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Gefundenes Fressen

— Ein Gastbeitrag von Sebastian Brauns

Aus dem Schicksal eines deutschen Urlaubers in Französisch Polynesien kochen Zeitungen aus aller Welt genüsslich ein Kannibalen-Süppchen. Im deutschen Raum ist besonders das Vorgehen von “Bild” ein Musterbeispiel an Sensationsgier, Geschmacklosigkeit und Perfidie.

Kannibalen-Insel: Fraß dieser Jäger den deutschen Urlauber?

“Bild” und Bild.de verbreiten dabei rassistisch geprägte Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen, die bereits im Zeitalter des Kolonialismus mit Hilfe perverser Klischees von Europäern unterdrückt, ausgebeutet und getötet wurden.

Ein kleiner Satz am Ende der ersten Meldung bei Bild.de am 14. Oktober bringt den Stein ins Rollen:

Französisch-Polynesien liegt im Pazifik, die bekannteste Insel ist Tahiti. In Französisch-Polynesien war Kannibalismus einst sehr verbreitet.

Obwohl die Ermittler noch völlig im Dunkeln tappen, kreiert Bild.de aus verbrannten menschlichen und tierischen Überresten auf einer Marquesas-Insel mitten im Pazifik und den Aussagen der verstörten Freundin des verschollenen deutschen Weltumseglers Stefan R. eine große Kannibalen-Story. Dabei ist die Schlussfolgerung rein logisch schon recht hanebüchen: Ein Feuer, Tierkadaver und eine menschliche Leiche sprechen ja eher nicht für Kannibalismus, sondern eher für den Versuch, die Spuren eines Verbrechens zu kaschieren bzw. restlos zu beseitigen.

Doch wie kommt Bild.de überhaupt auf die Kannibalismus-Idee? Romanautoren, Abenteurer und Kaufleute haben vor hunderten von Jahren von Kannibalen in der Südsee, der Karibik und Schwarzafrika geschrieben, die sie angeblich gesehen haben wollen. Für die Marquesas-Inseln waren das etwa der Abenteuer-Roman-Autor Herman Melville (“Moby Dick”) und der belgische Kaumann Jacques-Antoine Moerenhout. Handfeste Beweise wurden jedoch nie erbracht.

Erwiesen ist hingegen, dass die Entdecker der neuen Welt und deren Nachhut ihre Grusel-Erzählungen in Gestalt von sogenannter “Transamericana-Literatur” gewinnbringend auf dem europäischen Buchmarkt verkauft haben. Außerdem wurden die gewaltsame Kolonialisierung und Christianisierung durch die Europäer mit einer notwendigen Zivilisierung der “Wilden” gerechtfertigt. Neben Kannibalen wurde auch von zahlreichen anderen Fabelwesen, wie Amazonen oder Seeungeheuer berichtet, an die heute keiner mehr glaubt. Der noch aus der Antike stammende Mythos des Kannibalen hält sich jedoch hartnäckig, weil er im Bereich des unvorstellbar Vorstellbaren liegt.

“Bild” behauptet, die Polizei auf der Insel Nuku Hiva befürchte einen Kannibalen-Mord. In Wirklichkeit scheint es jedoch der Wille von “Bild” zu sein, einen Mord mit der Menschenfresserei zu verbinden:

WURDE DER DEUTSCHE ABENTEURER VON KANNIBALEN ERMORDET?

Die Polizei auf den Marquesas-Inseln (gehört zu Französisch Polynesien) befürchtet genau das!

Noch einmal wird die Gefahr vor etwaigen Kannibalen beschworen:

Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt wegen Mordes. Beängstigend: In der Vergangenheit berichteten Forscher und Seefahrer immer wieder über Kannibalen auf den Marquesas-Inseln!

Namentlich nicht genannte Forscher und Seefahrer aus der “Vergangenheit” bleiben also weiterhin die einzigen Referenzen, die “Bild” zur Kannibalismus-These vorweisen kann.

Unterdessen hat Bild.de einiges über den mutmaßlichen Mörder des Abenteurers (bzw. für “Bild” natürlich den “mutmaßlichen Kannibalen”) in Erfahrung gebracht. Das Online-Portal nennt seinen Namen, zeigt sein Bild und berichtet, der Mann sei tätowiert, trage eine Sonnenbrille und habe ein freundliches Lächeln. Die “bange Frage” von Bild.de lautet nicht etwa: “Lebt Stefan R. noch?”, sondern “Ist er Kannibale und hat er sein Opfer gegessen?” und “Grinst uns hier ein Kannibale an?”

Weil sich keine Behörde finden lässt, welche die Kannibalismus-These von “Bild” und Bild.de bestätigen will, holen sich die Autoren stattdessen einen “Tattoo-Experten”: Den Betreiber eines Tattoo-Studios in Minden, der das Tattoo des “mutmaßlichen Kannibalen” erklären soll. Und der ist sich ganz sicher: “Es zeigt einen Kaioi-Krieger in seinem Kanu.”

“Bild” ergänzt:

Die Kaioi waren dafür bekannt, ihre Kriegsgegner zu fressen.

Doch “Bild” will sich nicht nur auf diese Expertise stützen und hat deshalb an deutschen Universitäten herum telefoniert, um der Frage nachzugehen:

Gibt es auf der Todesinsel noch heute Kannibalen?

Die Zeichnung entstammt dem französischen Abenteuer-Magazin “Journal des Voyages” aus dem Jahr 1878 und soll suggerieren: So war es damals und so könnte es auch heute wieder geschehen sein. “Menschenfresser verspeisen einen Seemann“.

Derartige Hefte sind zwar historische Quellen, aber mit deutlicher Vorsicht zu genießen. Sie geben lediglich Auskunft darüber, wie die “Neue Welt” aus europäischer Sicht beschaffen war. “Bild” knüpft nahtlos an dieses koloniale Weltbild an: Europäische Zivilisation und Fortschritt gegen niedere, triebhafte Wilde.

“Bild” versucht, die eigene antiquierte Weltsicht zu untermauern, indem sie zwei Wissenschaftler der Gegenwart zu Wort kommen lässt. Zuerst der “Kannibalismus-Experte” Dr. Gundolf Krüger:

“Eigentlich sind die Einwohner Polynesiens heute zum Großteil christianisiert und alphabetisiert und damit ein frommes und gebildetes Volk”, erklärt Kannibalismus-Experte Dr. Gundolf Krüger (61). Für ihn klingt der Tod des Deutschen nach einem wahnsinnigen Einzeltäter. Krüger: “Kannibalismus liegt außerhalb jeder Norm. Aber es ist gut möglich, dass sich der Täter von alten Ritualen leiten ließ.” So war es Tradition der “Kaioi” (Krieger), Feinde zu enthaupten und von ihren Extremitäten zu kosten. “Um sich ihr Mana, ihre Lebenskraft, einzuverleiben. Es ging aber nie um den Genuss des Fleisches”, erklärt Krüger.

Auf Anfrage von uns erklärt Krüger, “Bild” habe ihn in einer völlig falschen Weise wiedergegeben: Er habe dem Anrufer vom Axel-Springer-Verlag sehr differenziert erläutert, dass es außer literarischen Zeugnissen von Melville und der späteren Trivial-Literatur keine Beweise für Kannibalismus auf den Marquesas gebe. Außerdem habe er darauf hingewiesen, dass man bei diesem Thema sehr behutsam und mit größter Vorsicht vorgehen müsse.

Dr. Gundolf Krüger hat per E-Mail insgesamt drei Zitate freigegeben, die jedoch nie erschienen. “Ich bin im übrigen kein Kannibalismus-Experte, sondern Ethnologe mit dem Fachgebiet Ozeanien”, stellt Krüger klar.

Immerhin kommt dann die ausgewiesene Kannibalismus-Skeptikerin Annerose Menninger zu Wort, die “Bild” als Ethnologin bezeichnet, die aber eigentlich als Historikerin an der Bundeswehruniversität München lehrt:

Ethnologin Prof. Annerose Menninger (50) beschreibt ein anderes Ritual: “Es muss nicht sein, dass Stefan R. verspeist wurde. Möglicherweise ist das Opfer verunglückt und bei der Zeremonie am Feuer handelte es sich um ein Bestattungsritual, mit dem der angebliche Täter den Toten noch ehrte.”

Die als Gegenspielerin von Dr. Krüger aufgebaute Privatdozentin Menninger ist Spezialistin für die Frühe Neuzeit der Karibik, nicht für die Südsee und schon gar nicht für den aktuellen Fall. Sie erklärt uns auf Anfrage: “Ich ärgere mich sehr, dass Bild mich so zitiert, bzw. meine Argumentation kontextentfremdet – und dabei auch noch haarsträubend unlogisch wiedergegeben hat. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Krüger habe ich nicht einmal Zitate freigegeben.” Die renommierte Dozentin berichtet, sie müsse sich seit der Veröffentlichung in “Bild” mit dem Unverständnis ihrer Fachkollegen herumschlagen.

Besser ergeht es da den Experten, die in einem anderen Artikel zu Rate gezogen werden: Sie haben einfach keine Namen.

Experten vermuten, dass einige nur deshalb sterben mussten, weil die Kannibalen Lust auf Menschenfleisch hatten. Das letzte bekannte Opfer auf Nuku Hiva soll ein etwa zehnjähriges Mädchen gewesen sein, das 1924 verspeist wurde. Jetzt offenbar ein neuer, schockierender Kannibalismus-Mord – ist Jäger (…) dem Todes-Kult verfallen, ein perverser Mörder, was steckt hinter dem Verbrechen?

Medien aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Deutschland und Großbritannien, widmen sich der Geschichte, meist völlig undifferenziert. Am weitesten geht der Korrespondent des “Tagesspiegels” und der “Potsdamer Neuesten Nachrichten”, Alexander Hofmann. Keine Behörde hat den Kannibalismus bestätigt, aber:

Behörden bestätigen Kannibalismus

(Im Online-Auftritt des “Tagesspiegels” wurde die Überschrift inzwischen deutlich abgeschwächt. Dort lautet sie nun: “Deutscher von Kannibalen verspeist?”)

Die einheimische Bevölkerung und der mit den Ermittlungen betraute Staatsanwalt José Thorel versuchen unterdessen gegen diese diskriminierende Berichterstattung anzukämpfen:

“Kannibalismus, darüber will ich nichts hören. Das ist Wahnsinn. Ich sehe keine andere Grundlage, auf der wir von Kannibalismus sprechen könnten.

Für mich ist das kein Thema. Kannibalismus stand nie zur Debatte und ich verstehe nicht, wie die Presse dieses Thema so behandeln konnte.”

(Übersetzung von uns.)

“Survival International – Die Bewegung für indigene Völker” hat wegen der “beleidigenden und haarsträubenden” Berichte über Kannibalismus an einem deutschen Touristen im Südpazifik Beschwerde beim Presserat in Großbritannien eingereicht und zitiert dazu Benny Wenda, ein Mitglied der Ethnie der Lani in Papua:

Wir haben genug von diesen Geschichten. Sie beschreiben uns immer noch als Kannibalen, weil sie denken wir wären Wilde. Es ist als ob man Deutsche heute wegen ihrer Geschichte als Nazis bezeichnen würde. Oder Großbritannien ein Land nennen würde, in dem Hexen an Pfählen verbrannt, Kinder versklavt und Menschen öffentlich exekutiert werden. Es ist verrückter, rassistischer Journalismus.

Bild.de hingegen versucht im Umkehrschluss, den Staatsanwalt bloßzustellen: Hier wird José Thorel als “Südsee-Staatsanwalt”, der abwiegeln würde, bezeichnet. Bild.de unterstellt dem Staatsanwalt, er sei “besorgt um den Ruf der Insel”.

Munter setzt Bild.de den mutmaßlichen Mord mit Kannibalismus gleich:

Auch der Staatsanwalt kann den schlimmen Verdacht nicht aus der Welt räumen. “Es ist wahr, dass wir Fleischstücke im Feuer gefunden haben. Die gefundenen Zähne stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Stefan R.”, sagte Thorel.

Es bleibt also dabei: Bild.de meint, von einem verbrannten Körper auf einen kannibalistischen Akt schließen zu können.

Auch nachdem die trauernde Familie von Stefan R. dessen Tod auf seiner Homepage bekannt gegeben hat, gibt sich Bild.de nicht zufrieden, sondern stellt die mittlerweile fünf Tage alte, “furchtbare” Frage:

Die furchtbare Frage: Hat ein Kannibale den deutschen Weltumsegler getötet und Teile von ihm gegessen?

Dass diese Frage vornehmlich von westeuropäischen Medien gestellt wurde, verschweigt Bild.de elegant — es reden ja eh “alle” davon:

Seit dem Verschwinden des Urlaubers steht die Insel unter Schock. Der Täter ist auf der Flucht, und alle treibt die Frage um: Ist er wirklich ein Menschenfresser?

Als Bild.de heute von der DNA-Analyse berichtet, die ergeben hat, dass die Knochenreste und Zähne, die an einer Feuerstelle gefunden wurden, tatsächlich von Stefan R. stammen, da taucht der Kannibalismus-Vorwurf plötzlich mit keinem Wort mehr auf.

Sebastian Brauns ist freier Journalist. Im März dieses Jahres hat er für die “Zeit” über Kannibalismus-Mythen geschrieben.

Bild  

Bubi ist bloß Bengel

Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.

Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:

Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.

Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.

Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!

Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichen Hochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.

Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:

Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.

Dabei erfuhren die Reporter so einiges:

Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”

Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:

“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”

Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 8.4 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.

Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).

Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:

Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!

[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.

Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).

Aber nicht nur das:

Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”

Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.

Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.

Mit Dank an Ares, Frank und Björn.

Blick, AKP, Ombudsleute

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Blick’ beschuldigt falschen Mann”
(20min.ch, Amir Mustedanagic)
Ein Mann wird von der Boulevardzeitung “Blick” beschuldigt, einen Busfahrer verprügelt zu haben. “Sein einziges Vergehen ist, dass er einen ähnlichen Vornamen hat wie der Täter und keinen tadellosen Ruf in Glarus geniesst.”

2. “(Kleiner) Sieg über ‘Bild'”
(onlinejournalismus.de, Fiete Stegers)
Nach einer Beschwerde beim Presserat nimmt Bild.de eine beanstandete Fotogalerie “aus dem Netz”, wie es im Protokoll der Beschwerderatssitzung heisst: “Dieser Satz (…) freute mich noch mehr als die vom Presserat ausgesprochene ‘Missbilligung’ des Vorgehens von Bild Online wegen der Herabwürdigkung von der abgebildeten Frauen. Zumindest bis zu dem Augenblick, als ich durch kurzes Googlen feststellte, in wie vielen anderen Artikeln auf Bild.de die ‘Galerie der Schande’ derzeit weiterhin eingebunden ist.”

3. “Operation ‘Hackerazzi'”
(welt.de, Uwe Schmitt)
Ein US-Amerikaner wird verdächtigt, “zwischen dem 3. November 2010 und dem 10. Februar dieses Jahres systematisch die E-Intimsphäre von Stars ausgespäht zu haben”, darunter Nacktbilder von Schauspielerin Scarlett Johansson.

4. “Kritische Journalisten nicht erwünscht”
(dradio.de, Gunnar Köhne)
Die türkischen Medien stehen zunehmend unter dem Druck der Regierungspartei AKP: “Reine Medienkonzerne gibt es in der Türkei nicht. Die Besitzer von Zeitungen und TV-Stationen sind meistens auch noch in anderen Branchen tätig, etwa im Bau- oder Energiebereich. Somit sind sie abhängig von Staatsaufträgen. Mit einer 50-Prozent-Partei will sich niemand von ihnen auf Dauer anlegen.”

5. “Wachhund und Moralapostel”
(wissen.dradio.de, Michael Meyer, Audio, 8:18 Minuten)
Woher das Wort Ombudsmann kommt, was Ombudsleute tun. “Experten zufolge ist die Kontrollinstanz aber immer gut für die journalistische Glaubwürdigkeit, obendrein fördere sie das präzise Arbeiten. Weltweit leisten sich allerdings nur rund 100 Redaktionen Ombudsleute.”

6. “A Magazine Is an iPad That Does Not Work”
(youtube.com, Video, 1:26 Minuten)

Hängt ihn, aber gebt ihm keine Tiernamen

“Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig hatte einen Vorschlag, was mit Magnus Gäfgen passieren sollte, einen Kindermörder, der den Staat auch noch auf Schmerzensgeld verklagt hatte:

Meine Meinung: Ab in eine Gemeinschaftszelle und Hofgang mit allen anderen Ganoven!

Man kann sich ausmalen, was mit Gäfgen passieren würde, in einer Gemeinschaftszelle und beim Hofgang mit allen anderen Ganoven. Er würde es nicht überleben.

Man muss in dem Vorschlag von “Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig den Wunsch nach einer Lynchjustiz sehen oder gar den Aufruf dazu. Man kann es deshalb abstoßend finden, dass die “Bild”-Zeitung diese Leserstimme ausgewählt und veröffentlicht hat.

Doch der Presserat hat kein Problem damit. Er lehnte eine Beschwerde von uns schon im “Vorverfahren” ab, ohne überhaupt den Beschwerdeausschuss mit der Sache zu befassen.

Der Inhalt […] spiegelt nach unserer Einschätzung die Meinung eines Teils der Leserschaft wieder. Um allen Lesern zu verdeutlichen, welche Standpunkte in der Bevölkerung zu der Forderung bzw. zu der Person von Magnus Gäfgen existieren, ist es vertretbar, wenn diese Äußerungen dann so veröffentlicht werden. Es sind zwar extreme Meinungen, jedoch verstoßen sie nach unserer Ansicht nicht gegen die Menschenwürde Gäfgens.

Das betrifft auch andere Leserstimmen mit ähnlichem Tenor, die “Bild” und Bild.de im März veröffentlicht hatten, etwa die von Bernd M. Aus Lüdenscheid:

Das gibt es nur in Deutschland. In Amerika wäre diese Bestie kein Thema mehr.

Dass der Presserat das Wort “Bestie” nicht missbilligen würde, hätten wir natürlich vorher wissen können. 2009 urteilte der Beschwerdeausschuss über die “Bild”-Berichterstattung über einen mutmaßlichen Kinderschänder:

Außerdem sieht der Presserat mit der Bezeichnung “Dreckschwein” die Ziffer 1 des Pressekodex verletzt. Die Mehrheit im Beschwerdeausschuss kann der Argumentation der Zeitung nicht folgen, wonach auf diese Weise der vorherrschenden öffentlichen Meinung Ausdruck verliehen werde. Unabhängig von der Schwere der Vorwürfe gilt der Schutz der Menschenwürde. Die Bezeichnung “Sex-Bestie” hingegen hält der Beschwerdeausschuss für zulässig.

Einen Mann lynchen oder hinrichten lassen zu wollen, geht also menschenwürdetechnisch in Ordnung, so lange man ihn nur nicht mit einem Schwein vergleicht.

OPAL, Apple, Staatstrojaner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “7 ultimative Tipps für Journalisten, damit Sie auch morgen noch einen Job haben”
(gutjahr.biz, Richard Gutjahr)
“Streichen Sie das Wort ‘Synergien’ bitte noch heute aus Ihrem Wortschatz. Verbrennen Sie Ihre Social Media Guidelines. Lesen Sie keine Zeitung mehr. Zerschnippeln Sie Ihren Presseausweis. Zertrümmern Sie Ihr iPad. Meiden Sie Bedenkenträger. Denken Sie nicht an Geld.”

2. “Und weiter geht’s: Bilds Ökostrom-Bashing”
(klima-luegendetektor.de)
Der “Klima-Lügendetektor” kritisiert die “Bild”-Titelgeschichte vom Samstag. Sie lautete: “Irrsinn: Deutschland verschenkt Strom ins Ausland … und wir kaufen ihn für teures Geld zurück”.

3. “Die LVZ und die Pipeline. Eine Liebesgeschichte.”
(somereason.blogsport.eu)
Berichte über die Erdgasleitung OPAL kommen in der “Leipziger Volkszeitung” als “Werbespecials” daher. “Wer sich darüber beschweren will, darf sich übrigens an den Deutschen Presserat wenden. Bester Ansprechpartner dort ist dessen Vorsitzender – der LVZ-Chefredakteur Bernd Hilder.”

4. “Apple-Bashing bei der SZ”
(kaliban.de)
Was der Ressortleiter und Chefreporter des Wirtschaftsteils der “Süddeutschen Zeitung” über Apple und Steve Jobs schreibt.

5. “Der börsennotierte Körper”
(freitag.de, Ronnie Vuine)
Ronnie Vuine staunt, “wie sehr man in Netz und Presse Technologieunternehmen mit Ponyhöfen verwechselt” und über die Reaktionen auf den Tod von Steve Jobs: “Beides, die Trauer wie das Urteil über den Charakter, nimmt eine Vertrautheit an mit einer Person, wo niemals eine war.”

6. “Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – von Bundestrojanern, Drohnen und allgemeiner Trotteligkeit”
(schmalenstroer.net)
“Kritiker und Gegner staatlicher Überwachungsmaßnahmen rechnen immer mit dem schlimmsten, dem perfekten Staatsapparat, der effizient arbeitet. In der Realität sieht dies immer wieder anders aus.” Siehe dazu auch “Der Staatstrojaner in dreieinhalb Minuten” (youtube.com, Video, 3:29 Minuten)

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Aus großer Kraft folgt große Verantwortung

Wenn ein Taxifahrer einen weiblichen Fahrgast gewaltsam in den Kofferraum seines Wagens packt, dann kreuz und quer durch Hamburg fährt, schließlich vor dem eigenen Haus parkt und sich schlafen legt, während das Opfer erst nach insgesamt sechs Stunden von aufmerksamen Nachbarn befreit wird, dann könnte man unter Umständen annehmen, dass der mutmaßliche Täter nicht ganz bei Trost ist — oder es zumindest vorübergehend nicht war.

Diese Beweisführung reicht “Bild Hamburg” nicht aus. Stattdessen durften zwei Reporter im Privatleben des mutmaßlichen Täters und seiner Familie herumschnüffeln. “BILD auf Spurensuche” nennt sich das dann.

Und das Ergebnis sieht so aus:

BILD auf Spurensuche Die irre Welt des Taxi-Entführers +++ Er hielt sich für Spiderman +++ Er wohnte mit 57 noch bei Mama +++ Er wollte Pfand für leere Wodka-Flaschen

Taxi-Entführer [R.], der eine Frau sechs Stunden im Kofferraum seines Wagens gefangen hielt – langsam kommt zu Tage, wie durchgeknallt er ist.

Die Beweisführung dafür, “wie durchgeknallt” der “Taxi-Entführer” ist, klingt dabei arg an den Haaren herbeigezogen. Und fast schon im Vorbeigehen verletzt “Bild” die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters und seiner Familie:

Er ist 57 Jahre alt, lebt aber immer noch bei seinen Eltern, auf einem Hof bei Norderstedt. Unten wohnen Mutter […] und Vater […], den ersten Stock teilen sich [der mutmaßliche Täter], seine […] Schwester, sein […] Bruder und dessen Ehefrau.

Abgesehen davon, dass eine solche Wohnsituation auch wohlwollend als Mehrfamilienhaus mit verschiedenen Generationen unter einem Dach bezeichnet werden könnte, nennt “Bild” nicht nur das Alter jedes einzelnen Familienmitglieds, sondern zeigt auch noch ein Foto des Hofs inklusive Ortsangabe.

Nächster Beleg für die “Durchgeknalltheit” des mutmaßlichen Täters:

Er hielt sich für Spiderman. Ein Foto des Spinnenmannes mit dem einmontierten Gesicht von […] hängt bei einem früheren Arbeitgeber an der Wand.

Es ist noch nicht mal klar, ob der mutmaßliche Täter diese Montage selbst angefertigt hat. Ihm allein deshalb unterstellen, er halte sich für Spiderman, ist perfide. Dann müsste sich auch Kai Diekmann für eine gigantische Statue mit einer goldenen Gurke in der Hand halten.

Müssen wir noch erwähnen, dass das Gesicht des Taxifahrers in der Spiderman-Montage bei “Bild” nicht anonymisiert ist?

Und die “Bild”-Spurensucher fanden noch mehr heraus:

Er wollte Pfand für Wodka-Flaschen! Am 9. Juni tauchte Ralph B. mit seinem Taxi bei einer Tankstelle auf und wollte die leeren Fusel-Pullen abgeben.

Das muss man sich mal vorstellen: Pfand für Wodkaflaschen als Indiz für Wahnsinn! Wenn jeder, der das deutsche Flaschenpfandsystem nicht ganz durchblickt, “durchgeknallt” ist oder in einer “irren Welt” lebt, dann haben wir ein Problem.

Sollte “Bild” trotz dieser lausigen Beweise richtig liegen, was die Frage nach der geistigen Gesundheit des mutmaßlichen Täters angeht, dann hätten die beiden Reporter (neben der o.g. Verletzungen der Persönlichkeitsrechte) ironischerweise auch noch gegen diese Richtlinie des Pressekodexes verstoßen:

Richtlinie 4.2 – Recherche bei schutzbedürftigen Personen
Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen ist besondere Zurückhaltung geboten. Dies betrifft vor allem Menschen, die sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen […] Kräfte befinden oder einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind […]. Die eingeschränkte Willenskraft oder die besondere Lage solcher Personen darf nicht gezielt zur Informationsbeschaffung ausgenutzt werden.

Mit Dank an Leo.

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Kodex-Exegese

Der Pressekodex, jenes Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich die deutschen Print- und Onlinemedien selbst verpflichtet haben (und dessen Nicht-Einhaltung für sie quasi folgenlos ist), gibt eine eher freudlose Lektüre ab. Wie richtige Gesetzestexte auch, ist der Kodex recht trocken gehalten.

Was soll man sich zum Beispiel unter der Richtlinie 12.1 vorstellen?

Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Und Ziffer 1 ist dann vielleicht doch ein bisschen allgemein formuliert:

Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. (…)

Grau ist alle Theorie, schön bunt ist die “Bild”-Zeitung — und die zeigt heute auf ihrer Seite 3 gleich an mehreren Stellen recht anschaulich, wie der Pressekodex gemeint sein könnte:

Rumänische Geldautomaten-Bande in Dortmund geschnappt - Läuft in Remscheid ein Sex-Schwein frei herum?
Immerhin haben sie es geschafft, die Gesichter notdürftig zu anonymisieren.

Selbsttötung, Solarbäume, Bauer sucht Frau

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Loblied des Links”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo lobt den Link: “Der Link verheisst Vernetzung, Zugänglichkeit, Offenheit. Ein Link gibt dem Nutzer auch die Möglichkeit, die Seite zu verlassen; im Link steckt deshalb die Freiheit des Netzes. (…) Verlinkung ist digitales Leben, der Rest ist Konsum.”

2. “Dreifach-Suizid: Fragwürdige Details”
(ndr.de, Video, 4:32 Minuten)
“Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände”, heisst es in Richtlinie 8.5 des Pressekodex. “Zapp” berichtet über einen aktuellen Fall aus Niedersachsen: “Selbsttötungen haben als solche in der Presse nichts verloren. Das sollten Journalisten wissen, spätestens seit Robert Enke. Von daher war es unverantwortlich, was sich letzte Woche in vielen Medien abspielte.”

3. “Bauernopfer”
(sueddeutsche.de, Frederik Obermaier)
Frederik Obermaier berichtet aus dem oberbayerischen Aiglsham, dem Wohnort des durch die Doku-Soap “Bauer sucht Frau” bekannt gewordenen Bauers Josef und seiner Frau Narumol. “An einem einzigen Wochenende, so erzählen einige Dorfbewohner hier, fahren so viele Autos durch den 60-Einwohner-Weiler wie vor Bauer sucht Frau nicht mal in einem Monat.”

4. “Von Solarbäumen, Fibonacci-Folgen und unbelehrbaren Schreiberlingen”
(intern.de)
“13-Jährigem gelingt Durchbruch in Solarenergiegewinnung”, meldete beispielsweise Gizmodo.de vor wenigen Tagen. Intern.de schreibt auf, was sich ereignete, nachdem ein Blogger daran öffentlich zweifelte.

5. “Wenn Gerüchte Fakten schaffen”
(dw-world.de, Video, 4:09 Minuten)
Detlef Saitner liest keine Zeitungen mehr: “Er liest lieber im Netz, bei den Crash-Propheten. Deren Klickraten haben sich seit 2008 fast verdreifacht.”

6. “Der Lottogewinner Erwin Lindemann”
(youtube.com, Video, 3:41 Minuten)
“Wie kann man einen ‘Brennpunkt’ zum WM-Aus für Michael Ballack machen aber keinen zum Abschied von einer Legende, die so lustig war wie sonst kein Deutscher und so deutsch wie sonst kein Lustiger?”, fragt Imre Grimm auf haz.de.

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Wir müssen leider draußen bleiben

Am Dienstag hatte “Bild” erklärt, dass sie es für ihre Pflicht hielten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, wie ein Kindesentführer aussieht, und damit die Spruchpraxis des Deutschen Presserats kritisiert (BILDblog berichtete).

Doch nicht nur der Presserat ist anderer Meinung als “Bild”, sondern auch die Justiz: Gestern, am zweiten Verhandlungstag, verhängte der Vorsitzende Richter am Potsdamer Landgericht ein Fotoverbot für die Medien. Er dulde in seinem Sitzungssaal keine Hetzjagd, sagte er laut “Berliner Zeitung”.

Und weiter:

[N]icht nur der Täter wurde an den Pranger gestellt, sondern auch Verwandte des Mannes. “Sicher muss zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit und dem Interesse der Prozessbeteiligten abgewogen werden”, sagte Dielitz. Dies sei nicht immer einfach. In diesem Fall aber habe sich die Ex-Frau des Angeklagten, die als Zeugin gehört werden soll, einer Hetzjagd durch die Presse ausgesetzt gefühlt.

Es ist übrigens denkbar, dass sich die Berichterstattung von “Bild” strafmildernd auf das Urteil des Gerichts auswirkt — es wäre nicht das erste Mal.

“Bild” selbst berichtet heute nicht weiter über den Prozess.

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Ohne Gesicht kein Bericht

Bei “Bild” können sie es selbst nicht fassen, was sie da schreiben (müssen):

“Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen”

Ja, liebe Leser, Sie haben richtig gelesen: “Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen”, sagt der Deutsche Presserat, der oberste Sittenwächter der Presse – und kritisiert aus diesem Grund immer wieder die BILD-Zeitung. Weil wir ganz anderer Meinung sind. Weil wir glauben, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, wie ein Vergewaltiger, ein Kinderschänder und ein Mörder aussehen. Und wir deshalb Vergewaltiger, Kinderschänder und Mörder auch zeigen.

Mit diesen zwei Absätzen ist eigentlich alles gesagt, denn natürlich handelt es sich beim Schutz der Identität nicht um irgendeine hippiemäßige Meinung des Presserats, sondern um ein Recht, das sich aus den Grund- und Menschenrechten ableitet und für alle Menschen gilt. Dieses Recht muss im Einzelfall immer gegen das Interesse der Öffentlichkeit abgewogen werden.

Deswegen lautet die Aussage des Presserates vollständig auch:

Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen. Nur in Ausnahmefällen darf die Identität eines mutmaßlichen Täters in der Berichterstattung preisgegeben werden. Dabei ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen.

(“Grundsätzlich” ist hier also nicht im Sinne von “immer”, sondern im Sinne von “in aller Regel” gemeint.)

“Bild” glaubt offensichtlich nicht nur, “dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, wie ein Vergewaltiger, ein Kinderschänder und ein Mörder aussehen”, sondern auch, wie ein Kindesentführer aussieht: Im Februar hatte die Zeitung über eine Kindesentführung in der Nähe von Berlin berichtet. Für ihre Form der Berichterstattung erhielt “Bild” vom Presserat eine “nicht-öffentliche Rüge”, über die die Zeitung schreibt:

Grund: Das Persönlichkeitsrecht des Täters, also sein Recht auf Anonymität, verbiete die Namensnennung und Abbildung. “Aus der Schwere der Tat”, so der Presserat, “könne nicht geschlossen werden, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiege.”

“Bild” hatte in der Berichterstattung allerdings nicht nur ein Foto des mutmaßlichen Täters gezeigt und dessen (abgekürzten) Namen genannt, sondern auch dessen Lebensumfeld sehr genau beschrieben.

Der Presserat beschreibt die “Erwägungen des Beschwerdeausschusses” unter anderem so:

Aus der Schwere der Tat könne hier jedoch nicht geschlossen werden, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen überwiege. Es müssten weitere Umstände hinzukommen, die für eine Abbildung sprächen. Entgegen der Argumentation des Beschwerdegegners rechtfertige auch das Geständnis die identifizierende Berichterstattung nicht. Gleiches gelte für Aspekte wie das genaue Planen der Tat, die familiäre Situation des mutmaßlichen Täters und seine berufliche Stellung. Diese seien möglicherweise strafrechtlich, jedoch nicht pressethisch von Bedeutung.

“Bild” verkürzt diese Abwägungen zu einer allgemeingültigen Frage:

Ist also der Schutz des Täters wichtiger als die Berichterstattung über eine schwere Straftat?

Wir finden Nein und finden uns mit der Rüge des Presserates auch nicht ab. Deshalb zeigen wir auch heute ein Bild von Carolinas Entführer – und zwar aus dem Gerichtssaal.

Den letzten Satz hat “Bild” natürlich nicht einfach so dahin geschrieben:

Diesen Entführer soll BILD nicht mehr zeigen dürfen

Auch die eigenen Leser will “Bild” mal wieder mobilisieren:

Ist der Schutz eines Täters wichtiger als die Berichterstattung über eine schwere Straftat? Sagen Sie dem Presserat Ihre Meinung: Deutscher Presserat, Fritschestraße 27/28, 10585 Berlin, Tel: 030 / 36 70 07-0, Fax 030 / 36 70 07-20, Email: info@presserat.de

Bis zum Mittag seien “einige Hundert Anrufe, einige Hundert E-Mails und ein paar Faxe” eingegangen, wie uns der Presserat auf Anfrage erklärt. Drei Viertel der Menschen seien für “Bild” gewesen, ein Viertel habe sich differenziert geäußert — auch mehrere Beschwerden über den heutigen Artikel seien auch schon dabei gewesen. Am Nachmittag sei das Verhältnis schon bei zwei Dritteln zu einem Drittel gewesen.

Dabei könnte “Bild” auf derlei populistische Aktionen verzichten: Der Presserat wird von Verlegerverbänden und Journalistengewerkschaften getragen, das heißt die Axel Springer AG, bei der “Bild” erscheint, könnte sich für eine Änderung des Pressekodex in diesem Punkt einsetzen. Das hat sie laut Presserat bisher noch nie versucht.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber! (Ihr könnt jetzt aufhören!)

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