Es gibt viele Beispiele dafür, wie deutsche Medien ihrer Verantwortung nicht gerecht werden: Sie verbreiten falsche Informationen, verletzen Persönlichkeitsrechte, fahren üble Kampagnen. Oft fehlt es schon an der schlichten Bereitschaft, eigene Fehler zu korrigieren. Schrumpfende Redaktionen, höheres Tempo, weniger Recherche — noch nie war es so leicht für Falschmeldungen, in kurzer Zeit weite Verbreitung zu finden.
Was wir dagegen setzen wollen, ist Aufklärung. Wir glauben, dass es hilft, die Fehler und Abgründe öffentlich zu machen, die kleinen Pannen und die große Desinformation.
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Diese Meldung geht gerade um die Welt: In der nordenglischen Stadt Middlesbrough hat sich die Zahl der jährlichen Syphilis-Erkrankungen von unter zehn auf 30 erhöht. Peter Kelly, ein Verantwortlicher der örtlichen Gesundheitsbehörde, warnt deshalb vor ungeschütztem Sex mit wechselnden Geschlechtspartnern.
Das ist in dieser Form natürlich noch kein Anlass für internationale Schlagzeilen. Doch die Medien haben ihre industrielle Entenproduktion inzwischen soweit perfektioniert, dass das als Rohstoff schon ausreicht.
Ausgangspunkt war, wie so oft, das britische Revolverblatt “The Sun”. Es griff einen Satz Kellys aus der Safer-Sex-Warnung auf: “Soziale-Netzwerk-Seiten erleichtern es Menschen, sich mit anderen für zwanglosen Sex zu treffen.” Die “Sun” verknüpfte diese schlichte Beobachtung mit Zahlen aus dem vergangenen Monat, wonach die Menschen (zwar nicht in Middlesbrough, aber in Städten in der Nähe) überdurchschnittlich häufig solche sozialen Netzwerke nutzten. Sie spitzte beides auf “Facebook” zu, erfand einen kausalen Zusammenhang und titelte konsequent: “Sex diseases soaring due to Facebook romps” (frei übersetzt: Geschlechtskrankheiten explodieren wegen Facebook-Sex).
Damit war die Geschichte zwar falsch, aber spektakulär genug, ihre Reise um die Welt anzutreten, wobei die Lügen, die ihr zugrunde lagen, immer weiter ausgeschmückt wurden. Als eine der ersten schrieb die Online-Redaktion des “Daily Telegraph” die “Sun”-Meldung ab und veröffentlichte sie ohne Quellenangabe. Das war praktisch, weil sich weitere Abschreiber nun auf diese vermeintlich seriösere Zeitung berufen konnten. “Facebook ‘linked to rise in syphilis'” (“Facebook ‘mit Syphilis-Anstieg in Verbindung gebracht'”) titelte der “Telegraph” und legte somit gleich dem Gesundheitsbeamten den Zusammenhang in den Mund, den die “Sun” erfunden hatte.
Die britische Zeitung “Daily Mail”, der amerikanische Fernsehsender “Fox News” und viele andere verbreiteten die Falschmeldung der “Sun” weiter. Nach Deutschland schaffte es die Meldung mit tatkräftiger Unterstützung einer Hallenser Firma namens dts (“Deutsche Textservice Nachrichtenagentur”), die dem schon vorhandenen Unsinn weitere Fehler hinzufügte. Auch die einschlägig bekannte Düsseldorfer Agentur “Global Press” mischte mit ihrem Dienst “Medical Press” wieder mit.
Vor allem Online-Redaktionen, die auf irgendeinem Weg mit der offenbar ansteckenden Geschichte in Kontakt kamen, waren sofort von ihr infiziert. Sie breitete sich in Österreich (“Kurier”) ebenso aus wie in der Schweiz (“20 Minuten”), erreichte das deutschen Schwulen-Portal “queer.de” und das Jugendportal der “Süddeutschen Zeitung” “jetzt.de” — und natürlich: Bild.de.
“Facebook wird in Großbritannien als Sex-Kontaktbörse benutzt”, heißt es dort einigermaßen sinnlos in der Titelzeile, um dann erstaunlich skeptisch von einer “gewagten These” zu sprechen. Die Geschichte von Peter Kelly hat auf Bild.de inzwischen folgende Märchenform angenommen:
Nachdem er beobachtete, dass die Zahl der Syphilis-Erkrankungen in den britischen Orten Sunderland, Durham und Teesside um das Vierfache angestiegen sind, schaute er sich das Nutzerverhalten von Facebook an. Das Ergebnis: In den Orten mit hoher Syphilis-Rate nutzten auffällig viele Personen den Online-Dienst.
Macht Facebook krank?
Eine britische Untersuchung lässt vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen häufiger Facebook-Nutzung und der Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Syphilis gibt. “Diese Seite vereinfacht die Suche nach Sexabenteuern”, so die Forscher.
(“B.Z.”, 25. März)
Nichts davon ist wahr; mit Sunderland und Durham hat Kelly ohnehin gar nichts zu tun, die Städte waren nur die beiden mit den hohen Facebook-Nutzerzahlen, die die “Sun” unauffällig mit in das Gemenge eingerührt hatte, um überhaupt erst einen Schein-Zusammenhang zu konstruieren.
Die Gesundheitsbehörde hat inzwischen klargestellt, dass sie mit ihrer Mitteilung nur die Risiken von Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern herausstellen wollte: “Wir haben nicht behauptet, dass Soziale Netzwerke den Anstieg in der Zahl von Syphilis-Fällen verursachen.”
Und vielleicht lohnt es sich, am Ende den einen Satz von Kelly aus der “Sun” zu zitieren, von dem aus sich die ganze Falschmeldungsepidemie weltweit ausbreitete. Gesagt hatte er bloß: “Ich habe gesehen, dass mehrere der [von Syphilis] Betroffenen ihre Sex-Partner durch solche Sozialen Netzwerke kennen gelernt hatten.”
Das Erstaunliche ist, dass die Medien sich überhaupt noch die Mühe geben, von einer Tatsache auszugehen, die sie dann verdrehen, verfälschen und übertreiben, anstatt sich gleich Geschichten komplett selbst auszudenken — wenn ihnen doch so offenkundig egal ist, ob es stimmt, was sie berichten. Aber vielleicht wäre gerade das Selbstausdenken viel mehr Arbeit als die routinierte Methode der Produktion falscher, aber gut verkäuflicher Geschichten.
PS: So illustiert die “Sun” ihren Service-Artikel zur Frage, woran man erkennt, sich mit Syphilis infiziert zu haben:
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Dauerschleife aus Berlin” (faz.net, Marcus Jauer)
Marcus Jauer über den unlösbaren Widerspruch zwischen Politikern und Journalisten in Berlin, “voneinander unabhängig und aufeinander angewiesen” zu sein – “weshalb sich beide Seiten offenbar darauf geeinigt haben, dass keiner fragt, ob etwas berichtet wird, weil es geschieht, oder nur etwas geschieht, weil es berichtet wird”.
2. “Kommt das EU-Einheitsbrot?” (narragonien.de)
Nein, das EU-Einheitsbrot kommt nicht. “Was BILD und MAZ nämlich nicht wissen oder vielmehr nicht wissen wollen, ist, dass die EU dem kleinen Bäcker um die Ecke überhaupt nichts vorschreiben will, sondern dass es eigentlich nur um große industrielle Backbetriebe geht.”
3. “7 Überlebenstipps für Verlage” (bastian.nutzinger.net)
Bastian Nutzinger gibt der Print-Branche ein paar Überlebenstipps. “Versteht euch doch einfach als Teil dieser Gemeinde und interagiert entsprechend mit Ihr. Nicht jeder Blogartikel da draußen ist Journalistengold, aber einige sind hochinteressant. Warum nicht darauf verweisen?”
5. Google und die Autorenrechte (carta.info, Robin Meyer-Lucht)
Robin Meyer-Lucht stört sich an der Aussage von Thomas Schmid, dass Google mit den Autorenrechten kaum weniger ignorant als China mit dem Informationsrecht umgehe. “Das Internet und Google haben unsere Nachrichtenwelt endlich de-oligopolisiert, Google hält sich an das bestehende Urheberrecht und Google befördert – etwa auch über YouTube – die Meinungsfreiheit ganz maßgeblich.”
6. Interview mit Wolfgang Kubicki (zeit.de, Stephan Lebert und Stefan Willeke)
In einem langen, lesenswerten Interview sagt Wolfgang Kubicki, wie sich eine Falschmeldung auf ihn auswirkte: “Ich dachte: Das muss jetzt sofort aufhören, und das hört nur auf – für deine Familie, für deine Mutter –, wenn du nicht mehr da bist. Ich habe in jener Nacht, vielleicht zehn Minuten lang, sehr intensiv überlegt, ob ich mir das Leben nehmen soll.”
Früher hat man, wenn man nicht zuhause war, seine Lampen an Zeitschaltuhren angeschlossen und den Nachbarn einen Schlüssel gegeben, damit sie die Rolladen rauf- und runterziehen können.
Heute teilt man aller Welt über das Internet mit, dass man nicht zuhause ist — das spart Stromgebühren und die Flasche Wein für die Nachbarn. Die Einbrecher freuen sich auch über die Hinweise.
Über diesen (tatsächlich etwas überraschenden) Trend berichtete Bild.de in der vergangenen Woche und wusste mit einer Meldung aus Großbritannien zu überraschen:
Auf sorglose Netzwerker, die zu oft mitteilen, dass sie nicht zu Hause sind, sind mittlerweile auch Großbritanniens Versicherer aufmerksam geworden. Die Tageszeitung “The Telegraph” berichtet, dass britische Versicherungen von eifrigen Nutzern sozialer Netzwerke bereits zehn Prozent höhere Gebühren für die Hausratversicherung verlangen. Die Zeitung beruft sich auf das Preisvergleichsportal “Confused.com”.
Egal, wie man es dreht und wendet: Das ist falsch.
Der “Telegraph” berichtet nämlich mitnichten, dass Versicherungen schon jetzt höhere Gebühren verlangen, sondern lediglich, dass sie dies bald tun könnten.
Schon die Überschrift spricht da eine deutliche, wenn auch fremde Sprache:
Die Möglichkeit einer solchen Preiserhöhung wird auch im Artikel noch einmal betont:
Darren Black, Chef der Hausratsversicherungsabteilung bei Confused.com, sagte: “Ich wäre, angesichts der wachsenden Popularität Sozialer Netzwerke und von Orts-basierten Anwendungen, die nach vorne drängen, nicht überrascht, wenn Versicherungsanbieter diese Faktoren bei der Preisfestsetzung eines persönlichen Risikos berücksichtigen. Bei Leuten, die diese Seiten nutzen, könnten wir Preiserhöhungen von bis zu 10 Prozent erleben.”
Und wie es die Falschmeldung von Bild.de dann auch noch in die österreichische “Kronen Zeitung” schaffte, steht bei den Kollegen von Kobuk! …
Terroristen im Flugzeug — bei diesem Schlagwort zückt unser kulturelles Gedächtnis sofort die Karteikarte Actionfilm: “Stirb langsam 2”, “Con Air”, “Air Force One”.
Wenn Terroristen im Flugzeug sind, dann muss es ordentlich rummsen: Explosionen, Schüsse — oder zumindest schwer bewaffnete Spezialkräfte mit Sturmhauben und Laser-Visieren, die rote Punkte auf die Brust des Schurken zeichnen. So etwas verkauft sich immer gut, selbst wenn es einige Zeit her ist.
So meldet die Nachrichtenagentur AFP über die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen zwei Terrorverdächtige:
Ende September 2008 hatte ein Spezialeinsatzkommando kurz vor dem Start Richtung Amsterdam ein Flugzeug der niederländischen Gesellschaft KLM gestürmt und die beiden Verdächtigen, die heute 25 beziehungsweise 24 Jahre alt sind, festgenommen.
Im September 2008 hatte ein Spezialeinsatzkommando ein Flugzeug gestürmt und den Deutsch-Somalier Omar D. (25) sowie den Libyer Abdirazak B. (24) festgenommen. Angeblich wollten die Extremisten in den “Heiligen Krieg” ziehen.
Übernommen haben die Agenturen diese Darstellung vom “Focus”, der die Meldung vorab an die Agenturen gegeben hatte, sie in seiner aktuellen Ausgabe aber nur klein auf Seite 13 links unten klemmt:
Allein: Diese spektakuläre Verhaftung hat es nie gegeben. Wie uns heute noch einmal die Bundespolizeidirektion Sankt Augustin versicherte, wurde weder ein Flugzeug gestürmt, noch sind Spezialkräfte im Einsatz gewesen. Zwei normale Streifenbeamte hatten die unbewaffneten Männer festgenommen, die keinerlei Widerstand leisteten.
Wie die Falschmeldung von der erstürmten Maschine so nachhaltig in den Medienkreislauf gelangen konnte, zeigt eine Meldung der Nachrichtenagentur AP vom Morgen der Verhaftung:
Unter Verweis auf die andauernden Ermittlungen wollte die Sprecherin keine weiteren Details bekanntgeben. Laut “Bild”-Zeitung wurden die beiden Männer am Freitagmorgen um 06.55 Uhr von einem Spezialeinsatzkommando in einer Maschine der Fluglinie KLM Richtung Amsterdam festgenommen.
Diese Darstellung wurde zwar bald von Polizei und Innenministerium dementiert, aber offenbar stellen sich die meisten Journalisten die Szenerie immer noch lieber so vor wie die “Rhein-Zeitung” am Tag nach der Verhaftung auf ihrer Titelseite:
Zu den besonders hartnäckigen gehört der, dass die Leute, die bei “Bild” arbeiten, vielleicht ein bisschen skrupellos sind, aber wenigstens gut recherchieren können. Und der, dass in “Bild” zwar viel Quatsch steht, man sich aber auf den Sportteil verlassen kann.
Andererseits ist auch der Irrglaube nicht auszurotten, dass “Bild” sich aufgrund eines Gerichtsurteiles wegen ihrer vielen Falschmeldungen nicht mehr “Zeitung” nennen dürfe.
Und dann ist da noch die ungleich brisantere Behauptung, dass “Bild” den Studentenführer Rudi Dutschke als “Staatsfeind Nr. 1” bezeichnet habe, womöglich gar am 11. April 1968, dem Tag, an dem Josef Bachmann ein Attentat auf Dutschke verübte.
Es sind scheinbar verlässliche Quellen, die diese Version verbreiten. Die Nachrichtenagentur AFP zum Beispiel, die zum 30. Todestag Dutschkes meldete:
Die Antwort von Politik und Medien auf den Herausforderer war scharf. Die “Bild”-Zeitung nannte ihn “Staatsfeind Nr. 1”. Das war am Tag, als auf ihn geschossen wurde, am 11. April 1968.
Und der evangelische Branchendienst “epd Medien”, der anlässlich des Umzugs der “Bild”-Zeitung nach Berlin am 15. Mai 2007 berichtete:
Die so genannte Generation der 68er ging gegen “Bild” und Springer auf die Straße, wobei die Abneigung weitgehend auf Gegenseitigkeit beruhte. Am 11. April 1968 etwa bezeichnete “Bild” den Studentenführer Rudi Dutschke als “Staatsfeind Nr. 1”. Am selben Tag wurde ein Attentat auf Dutschke verübt, Kritiker gaben “Bild” dafür eine Mitschuld.
Die ARD, “Wikipedia”, Grünen-Bundesvorsitzende Claudia Roth — sie alle erzählen dieselbe Geschichte. Und ein Nutzer des Freiburger Internet-Portals “Fudder” empört sich in dessen Forum: “BILD lügt immer noch — auch 40 Jahre danach”, weil der Artikel von diesem Tag in dem Archiv fehlt, das die Axel Springer AG gerade im Internet mit angeblich allen Berichten ihrer Zeitungen aus der damaligen Zeit veröffentlicht hat.
Der Artikel fehlt aus einem anderen Grund. Es gibt ihn nicht.
In der “Bild”-Zeitung vom 11. April 1968 (Berlin-Ausgabe, Abbildung links) kommt Rudi Dutschke nicht vor. Wir haben uns selbst davon überzeugt.
Nach Angaben von Rainer Laabs, dem Leiter des Unternehmensarchivs, finden sich auch zu keinem anderen Zeitpunkt Spuren eines solchen Artikels: “Wir haben sehr intensiv, aber ohne Ergebnis, danach gesucht.”
Eine ähnliche Formulierung stand allerdings auf einem Plakat, das bei einer Anti-Studentenbewegungs-Demonstration am 21. Februar 1968 laut “Welt” von Bauarbeitern hochgehalten wurde. “Volksfeind Nr. 1 — Rudi Dutschke, raus mit dieser Bande” hieß es dort. Das Springer-Blatt “B.Z.” sprach in einem Kommentar von einem “Schönheitsfleck” der von ihr im übrigen unterstützten Kundgebung:
Weitere Stellen hat Laabs, der das “Medienarchiv68” zusammengestellt hat, nicht finden können.
Es spricht alles dafür: “Bild” und die anderen Springer-Zeitungen haben Rudi Dutschke nie selbst als Staats- oder Volksfeind Nummer 1 bezeichnet.
Andererseits kann auch kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass sie ihn — auch ohne ihn wörtlich als solchen zu bezeichnen — genau so behandelt haben. Das hat selbst Thomas Schmid, damals Teil der Studentenbewegung und heute als “Welt”-Chefredakteur mit der Relativierung der Verantwortung des Verlages beschäftigt, eingeräumt. 1999 nannte er Springer in der “Welt” treffend:
das Haus, dem die von [Dutschke] so stark geprägte Revolte so massiv zusetzte und das ihn in vielen Veröffentlichungen zum Volksfeind und Monster entstellte.
Nachtrag, 19. Januar. Der Wikipedia-Eintrag ist, nach ein bisschen Hin und Her, korrigiert worden.
Die Nachrichtenagentur dpa hat Konsequenzen aus dem “Bluewater”-Debakel der vergangenen Woche gezogen. Sie war in der vergangenen Woche erstaunlich treuherzig und hartnäckig auf die Falschmeldung von einem echten oder vorgetäuschten Selbstmordanschlag in einer amerikanischen Kleinstadt hereingefallen (BILDblog berichtete: Teil 1, Teil 2).
Vor allem wurde der einfache journalistische Grundsatz missachtet: Eine Story, die zu gut ist, um wahr zu sein, ist vermutlich genau dies: nicht wahr.
Wolfgang Büchner
Der stellvertretende Chefredakteur Wolfgang Büchner, der erst vor wenigen Monaten von “Spiegel Online” zu der Agentur gewechselt ist, formulierte “sechs Lehren aus Bluewater”, die im Intranet von dpa veröffentlicht wurden und BILDblog vorliegen. Zum Teil handelt es sich um bloße Erinnerungen an klassische journalistische Grundsätze wie den, dass Richtigkeit vor Schnelligkeit geht. Büchner stellt aber auch dezidierte Regeln auf, wie mit exklusiven Informationen und zweifelhaften Quellen zu verfahren sei. Außerdem sollen die dpa-Redakteure in Zukunft ein Werkzeug an die Hand bekommen, das ihnen helfen soll, die Authentizität einer Internetseite richtig einzuschätzen.
Sechs Lehren aus Bluewater
Bei der Berichterstattung über den erfundenen Terroranschlag von Bluewater sind uns schwere Fehler unterlaufen.
Vor allem wurde der einfache journalistische Grundsatz missachtet: Eine Story, die zu gut ist, um wahr zu sein, ist vermutlich genau dies: nicht wahr. Es ist absolut unplausibel, dass die dpa als einziges Medium exklusiv von einem Terroranschlag in den USA erfährt und dort nur ein lokaler TV-Sender darüber berichtet. Je größer und unwahrscheinlicher eine Story ist, desto gründlicher müssen wir sie überprüfen.
Wir haben darüber hinaus organisatorisch nicht angemessen auf die Lage reagiert. Eine Nachricht dieser Potenz darf niemals nebenbei von einem Slot bearbeitet werden.
Daher gelten ab sofort schärfere Regeln für den Umgang mit exklusiven Informationen:
Im Wettbewerb mit der Konkurrenz geht Richtigkeit immer vor Geschwindigkeit.
Organisation: bei exklusiven Informationen, die das Potenzial haben, zur Nachricht des Tages zu werden, werden künftig sofort vom CvD/Ressortleiter mindestens zwei Mitarbeiter zur Verifizierung von Informationen und Recherche freigestellt. Diese Taskforce widmet sich dann ausschließlich der Berichterstattung über dieses Thema. Das gilt auch in dem Fall, dass der dpa ein schwerer Fehler unterlaufen ist und dieser aufbereitet und gegenüber den Kunden dokumentiert werden muss.
Ortskompetenz: Der ortsansässige Korrespondent wird immer hinzugezogen – unabhängig von der Uhrzeit.
Recherche: Bei zweifelhafter Quellenlage ist die Berichterstattung über einen zusätzlichen “Ring der Überprüfung” abzusichern. Nicht nur die lokale Behörde, sondern mindestens eine übergeordnete Stelle muss die Information bestätigen können (z.B. in den USA die Heimatschutzbehörde oder der jeweilige Bundesstaat). Bei Auslandsthemen sind unbedingt die großen nationalen Medien zu beobachten. Bestehen Zweifel an der Identität eines Anrufers oder an der Richtigkeit einer Telefonnummer, lohnt parallel der Weg über die Auskunft.
Internetquellen: Jeder Mitarbeiter soll in die Lage versetzt werden, die Echtheit von Domains kompetent zu überprüfen. Die dpa-infocom entwickelt ein neues, einfach zu bedienendes Überprüfungs-Tool, mit dem jeder Mitarbeiter einen ersten Plausibilitätscheck vornehmen kann.
Transparenz: Tauchen Zweifel an der Korrektheit gesendeter Meldungen auf, sind unsere Kunden von Anfang an per Achtungshinweis zu informieren. Auch wenn vielleicht noch viele Fragen ungeklärt sind – die Bezieher des dpa-Dienstes werden so früh wie möglich in einem Achtungshinweis informiert. Dieser kann nach folgendem Strickmuster formuliert sein: “Es gibt berechtigte Hinweise, dass … Bitte verwenden Sie die Meldung 0000 deshalb vorerst nicht. Die dpa prüft … und wird Sie informieren, sobald es neue Erkenntnisse gibt.” (…)
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. Interview mit Lars Reppesgaard (berliner-journalisten.com, Thomas Mrazek)
Lars Reppesgaard (Autor von “Das Google-Imperium”) über Zeitungsverlags-Verantwortliche, die er “viel eher als Totengräber des Journalismus” bezeichnen würde: “Jetzt, wo sich zeigt, dass ihre Strategie, gute Inhalte online zu verschenken, nicht aufgeht, soll Google zahlen? Und wer noch? Yahoo? Bing? Auch eine an der Uni entwickelte und betriebene Meta-Suchmaschine wie Metager? Das ist so blöd und frech als Forderung, dass man sich wundert, darüber überhaupt diskutieren zu müssen.”
2. “Werden Sie bloß kein Journalist!” (ftd.de, Horst von Buttlar)
Horst von Buttlar feiert sein fünfjähriges Dienstjubiläum und fragt sich heimlich, ob ihn “die da oben” bereits “ausgebrannter Greis” nennen.
3. Interview mit Michael Spreng (cicero.de, Marc Etzold)
Ex-Wahlkampfmanager und Politikblogger Michael Spreng, gestern bei “arte” (Video, 52 Minuten), über seine Zeit im Journalismus: “Ich bin bei Springer als Chefredakteur der Bild am Sonntag gefeuert worden. In solchen Spitzenpositionen geht es einem wie ein Fußballtrainer und ich war immerhin über elf Jahre Trainer der Bild am Sonntag. Danach war ich noch ein dreiviertel Jahr gesperrt bis mein Vertrag auslief.”
4. “Versuch am lebenden Objekt” (weltwoche.ch, Kurt W. Zimmermann)
Kurt W. Zimmermann macht ein Experiment: “Ich habe in Deutschland, erstmals seit 35 Jahren, keine Tageszeitungen abonniert.” Und lässt sich etwas quälen von der Frage, ob er nicht etwas verpasst habe.
5. “How to spot a web hoax” (strange.corante.com, Kevin Anderson, englisch)
Wie man eine Falschmeldung im Internet erkennt.
Wie vergangene Woche auf vielen deutschsprachigen Nachrichtenseiten zu erfahren war, werden die Bewohner von England nicht nur auf der Strasse oder in der Bank überwacht. Nein, sogar in den eigenen Räumlichkeiten!
“Überwachung in den eigenen vier Wänden ist in England schon Realität”, schrieb beispielsweise netzwelt.de, denn “Haushalte werden mit Überwachungskameras ausgestattet”, so derstandard.at. Auch der österreichische “Kurier”, das Schweizer “20 Minuten” sowie winfuture.de und gulli.com berichteten.
The Children’s Secretary set out £400million plans to put 20,000 problem families under 24-hour CCTV super-vision in their own homes.
They will be monitored to ensure that children attend school, go to bed on time and eat proper meals.
(Das Erziehungsministerium hat 400 Millionen Pfund teure Pläne, 20.000 Problemfamilien in ihren eigenen Wohnungen unter 24-Stunden-Videoüberwachung zu setzen.
Sie werden überwacht, um sicherzustellen, dass Kinder zur Schule gehen, rechtzeitig ins Bett gehen und sich richtig ernähren.)
Tatsächlich werden in “family intervention projects” Familien mit unsozialem Verhalten von Sozialarbeitern besucht und überwacht. Aber persönlich, und nicht mit Überwachungskameras (CCTV), wie es im Artikel heißt. Wenn auch der “Telegraph” 2008 ein von Sozialarbeitern per Video überwachtes Paar vermeldete — von einer breitangelegten Videoüberwachung in englischen Wohnzimmern kann nicht die Rede sein.
Erziehungsminister Ed Balls bezeichnete deshalb den Vorwurf der Videoüberwachung in einem von mehreren Einträgen auf twitter.com als “complete and total nonsense”.
Auf der Website des “Department for Children, Schools and Families” dcsf.gov.uk heißt es dazu:
Families will not be monitored by CCTV in their own homes.
(Familien werden nicht per Video in ihren Wohnungen überwacht.)
Auch Blogs nahmen die Meldung auf und versuchten darauf, die Falschmeldung irgendwie zu retten. So schrieb Gadgetlab auf wired.com in einem Update, dass der Einsatz von Überwachungskameras zwar nicht speziell erwähnt, aber auch nicht dementiert wurde (doch, eben hier). Das Blog fefe.de wies in einem zweiten Update einfach mal auf eine Ausstrahlung des Films “1984” hin.
Über die Pressekonferenz, bei der der “Express” von den Plänen mit den Überwachungskameras erfahren haben will, berichteten übrigens auch diverse andere britische Medien — allerdings korrekt, ohne den “Big Brother”-Aspekt. Auf Europareise ging aber nur die spektakuläre Falschmeldung. Vermutlich steckt darin eine Lehre.
Wenn man den Artikel heute in der Druckausgabe der “Financial Times Deutschland” (FTD) liest, ahnt man nicht, was für ein Aufsehen er vorab verursacht hat.
Er erzählt die unspektakuläre, aber interessante Geschichte, dass das Auswärtige Amt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) eingeladen habe, die Bundestagswahl zu beobachten — ähnlich wie sie es in vielen demokratischen und nicht so demokratischen Ländern regelmäßig tut. In der Bundesrepublik waren sie allerdings noch nie. Vor Monaten schon habe das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte zugesagt, und nun gebe es sogar eine “heikle Frage” zu prüfen: Ob es fair war, mehrere kleinere Parteien nicht zuzulassen.
Das ist allerdings nicht die Geschichte, die am Wochenende unter Berufung auf die “FTD” von den Nachrichtenagenturen verbreitet wurde und durch die Medien ging. Die stellte nämlich einen ganz anderen Zusammenhang zwischen den Wahlbeobachtern und der Nichtzulassung her:
dpa, 13:27 Uhr:
Die umstrittene Nichtzulassung kleinerer Parteien zur Bundestagswahl ruft jetzt internationale Wahlbeobachter auf den Plan.
dpa, 14:09 Uhr:
Die Kritik am Ausschluss mehrerer kleiner Parteien von der Bundestagswahl im September hat internationale Wahlbeobachter auf den Plan gerufen.
AP, 15:23 Uhr:
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) will dieses Jahr erstmals ein Expertenteam zur Beobachtung einer Bundestagswahl nach Deutschland schicken. Dies sagte OSZE-Sprecher Jens-Hagen Eschenbächer der “Financial Times Deutschland”. Hintergrund ist die umstrittene Entscheidung des Bundeswahlausschusses, mehreren Parteien, darunter den “Grauen” und “Die Partei” den Parteienstatus abzuerkennen.
Erst dann erreichte dpa endlich selbst jemanden von der OSZE und zitierte den OSZE-Sprecher Thomas Rymer, der dementierte, dass die Entscheidung der Anlass für die Wahlbeobachtung sei.
Und wie kamen die Agenturen darauf, am Sonntag unter Bezug auf die Montagsausgabe der “FTD” einen Zusammenhang herzustellen, den die Montagsausgabe der “FTD” so gar nicht herstellt? Nun, die “FTD” hatte den Agenturen vorab in einer E-Mail mitgeteilt, sie werde folgendes berichten:
Die umstrittene Nichtzulassung kleinerer Parteien zur Bundestagswahl wird ein Fall für die OSZE: Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wollen die Entscheidung des Bundeswahlausschusses prüfen, mehrere Parteien von der Bundestagswahl auszuschließen.
“Wir schicken in diesem Jahr zum ersten Mal ein Expertenteam zur Beobachtung einer Bundestagswahl nach Deutschland, sagte der Sprecher des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte”, Jens-Hagen Eschenbächer, der Financial Times Deutschland (Montagausgabe). “Da die Nichtzulassung mehrerer Parteien in Deutschland ein Thema ist, werden sich unsere Wahlbeobachter das genau ansehen.” (…)
Die Vorabmeldung der Zeitung lud also zu Fehlinterpretationen förmlich ein. AP und dpa mussten sie nur ein bisschen zuspitzen, um eine Falschmeldung zu verbreiten, die dann dementiert wurde, und als die Zeitung am nächsten Tag selbst berichtete, war ihr Artikel sauber und korrekt. So bizarr funktioniert der Vorabmeldungsjournalismus in Deutschland.