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Bubi ist bloß Bengel

Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.

Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:

Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.

Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.

Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!

Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichen Hochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.

Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:

Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.

Dabei erfuhren die Reporter so einiges:

Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”

Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:

“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”

Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.

Auszüge aus dem Pressekodex:

Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen

(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.

Richtlinie 8.4 – Erkrankungen

Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.

Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).

Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:

Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!

[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.

Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).

Aber nicht nur das:

Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”

Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.

Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.

Mit Dank an Ares, Frank und Björn.

Blick, AKP, Ombudsleute

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “‘Blick’ beschuldigt falschen Mann”
(20min.ch, Amir Mustedanagic)
Ein Mann wird von der Boulevardzeitung “Blick” beschuldigt, einen Busfahrer verprügelt zu haben. “Sein einziges Vergehen ist, dass er einen ähnlichen Vornamen hat wie der Täter und keinen tadellosen Ruf in Glarus geniesst.”

2. “(Kleiner) Sieg über ‘Bild'”
(onlinejournalismus.de, Fiete Stegers)
Nach einer Beschwerde beim Presserat nimmt Bild.de eine beanstandete Fotogalerie “aus dem Netz”, wie es im Protokoll der Beschwerderatssitzung heisst: “Dieser Satz (…) freute mich noch mehr als die vom Presserat ausgesprochene ‘Missbilligung’ des Vorgehens von Bild Online wegen der Herabwürdigkung von der abgebildeten Frauen. Zumindest bis zu dem Augenblick, als ich durch kurzes Googlen feststellte, in wie vielen anderen Artikeln auf Bild.de die ‘Galerie der Schande’ derzeit weiterhin eingebunden ist.”

3. “Operation ‘Hackerazzi'”
(welt.de, Uwe Schmitt)
Ein US-Amerikaner wird verdächtigt, “zwischen dem 3. November 2010 und dem 10. Februar dieses Jahres systematisch die E-Intimsphäre von Stars ausgespäht zu haben”, darunter Nacktbilder von Schauspielerin Scarlett Johansson.

4. “Kritische Journalisten nicht erwünscht”
(dradio.de, Gunnar Köhne)
Die türkischen Medien stehen zunehmend unter dem Druck der Regierungspartei AKP: “Reine Medienkonzerne gibt es in der Türkei nicht. Die Besitzer von Zeitungen und TV-Stationen sind meistens auch noch in anderen Branchen tätig, etwa im Bau- oder Energiebereich. Somit sind sie abhängig von Staatsaufträgen. Mit einer 50-Prozent-Partei will sich niemand von ihnen auf Dauer anlegen.”

5. “Wachhund und Moralapostel”
(wissen.dradio.de, Michael Meyer, Audio, 8:18 Minuten)
Woher das Wort Ombudsmann kommt, was Ombudsleute tun. “Experten zufolge ist die Kontrollinstanz aber immer gut für die journalistische Glaubwürdigkeit, obendrein fördere sie das präzise Arbeiten. Weltweit leisten sich allerdings nur rund 100 Redaktionen Ombudsleute.”

6. “A Magazine Is an iPad That Does Not Work”
(youtube.com, Video, 1:26 Minuten)

Hängt ihn, aber gebt ihm keine Tiernamen

“Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig hatte einen Vorschlag, was mit Magnus Gäfgen passieren sollte, einen Kindermörder, der den Staat auch noch auf Schmerzensgeld verklagt hatte:

Meine Meinung: Ab in eine Gemeinschaftszelle und Hofgang mit allen anderen Ganoven!

Man kann sich ausmalen, was mit Gäfgen passieren würde, in einer Gemeinschaftszelle und beim Hofgang mit allen anderen Ganoven. Er würde es nicht überleben.

Man muss in dem Vorschlag von “Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig den Wunsch nach einer Lynchjustiz sehen oder gar den Aufruf dazu. Man kann es deshalb abstoßend finden, dass die “Bild”-Zeitung diese Leserstimme ausgewählt und veröffentlicht hat.

Doch der Presserat hat kein Problem damit. Er lehnte eine Beschwerde von uns schon im “Vorverfahren” ab, ohne überhaupt den Beschwerdeausschuss mit der Sache zu befassen.

Der Inhalt […] spiegelt nach unserer Einschätzung die Meinung eines Teils der Leserschaft wieder. Um allen Lesern zu verdeutlichen, welche Standpunkte in der Bevölkerung zu der Forderung bzw. zu der Person von Magnus Gäfgen existieren, ist es vertretbar, wenn diese Äußerungen dann so veröffentlicht werden. Es sind zwar extreme Meinungen, jedoch verstoßen sie nach unserer Ansicht nicht gegen die Menschenwürde Gäfgens.

Das betrifft auch andere Leserstimmen mit ähnlichem Tenor, die “Bild” und Bild.de im März veröffentlicht hatten, etwa die von Bernd M. Aus Lüdenscheid:

Das gibt es nur in Deutschland. In Amerika wäre diese Bestie kein Thema mehr.

Dass der Presserat das Wort “Bestie” nicht missbilligen würde, hätten wir natürlich vorher wissen können. 2009 urteilte der Beschwerdeausschuss über die “Bild”-Berichterstattung über einen mutmaßlichen Kinderschänder:

Außerdem sieht der Presserat mit der Bezeichnung “Dreckschwein” die Ziffer 1 des Pressekodex verletzt. Die Mehrheit im Beschwerdeausschuss kann der Argumentation der Zeitung nicht folgen, wonach auf diese Weise der vorherrschenden öffentlichen Meinung Ausdruck verliehen werde. Unabhängig von der Schwere der Vorwürfe gilt der Schutz der Menschenwürde. Die Bezeichnung “Sex-Bestie” hingegen hält der Beschwerdeausschuss für zulässig.

Einen Mann lynchen oder hinrichten lassen zu wollen, geht also menschenwürdetechnisch in Ordnung, so lange man ihn nur nicht mit einem Schwein vergleicht.

OPAL, Apple, Staatstrojaner

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “7 ultimative Tipps für Journalisten, damit Sie auch morgen noch einen Job haben”
(gutjahr.biz, Richard Gutjahr)
“Streichen Sie das Wort ‘Synergien’ bitte noch heute aus Ihrem Wortschatz. Verbrennen Sie Ihre Social Media Guidelines. Lesen Sie keine Zeitung mehr. Zerschnippeln Sie Ihren Presseausweis. Zertrümmern Sie Ihr iPad. Meiden Sie Bedenkenträger. Denken Sie nicht an Geld.”

2. “Und weiter geht’s: Bilds Ökostrom-Bashing”
(klima-luegendetektor.de)
Der “Klima-Lügendetektor” kritisiert die “Bild”-Titelgeschichte vom Samstag. Sie lautete: “Irrsinn: Deutschland verschenkt Strom ins Ausland … und wir kaufen ihn für teures Geld zurück”.

3. “Die LVZ und die Pipeline. Eine Liebesgeschichte.”
(somereason.blogsport.eu)
Berichte über die Erdgasleitung OPAL kommen in der “Leipziger Volkszeitung” als “Werbespecials” daher. “Wer sich darüber beschweren will, darf sich übrigens an den Deutschen Presserat wenden. Bester Ansprechpartner dort ist dessen Vorsitzender – der LVZ-Chefredakteur Bernd Hilder.”

4. “Apple-Bashing bei der SZ”
(kaliban.de)
Was der Ressortleiter und Chefreporter des Wirtschaftsteils der “Süddeutschen Zeitung” über Apple und Steve Jobs schreibt.

5. “Der börsennotierte Körper”
(freitag.de, Ronnie Vuine)
Ronnie Vuine staunt, “wie sehr man in Netz und Presse Technologieunternehmen mit Ponyhöfen verwechselt” und über die Reaktionen auf den Tod von Steve Jobs: “Beides, die Trauer wie das Urteil über den Charakter, nimmt eine Vertrautheit an mit einer Person, wo niemals eine war.”

6. “Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – von Bundestrojanern, Drohnen und allgemeiner Trotteligkeit”
(schmalenstroer.net)
“Kritiker und Gegner staatlicher Überwachungsmaßnahmen rechnen immer mit dem schlimmsten, dem perfekten Staatsapparat, der effizient arbeitet. In der Realität sieht dies immer wieder anders aus.” Siehe dazu auch “Der Staatstrojaner in dreieinhalb Minuten” (youtube.com, Video, 3:29 Minuten)

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Aus großer Kraft folgt große Verantwortung

Wenn ein Taxifahrer einen weiblichen Fahrgast gewaltsam in den Kofferraum seines Wagens packt, dann kreuz und quer durch Hamburg fährt, schließlich vor dem eigenen Haus parkt und sich schlafen legt, während das Opfer erst nach insgesamt sechs Stunden von aufmerksamen Nachbarn befreit wird, dann könnte man unter Umständen annehmen, dass der mutmaßliche Täter nicht ganz bei Trost ist — oder es zumindest vorübergehend nicht war.

Diese Beweisführung reicht “Bild Hamburg” nicht aus. Stattdessen durften zwei Reporter im Privatleben des mutmaßlichen Täters und seiner Familie herumschnüffeln. “BILD auf Spurensuche” nennt sich das dann.

Und das Ergebnis sieht so aus:

BILD auf Spurensuche Die irre Welt des Taxi-Entführers +++ Er hielt sich für Spiderman +++ Er wohnte mit 57 noch bei Mama +++ Er wollte Pfand für leere Wodka-Flaschen

Taxi-Entführer [R.], der eine Frau sechs Stunden im Kofferraum seines Wagens gefangen hielt – langsam kommt zu Tage, wie durchgeknallt er ist.

Die Beweisführung dafür, “wie durchgeknallt” der “Taxi-Entführer” ist, klingt dabei arg an den Haaren herbeigezogen. Und fast schon im Vorbeigehen verletzt “Bild” die Persönlichkeitsrechte des mutmaßlichen Täters und seiner Familie:

Er ist 57 Jahre alt, lebt aber immer noch bei seinen Eltern, auf einem Hof bei Norderstedt. Unten wohnen Mutter […] und Vater […], den ersten Stock teilen sich [der mutmaßliche Täter], seine […] Schwester, sein […] Bruder und dessen Ehefrau.

Abgesehen davon, dass eine solche Wohnsituation auch wohlwollend als Mehrfamilienhaus mit verschiedenen Generationen unter einem Dach bezeichnet werden könnte, nennt “Bild” nicht nur das Alter jedes einzelnen Familienmitglieds, sondern zeigt auch noch ein Foto des Hofs inklusive Ortsangabe.

Nächster Beleg für die “Durchgeknalltheit” des mutmaßlichen Täters:

Er hielt sich für Spiderman. Ein Foto des Spinnenmannes mit dem einmontierten Gesicht von […] hängt bei einem früheren Arbeitgeber an der Wand.

Es ist noch nicht mal klar, ob der mutmaßliche Täter diese Montage selbst angefertigt hat. Ihm allein deshalb unterstellen, er halte sich für Spiderman, ist perfide. Dann müsste sich auch Kai Diekmann für eine gigantische Statue mit einer goldenen Gurke in der Hand halten.

Müssen wir noch erwähnen, dass das Gesicht des Taxifahrers in der Spiderman-Montage bei “Bild” nicht anonymisiert ist?

Und die “Bild”-Spurensucher fanden noch mehr heraus:

Er wollte Pfand für Wodka-Flaschen! Am 9. Juni tauchte Ralph B. mit seinem Taxi bei einer Tankstelle auf und wollte die leeren Fusel-Pullen abgeben.

Das muss man sich mal vorstellen: Pfand für Wodkaflaschen als Indiz für Wahnsinn! Wenn jeder, der das deutsche Flaschenpfandsystem nicht ganz durchblickt, “durchgeknallt” ist oder in einer “irren Welt” lebt, dann haben wir ein Problem.

Sollte “Bild” trotz dieser lausigen Beweise richtig liegen, was die Frage nach der geistigen Gesundheit des mutmaßlichen Täters angeht, dann hätten die beiden Reporter (neben der o.g. Verletzungen der Persönlichkeitsrechte) ironischerweise auch noch gegen diese Richtlinie des Pressekodexes verstoßen:

Richtlinie 4.2 – Recherche bei schutzbedürftigen Personen
Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen ist besondere Zurückhaltung geboten. Dies betrifft vor allem Menschen, die sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen […] Kräfte befinden oder einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind […]. Die eingeschränkte Willenskraft oder die besondere Lage solcher Personen darf nicht gezielt zur Informationsbeschaffung ausgenutzt werden.

Mit Dank an Leo.

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Kodex-Exegese

Der Pressekodex, jenes Regelwerk, zu dessen Einhaltung sich die deutschen Print- und Onlinemedien selbst verpflichtet haben (und dessen Nicht-Einhaltung für sie quasi folgenlos ist), gibt eine eher freudlose Lektüre ab. Wie richtige Gesetzestexte auch, ist der Kodex recht trocken gehalten.

Was soll man sich zum Beispiel unter der Richtlinie 12.1 vorstellen?

Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Und Ziffer 1 ist dann vielleicht doch ein bisschen allgemein formuliert:

Ziffer 1 – Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse. (…)

Grau ist alle Theorie, schön bunt ist die “Bild”-Zeitung — und die zeigt heute auf ihrer Seite 3 gleich an mehreren Stellen recht anschaulich, wie der Pressekodex gemeint sein könnte:

Rumänische Geldautomaten-Bande in Dortmund geschnappt - Läuft in Remscheid ein Sex-Schwein frei herum?
Immerhin haben sie es geschafft, die Gesichter notdürftig zu anonymisieren.

Selbsttötung, Solarbäume, Bauer sucht Frau

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Loblied des Links”
(spiegel.de, Sascha Lobo)
Sascha Lobo lobt den Link: “Der Link verheisst Vernetzung, Zugänglichkeit, Offenheit. Ein Link gibt dem Nutzer auch die Möglichkeit, die Seite zu verlassen; im Link steckt deshalb die Freiheit des Netzes. (…) Verlinkung ist digitales Leben, der Rest ist Konsum.”

2. “Dreifach-Suizid: Fragwürdige Details”
(ndr.de, Video, 4:32 Minuten)
“Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände”, heisst es in Richtlinie 8.5 des Pressekodex. “Zapp” berichtet über einen aktuellen Fall aus Niedersachsen: “Selbsttötungen haben als solche in der Presse nichts verloren. Das sollten Journalisten wissen, spätestens seit Robert Enke. Von daher war es unverantwortlich, was sich letzte Woche in vielen Medien abspielte.”

3. “Bauernopfer”
(sueddeutsche.de, Frederik Obermaier)
Frederik Obermaier berichtet aus dem oberbayerischen Aiglsham, dem Wohnort des durch die Doku-Soap “Bauer sucht Frau” bekannt gewordenen Bauers Josef und seiner Frau Narumol. “An einem einzigen Wochenende, so erzählen einige Dorfbewohner hier, fahren so viele Autos durch den 60-Einwohner-Weiler wie vor Bauer sucht Frau nicht mal in einem Monat.”

4. “Von Solarbäumen, Fibonacci-Folgen und unbelehrbaren Schreiberlingen”
(intern.de)
“13-Jährigem gelingt Durchbruch in Solarenergiegewinnung”, meldete beispielsweise Gizmodo.de vor wenigen Tagen. Intern.de schreibt auf, was sich ereignete, nachdem ein Blogger daran öffentlich zweifelte.

5. “Wenn Gerüchte Fakten schaffen”
(dw-world.de, Video, 4:09 Minuten)
Detlef Saitner liest keine Zeitungen mehr: “Er liest lieber im Netz, bei den Crash-Propheten. Deren Klickraten haben sich seit 2008 fast verdreifacht.”

6. “Der Lottogewinner Erwin Lindemann”
(youtube.com, Video, 3:41 Minuten)
“Wie kann man einen ‘Brennpunkt’ zum WM-Aus für Michael Ballack machen aber keinen zum Abschied von einer Legende, die so lustig war wie sonst kein Deutscher und so deutsch wie sonst kein Lustiger?”, fragt Imre Grimm auf haz.de.

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Wir müssen leider draußen bleiben

Am Dienstag hatte “Bild” erklärt, dass sie es für ihre Pflicht hielten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, wie ein Kindesentführer aussieht, und damit die Spruchpraxis des Deutschen Presserats kritisiert (BILDblog berichtete).

Doch nicht nur der Presserat ist anderer Meinung als “Bild”, sondern auch die Justiz: Gestern, am zweiten Verhandlungstag, verhängte der Vorsitzende Richter am Potsdamer Landgericht ein Fotoverbot für die Medien. Er dulde in seinem Sitzungssaal keine Hetzjagd, sagte er laut “Berliner Zeitung”.

Und weiter:

[N]icht nur der Täter wurde an den Pranger gestellt, sondern auch Verwandte des Mannes. “Sicher muss zwischen dem Interesse der Öffentlichkeit und dem Interesse der Prozessbeteiligten abgewogen werden”, sagte Dielitz. Dies sei nicht immer einfach. In diesem Fall aber habe sich die Ex-Frau des Angeklagten, die als Zeugin gehört werden soll, einer Hetzjagd durch die Presse ausgesetzt gefühlt.

Es ist übrigens denkbar, dass sich die Berichterstattung von “Bild” strafmildernd auf das Urteil des Gerichts auswirkt — es wäre nicht das erste Mal.

“Bild” selbst berichtet heute nicht weiter über den Prozess.

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Ohne Gesicht kein Bericht

Bei “Bild” können sie es selbst nicht fassen, was sie da schreiben (müssen):

“Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen”

Ja, liebe Leser, Sie haben richtig gelesen: “Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen”, sagt der Deutsche Presserat, der oberste Sittenwächter der Presse – und kritisiert aus diesem Grund immer wieder die BILD-Zeitung. Weil wir ganz anderer Meinung sind. Weil wir glauben, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, wie ein Vergewaltiger, ein Kinderschänder und ein Mörder aussehen. Und wir deshalb Vergewaltiger, Kinderschänder und Mörder auch zeigen.

Mit diesen zwei Absätzen ist eigentlich alles gesagt, denn natürlich handelt es sich beim Schutz der Identität nicht um irgendeine hippiemäßige Meinung des Presserats, sondern um ein Recht, das sich aus den Grund- und Menschenrechten ableitet und für alle Menschen gilt. Dieses Recht muss im Einzelfall immer gegen das Interesse der Öffentlichkeit abgewogen werden.

Deswegen lautet die Aussage des Presserates vollständig auch:

Die Identität eines Straftäters ist grundsätzlich zu schützen. Nur in Ausnahmefällen darf die Identität eines mutmaßlichen Täters in der Berichterstattung preisgegeben werden. Dabei ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen.

(“Grundsätzlich” ist hier also nicht im Sinne von “immer”, sondern im Sinne von “in aller Regel” gemeint.)

“Bild” glaubt offensichtlich nicht nur, “dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat zu erfahren, wie ein Vergewaltiger, ein Kinderschänder und ein Mörder aussehen”, sondern auch, wie ein Kindesentführer aussieht: Im Februar hatte die Zeitung über eine Kindesentführung in der Nähe von Berlin berichtet. Für ihre Form der Berichterstattung erhielt “Bild” vom Presserat eine “nicht-öffentliche Rüge”, über die die Zeitung schreibt:

Grund: Das Persönlichkeitsrecht des Täters, also sein Recht auf Anonymität, verbiete die Namensnennung und Abbildung. “Aus der Schwere der Tat”, so der Presserat, “könne nicht geschlossen werden, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiege.”

“Bild” hatte in der Berichterstattung allerdings nicht nur ein Foto des mutmaßlichen Täters gezeigt und dessen (abgekürzten) Namen genannt, sondern auch dessen Lebensumfeld sehr genau beschrieben.

Der Presserat beschreibt die “Erwägungen des Beschwerdeausschusses” unter anderem so:

Aus der Schwere der Tat könne hier jedoch nicht geschlossen werden, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegenüber den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen überwiege. Es müssten weitere Umstände hinzukommen, die für eine Abbildung sprächen. Entgegen der Argumentation des Beschwerdegegners rechtfertige auch das Geständnis die identifizierende Berichterstattung nicht. Gleiches gelte für Aspekte wie das genaue Planen der Tat, die familiäre Situation des mutmaßlichen Täters und seine berufliche Stellung. Diese seien möglicherweise strafrechtlich, jedoch nicht pressethisch von Bedeutung.

“Bild” verkürzt diese Abwägungen zu einer allgemeingültigen Frage:

Ist also der Schutz des Täters wichtiger als die Berichterstattung über eine schwere Straftat?

Wir finden Nein und finden uns mit der Rüge des Presserates auch nicht ab. Deshalb zeigen wir auch heute ein Bild von Carolinas Entführer – und zwar aus dem Gerichtssaal.

Den letzten Satz hat “Bild” natürlich nicht einfach so dahin geschrieben:

Diesen Entführer soll BILD nicht mehr zeigen dürfen

Auch die eigenen Leser will “Bild” mal wieder mobilisieren:

Ist der Schutz eines Täters wichtiger als die Berichterstattung über eine schwere Straftat? Sagen Sie dem Presserat Ihre Meinung: Deutscher Presserat, Fritschestraße 27/28, 10585 Berlin, Tel: 030 / 36 70 07-0, Fax 030 / 36 70 07-20, Email: info@presserat.de

Bis zum Mittag seien “einige Hundert Anrufe, einige Hundert E-Mails und ein paar Faxe” eingegangen, wie uns der Presserat auf Anfrage erklärt. Drei Viertel der Menschen seien für “Bild” gewesen, ein Viertel habe sich differenziert geäußert — auch mehrere Beschwerden über den heutigen Artikel seien auch schon dabei gewesen. Am Nachmittag sei das Verhältnis schon bei zwei Dritteln zu einem Drittel gewesen.

Dabei könnte “Bild” auf derlei populistische Aktionen verzichten: Der Presserat wird von Verlegerverbänden und Journalistengewerkschaften getragen, das heißt die Axel Springer AG, bei der “Bild” erscheint, könnte sich für eine Änderung des Pressekodex in diesem Punkt einsetzen. Das hat sie laut Presserat bisher noch nie versucht.

Mit Dank an die vielen, vielen Hinweisgeber! (Ihr könnt jetzt aufhören!)

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Lynchvorlage

Ende Juni kam die siebenjährige Mary-Jane aus dem thüringischen Zella-Mehlis nach der Schule nicht nach Hause, am nächsten Tag fanden Spaziergänger ihre Leiche. Zwei Wochen später, am vergangenen Freitag, nahm die Polizei einen Tatverdächtigen fest, am Samstag hat er gestanden, das Mädchen sexuell missbraucht und dann getötet zu haben.

Auch “Bild” berichtet heute groß über das Geständnis und bedient sich dabei einer inzwischen liebgewonnenen Formulierung:

SIE HABEN DAS SCHWEIN!

Tino L. (37), ein vorbestrafter Metzger, ermordete das Kind aus Zella-Mehlis (Thüringen). Er war nur auf Bewährung in Freiheit!

Man kann das so verstehen, dass der mutmaßliche Täter schon einmal ein ähnliches Verbrechen begangen hat und die deutsche Justiz (die “Bild” und ihren Lesern immer viel zu lax durchgreift) wieder mal versagt hat. Tatsächlich war er wegen Betäubungsmittel- und Straßenverkehrsdelikten vorbestraft und auf Bewährung frei.

Doch der Mann ist für Europas größte Boulevardzeitung nicht nur ein vorbestraftes “Schwein”, er ist noch mehr:

Wer ist der Mörder, der Mary-Jane das angetan hat? Beruflich und privat ein ewiger Verlierer.

“Bild” belegt diese Behauptung damit, dass der Mann zuletzt in einer Reinigungsfirma gejobbt habe, nachdem er bei seinem vorherigen Arbeitgeber rausgeflogen sei, und er zwei Kinder von zwei verschiedenen Frauen habe, die er (“Bekannte berichten”), auf Wunsch der Mütter nicht sehen dürfe.

Der Artikel endet mit diesen Worten:

Der Killer sitzt jetzt in einer Einzelzelle, wird dauerhaft überwacht. Ein LKA-Beamter: “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”

Insofern fällt dieser “Bild”-Artikel vermutlich unter “Servicejournalismus”:

Das ist Mary-Janes Mörder: Er hat sie missbraucht, gewürgt und warf sie lebend in den Bach
Mit Dank an Therese.

Fortsetzung vor dem Presserat hier.

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