-Verein” genannt wird.
Eigentlich war es also eine gute Idee von der deutschen Nachrichtenagentur dpa, kurz zu erklären, wer diese Piraten sind. Wenn sie es denn getan hätte. Stattdessen veröffentlichte sie gestern Abend um 21.22 Uhr und noch einmal um 22.50 Uhr folgenden Text:
Schwedische Internet-Piraten im EU-Parlament
Bei den Europawahlen in Schweden hat die für kostenlose Downloads aus dem Internet eintretende Piratenpartei aus dem Stand 7,4 Prozent der Stimmen geholt. (…) Hintergrund für die Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. Die Börse ermöglicht das kostenlose Herunterladen von Musik, Filmen und Computersoftware aller Art. (…)
Richtig ist, dass die Piratenpartei für eine radikale Änderung des Urheberrechts kämpft. Das auf “kostenlose Downloads aus dem Internet” zu reduzieren, ist schon gewagt. Eindeutig falsch ist aber die Behauptung, dass das Pirate-Bay-Urteil Hintergrund der Kandidatur war. Das ist schon zeitlich unmöglich, weil es erst am 17. April 2009 fiel. Die Piratenpartei wurde am 1. Januar 2006 gegründet und hatte noch im selben Jahr angekündigt, bei der Europawahl antreten zu wollen. Piratenpartei und Pirate Bay entstammen derselben Bewegung, sind aber nicht direkt miteinander verbunden.
Die meisten haben auch gleich Foto und Bildtext von dpa übernommen, in dem es schlicht und falsch heißt:
Nachtrag, 15 Uhr. Um 13:21 Uhr hat dpa die Meldung teilweise korrigiert. In einer Berichtigung heißt es nun: “Hintergrund für den Erfolg der Kandidatur war die Verurteilung von vier Verantwortlichen der Internet-Tauschbörse The Pirate Bay wegen Verletzung des Urheberrechts. ”
Eine halbe Stunde später veröffentlichte die Nachrichtenagentur eine neue, differenziertere Meldung “Schwedische Piratenpartei auf Erfolgswelle”, mit der die meisten der oben genannten Online-Medien die alte Meldung ersetzt haben. “Focus Online” hat stattdessen eine etwas kryptische Korrektur veröffentlicht.
Die Online-Redaktion der “Frankfurter Neuen Presse” reagiert angesäuert auf die Kritik an der falschen Meldung:
Als ob wir diese Meldung wider besseres Wissen veröffentlicht hätten. Wie sollen Kunden von Nachrichtenagenturen, also Zeitungen, jede einzelne Meldung überprüfen? Hunderte, tausende täglich. Die Agenturen sind dazu da, dass sie uns korrekt recherchierte Meldungen und Artikel zukommen lassen. (…)
Erinnern Sie sich an die Geschichte, amerikanische Wissenschaftler hätten herausgefunden, dass Twitter und Facebook unmoralisch machen? Für große Verbreitung dieser Falschmeldung im deutschsprachigen Raum sorgte die Düsseldorfer Nachrichtenagentur “Global Press” mit ihrem Dienst “Medical Press”. Leider haben die Mitarbeiter es — trotz einer Anfrage von uns — noch nicht geschafft, das zu berichtigen.
Kein Wunder: Sie sind ja voll damit beschäftigt, neue Meldungen für ihre Kunden wie “Focus Online” zu produzieren, zum Beispiel diese, die neue wissenschaftliche Ergebnisse mit der schlichten Überschrift zusammenfasst:
Homöopathie wirkt
Das wäre nichts weniger als eine Sensation, denn bislang ist es nicht gelungen zu beweisen, dass homöopathische Mittel besser wirken als Placebos, das heißt: Die Heilungserfolge lassen sich allein durch Faktoren wie den Glauben an die Wirksamkeit des Mittels oder auch die größere Zuwendung durch den Arzt erklären.
Als Quelle nennt “Focus Online” (bzw. “Medical Press”) die kleine Frauenzeitschrift “feminin & fit”. Die ganze Nachricht beruht ausschließlich auf einer Pressemitteilung von “feminin & fit”. Die beruft sich auf eine neue Studie von Professor Claudia Witt, die an der Berliner Charité den Projektbereich Komplementärmedizin leitet und dabei offenbar ausdrücklich den Auftrag hat, zur größeren Akzeptanz der umstrittenen Heilkunde beizutragen.
Doch die Aussagekraft ihrer Untersuchung ist in Wahrheit sehr begrenzt. Die Studie beruht im Wesentlichen darauf, Patienten in Praxen, die auch homöopathisch behandeln, nach acht Jahren zu fragen, ob es ihnen besser geht. Ein sehr großer Teil sagt, dass er sich besser fühlt — aber ob das an den homöopathischen Medikamenten liegt oder zum Beispiel dem Placebo-Effekt geschuldet ist, kann die Studie gar nicht beantworten.
Daraus zu folgern: “Homöopathie wirkt”, ist Unfug. Trotzdem hat auch diese Schein-Meldung dank “Medical Press” und der abgeschriebenen Pressemitteilung einer weithin unbekannten Frauenzeitschrift weite Verbreitung gefunden. Neben “Focus Online” brachte sie u.a. — Überraschung! — die “Bild”-Zeitung (“Homöopathische Mittel wirken”).
Doch die Medien wollen nicht nur an die magische Wirkung von sozialen Netzwerken und Flüssigkeiten ohne Inhaltsstoffe glauben.
Wissenschaftler in Seattle haben gerade eine Studie über die Wirksamkeit von Akupunktur veröffentlicht. Sie teilten über 600 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen in vier Gruppen ein. Alle bekamen die konventionelle Therapie, aber eine Gruppe wurde zusätzlich nach den Regeln der Akupunktur behandelt, die zweite wurde einfach irgendwohin gestochen und bei der dritten wurden die Stiche nur mit Zahnstochern simuliert. Bei der vierten Gruppe blieb es bei der Standardtherapie. Das Ergebnis ist ebenso eindeutig wie verblüffend: Jede Behandlung war wirksamer als die konventionelle Behandlung allein, aber es machte keinerlei Unterschied, ob die Patienten “richtige” Akupunktur erhielten oder nur eine Simulation.
Die Studie ist ein überzeugender Beleg für die erstaunliche Wirksamkeit des Placebo-Effektes. Wer glaubte, eine zusätzliche Behandlung mit Akupunktur zu bekommen, dem ging es besser — egal wohin er gestochen wurde und ob er überhaupt gestochen wurde. Wenn die Studie etwas beweist, dann dass Akupunktur gegen chronische Rückenschmerzen nicht wirkt.
Und wie fasste “Focus Online” (dank unserer Freunde von “Medical Press”) das Ergebnis zusammen?
Akupunktur hilft bei Rückenschmerzen besser als Standardtherapie
Und die Nachrichtenagentur AP titelte:
“Akupunktur lindert Rückenschmerzen besser als normale Therapie”
— und brachte diese Halluzination u.a. zu WDR 2 und Welt Online.
Vermutlich wäre es sinnlos, ihnen zu schreiben, dass zumindest diese Studie das Gegenteil ergeben hat. Der Glaube versetzt Berge.
1. Einspruch der NZZ gegen die Jury des hessischen Kulturpreis (nzz.ch, Markus Spillmann)
Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, hat einen Brief an Hessens Ministerpräsident Roland Koch verfasst. Darin äussert er Besorgnis und Unverständnis über die Aberkennung des hessichen Kulturpreises an Navid Kermani. Auslöser der Aberkennung ist ein Artikel Kermanis in der NZZ und die Reaktion von Kardinal Lehmann. Die dazu passenden Fragen stellt Martin Mosebach in der FAZ.
2. Was Medien von Microsoft lernen können (blog.agoeldi.com, Andreas Goeldi)
Andreas Goeldi widerspricht der Meinung, dass Medien mit Micro-Payments erfolgreich sein werden. Goeldi schlägt vor, die User nicht für einzelne Artikel sondern für attraktive Pakete bezahlen zu lassen. Vorbild ist für ihn hierbei Microsoft mit dem Office-Paket.
3. Twitter und Facebook verringern Abhängigkeit von Google (faz-community.faz.net, Holger Schmidt)
Holger Schmidt, besser bekannt als Netzökonom, analysiert eine Studie des Marktforschungsunternehmens Hitwise. Er kommt zu der Erkenntnis, dass schon heute mehr und mehr Traffic auf Medienseiten über Twitter und vor allem Facebook generiert wird. Die führe, bei konsequenter Nutzung, vor allem zu einer sinkenden Abhängigkeit von Google.
1. Zu Besuch beim “Guardian” (blog.handelsblatt.de/indiskretion, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer besucht den “Guardian” in London und ist angetan: “So werden Medienhäuser der Zukunft aussehen”. Vor allem die Audio- und Video-Infrastruktur des “Guardian” sei aussergewöhnlich gut ausgebaut.
2. Wie ein Niederländer etablierte Nachrichtenagenturen aufmischen will (axel-springer-akademie.de, Thomas Wanhoff)
Michael van Poppel kennt wohl kaum jemand, sein Twitter-Dienst @breakingnews wird hingegen von 330.000 Abonennten gelesen. Und der gelernte Journalist plant Grosses: BNO News soll profitabel und zu einem vollwertigen Nachrichtendienst ausgebaut werden.
3. Uli Hoeness, Helmut Markwort und die Internet-Situation (probek.net, Kai Lorentz)
Bayern-Manager Uli Hoeness spricht im “Sonntags-Stammtisch” des Bayrischen Rundfunks über die Gefahren des Internets und hätte wohl besser geschwiegen. Und Focus-Chef Helmut Markwort hält so ziemlich alle, die im Internet publizieren (und nicht für klassische Medien schreiben) für “Narren die an Klowände schreiben”.
Alan Rusbridger, Chefredakteur des englischen Guardian, sieht die Zeitungskrise nüchtern: “Wir müssen uns darauf einrichten, künftig Journalismus mit weniger Leuten zu machen, und demütiger werden.” Seinen Berufskollegen sagt er: “Journalisten müssen über die Entwicklung des Journalismus nachdenken, nicht über Businesspläne. Schon gar nicht dann, wenn wie jetzt niemand weiß, wie unsere Geschäftsmodelle künftig aussehen werden.” Ein Gespräch mit Rusbridger, das Jakob Augstein und Philip Grassmann geführt haben, gibt es hier (vimeo.com, 7:50 Minuten).
Leser können die Inhalte des Focus-Sonderhefts “Grüner Leben” bestimmen. Nach der Wahl des Themenschwerpunkts können die Leser Themen in Form von Berichten, Reports oder Reportagen auswählen. Leider holt man sich dabei fast den Klicktod, kurz, die Usability ist grauenhaft – vielleicht hält sich auch deshalb die Teilnahme der Leser in Grenzen.
Autorin Else Buschheuer glaubt, dass sich “Twittern zum Bloggen wie Methadon zum Heroin” verhält. “Jeden Tag klicken meine Leser meine Internet-Seite an und lesen über meine Einsamkeit, mein Scheitern, meine kleinen Freuden. Schreibe ich zwei Tage nicht, krakeelen sie. Aber sie kaufen meine Bücher nicht, ich habe sie total verzogen.”
“Das klassische Küchenradio könnte schon bald ausgedient haben, denn die Anzahl der Sender, die man mit einem derartigen Gerät empfangen kann, ist äußerst begrenzt. Anders im Internet: Hier gibt es mittlerweile Tausende von Radiostationen, die ihre Programme streamen.”
Die Aktion zur Rettung von “6 vor 9” war erfolgreich; in nur drei Tagen wurden 2000 Euro gesammelt. Vielen Dank, das ist grossartig! Jan Tißler schreibt in einem Beitrag, was man seines Erachtens aus der Rubrik lernen kann.
“Zu schön, um nicht wahr zu sein”, sagt der Journalist — und verzichtet gerade bei den unwahrscheinlichen Geschichten gerne auf Skepsis und Recherche.
Diese Geschichte, die man u.a. bei “Focus Online” findet, ist angesichts des gegenwärtigen Hypes um Online-Angebote wie Facebook oder Twitter aus Sicht der Journalisten eine schöne Geschichte:
Vor allem junge Menschen sollen durch zu viel Kommunikation über Portale wie Twitter oder Facebook auf die Dauer Schaden nehmen, wie nun Gehirnforscher der University of Southern California herausgefunden haben. Um körperlichen Schmerz anderer zu erkennen, benötigt das menschliche Gehirn nur Sekundenbruchteile. Doch um soziale Gefühle wie Mitleid oder Bewunderung zu entwickeln, ist wesentlich mehr Zeit notwendig, wie das britische Portal “Mail Online” die Erkenntnisse der Wissenschaftler zitiert. Da das Gehirn von Jugendlichen noch nicht voll ausgebildet ist, könnte zu viel “Twittern” die Entwicklung beeinflussen. (…)
Die Kommunikation über das World Wide Web laufe zu schnell für den “moralischen Kompass” des Gehirns ab, so dass Jugendliche mit der Zeit dem Leid anderer gegenüber gleichgültig würden. Behaupten Wissenschaftler. Behauptet “Mail Online”. Behauptet “Focus Online”.
Der britische Arzt, Medienkritiker und “Guardian”-Kolumnist Ben Goldacre hingegen hatte die originelle Idee, die Meldung mittels etwas, das man früher “Recherche” nannte, zu überprüfen. Er besorgte sich die Studie, auf die sich die “Daily Mail” bezieht und stellte fest, dass sie zwar herausfand, dass das menschliche Gehirn länger braucht, um auf emotionalen Schmerz zu reagieren als auf körperlichen Schmerz — von Twitter, Facebook oder irgendwelchen anderen Internet-Angeboten darin aber keine Rede war.
Goldacre fragte sicherheitshalber bei einem der Autoren der Studie nach, und Professor Antonio Damasio antwortete ihm:
“Wir haben keine irgendwie geartete Verbindung zu Twitter hergestellt. (…) In unserer Untersuchung werden weder Twitter noch irgendein soziales Netzwerk erwähnt. Wir haben nicht über sie zu berichten. (…) Die Verbindung zu Twitter und anderen sozialen Netzwerken ergibt, soweit ich es überblicken kann, keinen Sinn.”
Und wie kommt dann der Online-Auftritt der vermeintlich seriösen Schweizer Zeitung “Tagesanzeiger” zu einem Zitat, in dem Mary Helen Immordino-Yang, eine der Autorinnen der Studie, Facebook und Twitter ausdrücklich erwähnt?
Ganz einfach: Der Autor hat die Wörter “Facebook” und “Twitter” und überhaupt den Zusammenhang zu Online-Angeboten offenbar nachträglich in ein wörtliches Zitat der Wissenschaftlerin aus der Pressemitteilung der Universität eingefügt:
“If things are happening too fast, you may not ever fully experience emotions about other people’s psychological states and that would have implications for your morality,” Immordino-Yang said.
“Wenn rund um die Uhr Nachrichten über Twitter und Facebook einprasseln, kann man sich nicht voll auf die Gefühle anderer Menschen konzentrieren, und das wirkt sich negativ auf die Moral aus”, fasst die Forscherin Mary Helen Immordino-Yang von der Universität Süd-Kalifornien die Forschungsergebnisse zusammen.
Nachtrag, 21. April. “Focus Online” hat seinen Artikel um einen Nachtrag ergänzt und benutzt darin als originellen Euphemismus für “falsch” den Ausdruck “in die Kritik geraten”.
Beim Online-Angebot des “Tagesanzeiger” wurden die Wörter “über Twitter und Facebook” aus dem wörtlichen Zitat entfernt, der ganze andere Unsinn aber stehen gelassen. Auf E-Mail-Anfragen von BILDblog haben weder Autor Reto Knobel noch Redaktionsleiter Peter Wälty geantwortet.
Report Mainz berichtet vom Parteitag der NPD. Eine Reporterin testet Parteimitglieder, ob sie Kopfrechnen können und will wissen, was 7 x 9 ist. Am Schluss kommt der Bericht, durch den ständig ein Fuchs läuft, zum Schluss: “Fragen beantworten oder rechnen können ist nun mal nicht jedermanns Ding.” Die Menge im Saal skandiert: “Die Presse lügt, die Presse lügt, …”
“Kampfeslust in Zeiten der Medienkrise: Die Nachrichtenagentur AP will nicht länger hinnehmen, dass ihre Inhalte von anderen Webseiten verwendet werden. Sie plant einen Aufstand der News-Produzenten gegen Aggregatoren und Abschreiber.”
“Noch vor wenigen Monaten dominierten in der deutschen Wirtschaftsberichterstattung neoliberale Positionen. Alles, was mit Regulierung zu tun hatte, war Teufelszeug. Das hat sich im Zuge der Finanzkrise ins Gegenteil verkehrt: Heute besteht die Gefahr, dass nur noch auf der Linie staatlicher Interventionen argumentiert wird. Früher waren die Manager die Könige, heute ist es Finanzminister Peer Steinbrück.”
“Das Bildungsmagazin FOCUS-SCHULE klagt gegen das Land Baden-Württemberg auf Auskunft. Die Zeitschrift fordert von Kultusminister Helmut Rau den presserechtlich garantierten freien Zugang zu staatlichen Informationen ein.”
“Viele Zeitungen werden sterben. Es werden die überleben, die Qualität liefern und Haltung zeigen. Medien sind eine Pudelzucht. Die heutigen Journalisten sind Schosshündchen, sehen alle schick aus und sind gut dressiert. Die Leser wollen aber Wölfe anstatt Pudel.”
Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner: “Hätten Sie vor einem Jahr 1000 Euro in Aktien des amerikanischen Medienkonzerns Gannett investiert, hätten Sie heute noch 69 Euro übrig. Hätten Sie damals für den gleichen Betrag Holsten gekauft, hätten Sie viel Bier trinken können und könnten obendrein noch für 238 Euro Leergut einlösen.”
Nicht erschrecken: BILDblog verändert sich. Aber wir bleiben uns treu.
Aus BILDblog wird am Montag BILDblog für alle. Wir schauen über “Bild” hinaus und nehmen uns auch anderer Medien an. Sie haben es sich verdient.
Es ist nicht so, dass uns der Stoff ausgegangen wäre. Wir haben zwar den Eindruck, dass die Zahl der besonders krassen Lügengeschichten in “Bild” seit einiger Zeit zurück gegangen ist; der neue Unterhaltungsschef scheint weniger auf erpresserische Methoden bei der Informationsbeschaffung zu setzen, und Bild.de ist nicht mehr ganz das Schleichwerbeportal, das es einmal war.
Andererseits spricht wenig dafür, dass “Bild” im Kern eine bessere Zeitung geworden wäre und plötzlich Respekt vor so abwegigen Dingen wie der Wahrheit oder den Persönlichkeitsrechten von Menschen entwickelt hätte.
Aber es ging uns nie nur um die “Bild”-Zeitung, sondern um ihre Macht als (trotz allem noch) viel gelesenes und für wichtig genommenes Leitmedium. Von Anfang an stand über unserer Arbeit der Satz: “Was heute in ‘Bild’ steht, steht morgen überall”. In den vergangenen viereinhalb Jahren haben wir eine Menge darüber erzählt, was so “in ‘Bild'” steht. Jetzt haben wir Lust, uns dem “überall” zuzuwenden.
Beim Amoklauf von Winnenden zeigte nicht nur die “Bild”-Zeitung mit ihrer Mischung aus Schlampigkeit und Skrupellosigkeit ihr wahres Gesicht. Auch die Berichterstattung vieler anderer Medien über dieses Ereignis war erbärmlich. Am Sonntag versuchte die “Bild am Sonntag”, mit privaten Bildern der Opfer auf der Titelseite Auflage zu machen — am Montag erschien der “Focus” mit fast identischem Cover. Fernsehsender überschritten viele Grenzen. Die “Welt am Sonntag” veröffentlichte ein großes Foto von einem Jungen und erweckte den Eindruck, es handele sich um den Attentäter — dass es sich nur um einen unschuldigen Besucher der Trauerfeier handelte, stellte das Blatt auch im Nachhinein nicht klar; Nachfragen ignorierte der Chefredakteur Thomas Schmid einfach.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie deutsche Medien ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Oft fehlt es schon an der schlichten Bereitschaft, eigene Fehler zu korrigieren. Sinkende Werbeerlöse und der Medienumbruch bedrohen gerade die Qualität: Die Verlockung wächst, mit Schleichwerbung die Einnahmen aufzupeppen; oft fehlt es an Geld oder Personal, um nicht nur Texte von Kollegen oder PR-Leuten abzuschreiben, sondern selbst zu recherchieren. Noch nie war es so leicht für Falschmeldungen, in kurzer Zeit weite Verbreitung zu finden.
Was wir dagegen setzen wollen, ist dasselbe wie bisher: Aufklärung. Wir glauben, dass es hilft, die Fehler und Abgründe öffentlich zu machen — die kleinen Pannen und die große Desinformation. Damit deutlich wird, wie wichtig es ist, in Qualität zu investieren.
Im vergangenen Dezember haben wir das Konzept “BILDblog für alle” schon einmal ausprobiert und unter anderem berichtet, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im Reiseteil für die Lufthansa wirbt und “Spiegel Online” im Autoteil für Audi, wie der “Remscheider General-Anzeiger” an dem Versuch scheitert, über HIV und Aids aufzuklären, und wie der “Spiegel” die Geschichte klittert, um Stimmung für ein Konjunkturprogramm zu machen. An diesen Versuch wollen wir ab Montag anknüpfen. Und wir sind dabei, wie schon bisher, auf Ihre Mithilfe angewiesen. Bitte unterstützen Sie uns durch “sachdienliche Hinweise”, wenn Ihnen Fehler und Falschmeldungen auffallen, in welchem Medium auch immer. Nach dem alten BILDblog-Motto: “Die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme.”
Stefan Niggemeier und Lukas Heinser sind wie bisher dabei; neu ins Team kommt der freie Journalist, Blogger und Journalistenausbilder Christian Jakubetz. Den Namen BILDblog wollen wir beibehalten, weil er für die Art von unideologischer Medienkritik steht, die wir weiter pflegen wollen. Es ist zu befürchten, dass “Bild” darin auch in Zukunft eine tragende Rolle spielen wird.
Danke für die sensationelle Unterstützung in den vergangenen fast fünf Jahren! Wir hoffen, dass Sie uns gewogen bleiben.