Im Juli hatte “Bild” groß über einen Mann berichtet, der ein siebenjähriges Mädchen in Thüringen sexuell missbraucht und getötet hatte. Im Rahmen ihrer Berichterstattung bezeichnete die Zeitung den geständigen mutmaßlichen Täter als “Schwein” und zitierte einen BKA-Beamten mit den Worten “Wenn er sich nicht selbst etwas antut, gäbe es im Knast genügend andere, die das gerne übernehmen würden.”
Wie um es den genügend Anderen im Knast einfacher zu machen, hatte “Bild” den Fall mit einem großen, unverfremdeten Foto des Mannes illustriert (BILDblog berichtete):
Wir haben uns beim Deutschen Presserat über die Berichterstattung von “Bild” und Bild.de beschwert. Wie in solchen Fällen üblich nahm die Abteilung Verlagsrecht der Axel Springer AG dazu Stellung und erklärte unter anderem, es entspräche der ständigen Spruchpraxis des Deutschen Presserats, dass bei vorliegendem Geständnis auch identifizierend über Tatverdächtige berichtet werden dürfe. (Der Presserat merkt dazu an, dass sich das Justiziariat dabei “auf den einzigen Fall mit diesem Tenor” berufe.)
Die Bezeichnung “Schwein” drücke nach Ansicht der Axel Springer AG aus, was der “weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung” über den Mann und die ihm zur Last gelegten Taten denke. Wer das Vertrauen und die Unterlegenheit eines Kindes ausnutze, um es sexuell zu misshandeln und es dann qualvoll umzubringen, sei nach herrschender Ansicht als “Schwein” zu bezeichnen. Auch die Einordnung als “beruflich und privat ein ewiger Verlierer” sei zulässig, da der mutmaßliche Täter sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich sein Leben nicht “auf die Reihe” bekommen habe, wie der Verlag weiter ausführte.
Den Abdruck des Fotos rechtfertigten die Springer-Juristen so:
Schon die Tatsache, dass jemand ein siebenjähriges Mädchen sexuell misshandele und sie danach ermorde, sei so außergewöhnlich, dass damit eine Fotoveröffentlichung gegen den Willen des Abgebildeten gerechtfertigt sei. Ein Großteil der deutschen Tagespresse haben über den Fall Mary-Jane berichtet.
Auszüge aus dem Pressekodex:
Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte
Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. Berührt jedoch das private Verhalten öffentliche Interessen, so kann es im Einzelfall in der Presse erörtert werden. Dabei ist zu prüfen, ob durch eine Veröffentlichung Persönlichkeitsrechte Unbeteiligter verletzt werden. Die Presse achtet das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.
Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen
(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.
Der Beschwerdeausschuss des Deutschen Presserats ließ sich von dieser Begründung nicht beeindrucken und kam zu der Überzeugung, dass die Beiträge von “Bild” und Bild.de die Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten verletzten und damit gegen Ziffer 8 in Verbindung mit Richtlinie 8.1 (s. Kasten) des Pressekodex verstoße.
Die identifizierbare Abbildung des Täters ist aus Sicht des Beschwerdeausschusses “ethisch nicht vertretbar”. Ein Tatverdächtiger könne ausnahmsweise abgebildet werden, wenn dies im Interesse der Verbrechensaufklärung liege oder wenn das Verbrechen unter den Augen der Öffentlichkeit begangen werde. Eine solche Ausnahme sei im konkreten Fall aber nicht gegeben, “Bild” hätte auch ohne Abbildung der Person oder mit ausreichend unkenntlich gemachten Bildern umfassend über den Fall berichten können.
Einen Verstoß gegen Ziffer 1 des Pressekodex, die zur Achtung der Menschenwürde mahnt, konnte der Beschwerdeausschuss jedoch nicht feststellen. Durch die Verwendung der Bezeichnung “Schwein” werde deutlich, “dass die Tat von der Redaktion als Schweinerei verstanden werde”. Sie bringe mit “bildhafter Sprache” eine zulässige Bewertung zum Ausdruck.
Die “Maßnahmen” des Presserates:
Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:
einen Hinweis
eine Missbilligung
eine Rüge.
Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.
Die letzten Ausführungen sind bemerkenswert, hatte der Presserat den Begriff “Schwein” (anders als etwa den Begriff “Bestie”) oder “Dreckschwein” doch bisher meist als Verletzung der Menschenwürde angesehen.
Insgesamt wertete der Beschwerdeausschuss den Verstoß gegen Ziffer 8 aber als so schwerwiegend, dass er eine “Missbilligung” aussprach (s. Kasten). Nach § 15 Beschwerdeordnung besteht zwar keine Pflicht, Missbilligungen zu veröffentlichen. Als Ausdruck fairer Berichterstattung “empfiehlt” der Beschwerdeausschuss jedoch die Veröffentlichung.
Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].
1. “Charlie Hebdo: Brandsatz gegen Satire” (ndr.de, Video, 5:38 Minuten)
Ein Besuch in der Redaktion der Satirezeitschrift “Charlie Hebdo”, die nach einem Brandanschlag bei der Zeitung “Libération” Asyl gefunden hat. “Allein die katholische Kirche hat 14 Prozesse gegen die Zeitung geführt – alle hat sie verloren.”
2. “Gefühle als Vorwand” (jungle-world.com, Frederik Stjernfelt)
Frederik Stjernfelt schreibt über die Rezeption des Brandanschlags: “Das niederträchtige Argument, ein Brandanschlag sei nicht weniger verwerflich als einige, wenn auch etwas geschmacklose Witze, entstammt einer Haltung, die sich unter vielen westlichen Intellektuellen und Kommentatoren in den vergangenen Jahren verbreitet hat, nämlich aus dem Verständnis für die vermeintlich ‘verletzten Gefühle der Muslime'”.
3. “Die ‘Petarden-Trottel’-Kampagne – ein Fall für den Presserat?” (philippe-wampfler.com)
Beim Fußballspiel Lazio Rom gegen den FC Zürich explodiert einem mitgereisten Anhänger der Zürcher eine Petarde in der Hand. “Doch das hindert Benny Epstein nicht daran, den Mann an den Pranger zu stellen, Photos von ihm zu publizieren und seinen Arbeitgeber und seine Eltern zu belästigen”.
4. “Mediale Hysterie hat deutlich zugenommen” (meedia.de, Alexander Becker)
Ein Interview mit Rainer Schäfer über den Druck von Journalisten auf Fußballer. “Es ist naiv zu glauben, dass eine Art Selbstverpflichtung der Medien funktionieren könnte. Es wäre aber schon viel erreicht, wenn alle ein wenig Druck aus der Berichterstattung nehmen könnten, wenn Kritik weniger polemisch und diskreditierend geäußert würde.”
Vor zwei Jahren wurde “Bild” vom Presserat wegen “unangemessen sensationeller” Berichterstattung zum Tod von Michael Jackson gerügt. Zu der Überschrift “Hier verliert er den Kampf um sein Leben” zeigte die Zeitung damals ein riesiges Foto, auf dem Jackson auf einer Trage liegend und an Beatmungsgeräte angeschlossen zu sehen war. Da dadurch bei Lesern der Eindruck entstehe, einem Menschen unmittelbar beim Sterben zuzusehen, sah der Beschwerdeausschuss darin einen Verstoß gegen die Menschenwürde (BILDblog berichtete).
Hat die Rüge gefruchtet? Nun, das mit dem “beim Sterben zusehen” scheint immer noch spannend genug zu sein, um es auf der Startseite von Bild.de so anzuteasern:
Im gut bebilderten Artikel heißt es:
Das Feuer lodert aus dem Dach des Wohnmobils, im Innenraum liegen zwei Bankräuber. Unklar, ob die beiden Männer schon tot sind, als das Feuer ausbricht, oder ob sie Opfer der Flammen werden.
Scheinbar inspiriert durch Halloween fand es “Bild”-Reporterin Angela Wittig angebracht, in der Leipziger Regionalausgabe über dieses Phänomen zu berichten:
Dazu zeigt “Bild” fünf verschiedene Angeklagte, die sich wahlweise hinter einer Kindermatratze, der sächsischen Verfassung oder anderen Gegenständen verbergen, und garniert diese Aufnahmen mit Bemerkungen wie:
MODELL MIEZEKATZE
Tarnung: Fellkapuze und Kätzchen-Notizbuch
Dahinter: Bäcker Oliver Q. (42)
Er nahm 19 Geiseln bei “H&M” (…). Galt aber zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig, bekam vom Landgericht fünf Monate auf Bewährung.
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Zeitung, die regelmäßig vom Presserat gerügt wird, weil sie ebenso regelmäßig darauf pfeift, die Identität von Angeklagten zu schützen, zeigt reihenweise Angeklagte, die versuchen, eben nicht in Zeitungen wie “Bild” zu erscheinen, und verspottet sie auch noch.
Interessanterweise scheint Frau Wittig zwei verschiedene Versionen ihres Artikels verfasst zu haben. So behauptet sie online:
(…) Darf man als Angeklagter kostümiert zum Prozess erscheinen?
Eigentlich nicht, denn man muss vor den ehrwürdigen Richtern aufstehen, wenn sie den Saal betreten, um ihnen Respekt zu zollen.
Das ist so nicht richtig. Laut § 178 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) “kann” gegen “Beschuldigte (…), die sich in der Sitzung einer Ungebühr schuldig machen” zwar “ein Ordnungsgeld bis zu eintausend Euro oder Ordnungshaft bis zu einer Woche festgesetzt und sofort vollstreckt werden”, dies liegt aber im Ermessen des Richters.
In der gedruckten “Bild” heißt es daher auch korrekterweise:
Ausdrücklich verboten ist die Maskerade übrigens nicht. Laut Prozessordnung müssen die Angeklagten zwar aufstehen, wenn der Richter den Saal betritt. Solange aber die Fotografen und Kameraleute im Prozess sind, toleriert das Gericht die Maskerade. Erst danach müssen die Verkleidungen abgelegt werden.
Übrigens müsste ausgerechnet Angela Wittig am besten wissen, warum es sogar ratsam ist, sich nicht von “Bild” fotografieren zu lassen. Sie selbst war es nämlich, die vor gut zweieinhalb Jahren einen unschuldigen Mann zum Kinderschänder erklärte (BILDblog berichtete). Erst acht Monate später, nachdem BILDblog eine Beschwerde beim Presserat eingereicht hatte, war “Bild” bereit, diesen Fehler einzuräumen (BILDblog berichtete).
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2. “Nepper, Schlepper, Bauernfänger: Die künstliche Empörung über die BSF-Knebelverträge” (couchfunk.de, Christoph)
“Bei ‘Bauer sucht Frau’ stinkt’s zum Himmel!” lautete die “Bild”-Titelgeschichte vom vergangenen Samstag. “Wirklich anrüchig und platt ist der ‘Bild’-Bericht aber, weil gerade die Regenbogenpresse doch überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass Casting-Opfer zu sprichwörtlich gewordenen Witzfiguren, Hassobjekten oder asozialen Monstern werden konnten. Wenn die ‘Bild’ also Empörung heucheln will, dann doch bitte in Form einer Aufklärungskampagne, die ihren Lesern einen Monat lang das Fremdschäm-Fernsehen austreibt und Begriffe wie Anstand und Menschenwürde zumindest mal wieder in Erinnerung ruft. Denn wenn etwas die Casting- und Verächtlichkeitsmachungswelle stoppen kann, dann höchstens massiv sinkende Einschaltquoten.”
3. “Pervers gutes oder einfach nur perverses Theater?” (technoarm.de, Martin Böttcher)
Gleich zwei “Bild”-Mitarbeiter zeichnen eine Kritik des Theaterstücks “John Gabriel Borkman” von Henrik Ibsen. “Die Richtung ihrer Kritik und die krassen inhaltlichen Fehler, die in ihrem Text auftauchen, lassen eigentlich nur drei Schlüsse zu: Sie waren nicht da. Oder sie haben von Theater keine Ahnung. Oder sie waren nicht da und haben von Theater keine Ahnung.”
4. “Brigitte MOM” (dasnuf.de)
Das Nuf liest “Brigitte Mom”: “Tatsächlich habe ich hier nichts gelesen, was mich irgendwie tief bewegt oder mich an irgendeiner Stelle zusätzlich informiert hat. Aber das muss gar nicht sein. Manchmal genügt es eine Zeitschrift zu haben, die man immer mal wieder in die Hand nimmt und kurz dem Alltag entflieht.”
Aus dem Schicksal eines deutschen Urlaubers in Französisch Polynesien kochen Zeitungen aus aller Welt genüsslich ein Kannibalen-Süppchen. Im deutschen Raum ist besonders das Vorgehen von “Bild” ein Musterbeispiel an Sensationsgier, Geschmacklosigkeit und Perfidie.
“Bild” und Bild.de verbreiten dabei rassistisch geprägte Vorurteile gegenüber Bevölkerungsgruppen, die bereits im Zeitalter des Kolonialismus mit Hilfe perverser Klischees von Europäern unterdrückt, ausgebeutet und getötet wurden.
Ein kleiner Satz am Ende der ersten Meldung bei Bild.de am 14. Oktober bringt den Stein ins Rollen:
Französisch-Polynesien liegt im Pazifik, die bekannteste Insel ist Tahiti. In Französisch-Polynesien war Kannibalismus einst sehr verbreitet.
Obwohl die Ermittler noch völlig im Dunkeln tappen, kreiert Bild.de aus verbrannten menschlichen und tierischen Überresten auf einer Marquesas-Insel mitten im Pazifik und den Aussagen der verstörten Freundin des verschollenen deutschen Weltumseglers Stefan R. eine große Kannibalen-Story. Dabei ist die Schlussfolgerung rein logisch schon recht hanebüchen: Ein Feuer, Tierkadaver und eine menschliche Leiche sprechen ja eher nicht für Kannibalismus, sondern eher für den Versuch, die Spuren eines Verbrechens zu kaschieren bzw. restlos zu beseitigen.
Doch wie kommt Bild.de überhaupt auf die Kannibalismus-Idee? Romanautoren, Abenteurer und Kaufleute haben vor hunderten von Jahren von Kannibalen in der Südsee, der Karibik und Schwarzafrika geschrieben, die sie angeblich gesehen haben wollen. Für die Marquesas-Inseln waren das etwa der Abenteuer-Roman-Autor Herman Melville (“Moby Dick”) und der belgische Kaumann Jacques-Antoine Moerenhout. Handfeste Beweise wurden jedoch nie erbracht.
Erwiesen ist hingegen, dass die Entdecker der neuen Welt und deren Nachhut ihre Grusel-Erzählungen in Gestalt von sogenannter “Transamericana-Literatur” gewinnbringend auf dem europäischen Buchmarkt verkauft haben. Außerdem wurden die gewaltsame Kolonialisierung und Christianisierung durch die Europäer mit einer notwendigen Zivilisierung der “Wilden” gerechtfertigt. Neben Kannibalen wurde auch von zahlreichen anderen Fabelwesen, wie Amazonen oder Seeungeheuer berichtet, an die heute keiner mehr glaubt. Der noch aus der Antike stammende Mythos des Kannibalen hält sich jedoch hartnäckig, weil er im Bereich des unvorstellbar Vorstellbaren liegt.
“Bild” behauptet, die Polizei auf der Insel Nuku Hiva befürchte einen Kannibalen-Mord. In Wirklichkeit scheint es jedoch der Wille von “Bild” zu sein, einen Mord mit der Menschenfresserei zu verbinden:
WURDE DER DEUTSCHE ABENTEURER VON KANNIBALEN ERMORDET?
Die Polizei auf den Marquesas-Inseln (gehört zu Französisch Polynesien) befürchtet genau das!
Noch einmal wird die Gefahr vor etwaigen Kannibalen beschworen:
Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt wegen Mordes. Beängstigend: In der Vergangenheit berichteten Forscher und Seefahrer immer wieder über Kannibalen auf den Marquesas-Inseln!
Namentlich nicht genannte Forscher und Seefahrer aus der “Vergangenheit” bleiben also weiterhin die einzigen Referenzen, die “Bild” zur Kannibalismus-These vorweisen kann.
Unterdessen hat Bild.de einiges über den mutmaßlichen Mörder des Abenteurers (bzw. für “Bild” natürlich den “mutmaßlichen Kannibalen”) in Erfahrung gebracht. Das Online-Portal nennt seinen Namen, zeigt sein Bild und berichtet, der Mann sei tätowiert, trage eine Sonnenbrille und habe ein freundliches Lächeln. Die “bange Frage” von Bild.de lautet nicht etwa: “Lebt Stefan R. noch?”, sondern “Ist er Kannibale und hat er sein Opfer gegessen?” und “Grinst uns hier ein Kannibale an?”
Weil sich keine Behörde finden lässt, welche die Kannibalismus-These von “Bild” und Bild.de bestätigen will, holen sich die Autoren stattdessen einen “Tattoo-Experten”: Den Betreiber eines Tattoo-Studios in Minden, der das Tattoo des “mutmaßlichen Kannibalen” erklären soll. Und der ist sich ganz sicher: “Es zeigt einen Kaioi-Krieger in seinem Kanu.”
“Bild” ergänzt:
Die Kaioi waren dafür bekannt, ihre Kriegsgegner zu fressen.
Doch “Bild” will sich nicht nur auf diese Expertise stützen und hat deshalb an deutschen Universitäten herum telefoniert, um der Frage nachzugehen:
Die Zeichnung entstammt dem französischen Abenteuer-Magazin “Journal des Voyages” aus dem Jahr 1878 und soll suggerieren: So war es damals und so könnte es auch heute wieder geschehen sein. “Menschenfresser verspeisen einen Seemann“.
Derartige Hefte sind zwar historische Quellen, aber mit deutlicher Vorsicht zu genießen. Sie geben lediglich Auskunft darüber, wie die “Neue Welt” aus europäischer Sicht beschaffen war. “Bild” knüpft nahtlos an dieses koloniale Weltbild an: Europäische Zivilisation und Fortschritt gegen niedere, triebhafte Wilde.
“Bild” versucht, die eigene antiquierte Weltsicht zu untermauern, indem sie zwei Wissenschaftler der Gegenwart zu Wort kommen lässt. Zuerst der “Kannibalismus-Experte” Dr. Gundolf Krüger:
“Eigentlich sind die Einwohner Polynesiens heute zum Großteil christianisiert und alphabetisiert und damit ein frommes und gebildetes Volk”, erklärt Kannibalismus-Experte Dr. Gundolf Krüger (61). Für ihn klingt der Tod des Deutschen nach einem wahnsinnigen Einzeltäter. Krüger: “Kannibalismus liegt außerhalb jeder Norm. Aber es ist gut möglich, dass sich der Täter von alten Ritualen leiten ließ.” So war es Tradition der “Kaioi” (Krieger), Feinde zu enthaupten und von ihren Extremitäten zu kosten. “Um sich ihr Mana, ihre Lebenskraft, einzuverleiben. Es ging aber nie um den Genuss des Fleisches”, erklärt Krüger.
Auf Anfrage von uns erklärt Krüger, “Bild” habe ihn in einer völlig falschen Weise wiedergegeben: Er habe dem Anrufer vom Axel-Springer-Verlag sehr differenziert erläutert, dass es außer literarischen Zeugnissen von Melville und der späteren Trivial-Literatur keine Beweise für Kannibalismus auf den Marquesas gebe. Außerdem habe er darauf hingewiesen, dass man bei diesem Thema sehr behutsam und mit größter Vorsicht vorgehen müsse.
Dr. Gundolf Krüger hat per E-Mail insgesamt drei Zitate freigegeben, die jedoch nie erschienen. “Ich bin im übrigen kein Kannibalismus-Experte, sondern Ethnologe mit dem Fachgebiet Ozeanien”, stellt Krüger klar.
Immerhin kommt dann die ausgewiesene Kannibalismus-Skeptikerin Annerose Menninger zu Wort, die “Bild” als Ethnologin bezeichnet, die aber eigentlich als Historikerin an der Bundeswehruniversität München lehrt:
Ethnologin Prof. Annerose Menninger (50) beschreibt ein anderes Ritual: “Es muss nicht sein, dass Stefan R. verspeist wurde. Möglicherweise ist das Opfer verunglückt und bei der Zeremonie am Feuer handelte es sich um ein Bestattungsritual, mit dem der angebliche Täter den Toten noch ehrte.”
Die als Gegenspielerin von Dr. Krüger aufgebaute Privatdozentin Menninger ist Spezialistin für die Frühe Neuzeit der Karibik, nicht für die Südsee und schon gar nicht für den aktuellen Fall. Sie erklärt uns auf Anfrage: “Ich ärgere mich sehr, dass Bild mich so zitiert, bzw. meine Argumentation kontextentfremdet – und dabei auch noch haarsträubend unlogisch wiedergegeben hat. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Krüger habe ich nicht einmal Zitate freigegeben.” Die renommierte Dozentin berichtet, sie müsse sich seit der Veröffentlichung in “Bild” mit dem Unverständnis ihrer Fachkollegen herumschlagen.
Besser ergeht es da den Experten, die in einem anderen Artikel zu Rate gezogen werden: Sie haben einfach keine Namen.
Experten vermuten, dass einige nur deshalb sterben mussten, weil die Kannibalen Lust auf Menschenfleisch hatten. Das letzte bekannte Opfer auf Nuku Hiva soll ein etwa zehnjähriges Mädchen gewesen sein, das 1924 verspeist wurde. Jetzt offenbar ein neuer, schockierender Kannibalismus-Mord – ist Jäger (…) dem Todes-Kult verfallen, ein perverser Mörder, was steckt hinter dem Verbrechen?
Medien aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Deutschland und Großbritannien, widmen sich der Geschichte, meist völlig undifferenziert. Am weitesten geht der Korrespondent des “Tagesspiegels” und der “Potsdamer Neuesten Nachrichten”, Alexander Hofmann. Keine Behörde hat den Kannibalismus bestätigt, aber:
(Im Online-Auftritt des “Tagesspiegels” wurde die Überschrift inzwischen deutlich abgeschwächt. Dort lautet sie nun: “Deutscher von Kannibalen verspeist?”)
Die einheimische Bevölkerung und der mit den Ermittlungen betraute Staatsanwalt José Thorel versuchen unterdessen gegen diese diskriminierende Berichterstattung anzukämpfen:
“Kannibalismus, darüber will ich nichts hören. Das ist Wahnsinn. Ich sehe keine andere Grundlage, auf der wir von Kannibalismus sprechen könnten.
Für mich ist das kein Thema. Kannibalismus stand nie zur Debatte und ich verstehe nicht, wie die Presse dieses Thema so behandeln konnte.”
(Übersetzung von uns.)
“Survival International – Die Bewegung für indigene Völker” hat wegen der “beleidigenden und haarsträubenden” Berichte über Kannibalismus an einem deutschen Touristen im Südpazifik Beschwerde beim Presserat in Großbritannien eingereicht und zitiert dazu Benny Wenda, ein Mitglied der Ethnie der Lani in Papua:
Wir haben genug von diesen Geschichten. Sie beschreiben uns immer noch als Kannibalen, weil sie denken wir wären Wilde. Es ist als ob man Deutsche heute wegen ihrer Geschichte als Nazis bezeichnen würde. Oder Großbritannien ein Land nennen würde, in dem Hexen an Pfählen verbrannt, Kinder versklavt und Menschen öffentlich exekutiert werden. Es ist verrückter, rassistischer Journalismus.
Bild.de hingegen versucht im Umkehrschluss, den Staatsanwalt bloßzustellen: Hier wird José Thorel als “Südsee-Staatsanwalt”, der abwiegeln würde, bezeichnet. Bild.de unterstellt dem Staatsanwalt, er sei “besorgt um den Ruf der Insel”.
Munter setzt Bild.de den mutmaßlichen Mord mit Kannibalismus gleich:
Auch der Staatsanwalt kann den schlimmen Verdacht nicht aus der Welt räumen. “Es ist wahr, dass wir Fleischstücke im Feuer gefunden haben. Die gefundenen Zähne stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Stefan R.”, sagte Thorel.
Es bleibt also dabei: Bild.de meint, von einem verbrannten Körper auf einen kannibalistischen Akt schließen zu können.
Auch nachdem die trauernde Familie von Stefan R. dessen Tod auf seiner Homepage bekannt gegeben hat, gibt sich Bild.de nicht zufrieden, sondern stellt die mittlerweile fünf Tage alte, “furchtbare” Frage:
Die furchtbare Frage: Hat ein Kannibale den deutschen Weltumsegler getötet und Teile von ihm gegessen?
Dass diese Frage vornehmlich von westeuropäischen Medien gestellt wurde, verschweigt Bild.de elegant — es reden ja eh “alle” davon:
Seit dem Verschwinden des Urlaubers steht die Insel unter Schock. Der Täter ist auf der Flucht, und alle treibt die Frage um: Ist er wirklich ein Menschenfresser?
Als Bild.de heute von der DNA-Analyse berichtet, die ergeben hat, dass die Knochenreste und Zähne, die an einer Feuerstelle gefunden wurden, tatsächlich von Stefan R. stammen, da taucht der Kannibalismus-Vorwurf plötzlich mit keinem Wort mehr auf.
Sebastian Brauns ist freier Journalist. Im März dieses Jahres hat er für die “Zeit” über Kannibalismus-Mythen geschrieben.
Am 3. Oktober kürte “Bild” einhundert junge Deutsche, denen “die Zukunft gehört”. Darunter: Ein 16-jähriger Jungunternehmer aus Sachsen-Anhalt. Der “gründete mit 15 seine eigene Firma, entwickelt Marketing- und Medienkonzepte”.
Keine zehn Tage später kam die Ernüchterung:
Er heißt (…), ist ein 16-jähriger Bubi aus Sachsen-Anhalt – und wurde vor einem halben Jahr mit angeblichen Millionenumsätzen seiner eigenen Firma zum Topstar der Wirtschaftsbranche.
Bejubelt in Fachmagazinen und im TV, auch in BILD gefeiert als einer von 100 Deutschen, denen die Zukunft gehört.
Alles nur heiße Luft? Ist der Bengel ein Hochstapler? Der Staatsanwalt ermittelt gegen den 16-Jährigen!
Die Enttäuschung wich schnell Geschäftigkeit, denn mit vermeintlichenHochstaplern kennt sich die Zeitung natürlich aus.
Die Leipziger Regionalausgabe machte sich also an die Dekonstruktion der Überflieger-Geschichte:
Deutschlands jüngster Unternehmer. Zwei Jahre lang hielt er offenbar jeden zum Narren. Jetzt fällt sein Kartenhaus Stück für Stück zusammen.
Dabei erfuhren die Reporter so einiges:
Oma bezahlte die Büromiete. Der Schuldirektor bescheinigt (…) “mangelhafte Noten” und “Versetzungsgefahr”. Selbst die Schwester des smarten Vorzeige-Unternehmers, die mal für ihn arbeitete, schimpft: “Lassen Sie mich bloß mit diesem Kerl in Ruhe…”
Eine “geprellte Mitschülerin” (“Langes dunkles Haar, feurige Augen und eine Model-Figur”) “packte aus”:
“Er wollte, dass ich ihn rumkutschiere, weil ich schon einen Führerschein hatte”, erzählt Camilla. Und fügt hinzu: “Er schikanierte mich die ganze Zeit. Ich musste seine Kameras und Taschen schleppen. Sollte an seiner Seite sein, damit er gut rüberkommt. Er träumte von einem eigenen Film.”
Vieles an der angeblichen Erfolgsgeschichte (74 Mitarbeiter, “6,93 Millionen Euro Gewinn bei rund 13 Millionen Euro Umsatz im deutschsprachigen Raum”) ist zweifelhaft: Es liegen keine Eintragungen in den zuständigen Handelsregistern vor und auf der Facebookseite des angeblichen Pressesprechers (neben besagtem Jungunternehmer weitere 20 Freunde) lächelt einen ein Foto aus einer Bilddatenbank an.
Auszüge aus dem Pressekodex:
Richtlinie 8.1 – Nennung von Namen/Abbildungen
(1) Bei der Berichterstattung über Unglücksfälle, Straftaten, Ermittlungs- und Gerichtsverfahren (s. auch Ziffer 13 des Pressekodex) veröffentlicht die Presse in der Regel keine Informationen in Wort und Bild, die eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen würden. Mit Rücksicht auf ihre Zukunft genießen Kinder und Jugendliche einen besonderen Schutz. Immer ist zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen abzuwägen. Sensationsbedürfnisse allein können ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht begründen.
Richtlinie 8.4 – Erkrankungen
Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen. Mit Rücksicht auf ihn und seine Angehörigen soll die Presse in solchen Fällen auf Namensnennung und Bild verzichten und abwertende Bezeichnungen der Krankheit oder der Krankenanstalt, auch wenn sie im Volksmund anzutreffen sind, vermeiden. Auch Personen der Zeitgeschichte genießen über den Tod hinaus den Schutz vor diskriminierenden Enthüllungen.
Aber auch wenn alle jetzt erhobenen Vorwürfe gegen den Jungunternehmer zutreffen sollten, dürfte “Bild” nicht bei voller Namensnennung und Abbildung über ihn berichten — der Pressekodex sieht für jugendliche Verbrecher einen “besonderen Schutz” vor (s. Kasten).
Doch die Berichterstattung wird noch schwerwiegender:
Vom gefeierten Jungstar der Wirtschaftswelt zum Fall für den Psychiater!
[…] (16) aus Zerbst hält seit zwei Jahren als Unternehmer jeden zum Narren. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Teenager. Nun soll ein Gerichtspsychiater den Gymnasiasten untersuchen, ob dieser vielleicht psychisch krank ist.
Sollte der junge Mann tatsächlich psychisch krank sein, hätte “Bild” noch weniger Rechte, derart über seinen Fall zu berichten (s. Kasten).
Aber nicht nur das:
Wie tickt ein Mensch, der in einer Scheinwelt lebt? Psychologe Thomas Kasten (47) erklärt: “Das deutet auf eine multiple Persönlichkeitsstörung hin. Liegt hier auch ein krankhafter Hang zum Lügen vor, spricht man vom Münchhausen-Syndrom.”
Das Münchhausen-Syndrom ist, wie es Wikipedia formuliert, “eine psychische Störung, bei der die Betroffenen körperliche Beschwerden erfinden bzw. selbst hervorrufen und meist plausibel und dramatisch präsentieren.” Aufmerksame Zuschauer der TV-Serie “Dr. House” könnten das wissen, ein Psychologe sollte es tun.
Wir haben bei Thomas Kasten angefragt, ob “Bild” ihn richtig zitiert hat, haben aber bislang keine Antwort erhalten.
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1. “‘Blick’ beschuldigt falschen Mann” (20min.ch, Amir Mustedanagic)
Ein Mann wird von der Boulevardzeitung “Blick” beschuldigt, einen Busfahrer verprügelt zu haben. “Sein einziges Vergehen ist, dass er einen ähnlichen Vornamen hat wie der Täter und keinen tadellosen Ruf in Glarus geniesst.”
2. “(Kleiner) Sieg über ‘Bild'” (onlinejournalismus.de, Fiete Stegers)
Nach einer Beschwerde beim Presserat nimmt Bild.de eine beanstandete Fotogalerie “aus dem Netz”, wie es im Protokoll der Beschwerderatssitzung heisst: “Dieser Satz (…) freute mich noch mehr als die vom Presserat ausgesprochene ‘Missbilligung’ des Vorgehens von Bild Online wegen der Herabwürdigkung von der abgebildeten Frauen. Zumindest bis zu dem Augenblick, als ich durch kurzes Googlen feststellte, in wie vielen anderen Artikeln auf Bild.de die ‘Galerie der Schande’ derzeit weiterhin eingebunden ist.”
3. “Operation ‘Hackerazzi'” (welt.de, Uwe Schmitt)
Ein US-Amerikaner wird verdächtigt, “zwischen dem 3. November 2010 und dem 10. Februar dieses Jahres systematisch die E-Intimsphäre von Stars ausgespäht zu haben”, darunter Nacktbilder von Schauspielerin Scarlett Johansson.
4. “Kritische Journalisten nicht erwünscht” (dradio.de, Gunnar Köhne)
Die türkischen Medien stehen zunehmend unter dem Druck der Regierungspartei AKP: “Reine Medienkonzerne gibt es in der Türkei nicht. Die Besitzer von Zeitungen und TV-Stationen sind meistens auch noch in anderen Branchen tätig, etwa im Bau- oder Energiebereich. Somit sind sie abhängig von Staatsaufträgen. Mit einer 50-Prozent-Partei will sich niemand von ihnen auf Dauer anlegen.”
5. “Wachhund und Moralapostel” (wissen.dradio.de, Michael Meyer, Audio, 8:18 Minuten)
Woher das Wort Ombudsmann kommt, was Ombudsleute tun. “Experten zufolge ist die Kontrollinstanz aber immer gut für die journalistische Glaubwürdigkeit, obendrein fördere sie das präzise Arbeiten. Weltweit leisten sich allerdings nur rund 100 Redaktionen Ombudsleute.”
“Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig hatte einen Vorschlag, was mit Magnus Gäfgen passieren sollte, einen Kindermörder, der den Staat auch noch auf Schmerzensgeld verklagt hatte:
Meine Meinung: Ab in eine Gemeinschaftszelle und Hofgang mit allen anderen Ganoven!
Man kann sich ausmalen, was mit Gäfgen passieren würde, in einer Gemeinschaftszelle und beim Hofgang mit allen anderen Ganoven. Er würde es nicht überleben.
Man muss in dem Vorschlag von “Bild”-Leser Rolf K. aus Leipzig den Wunsch nach einer Lynchjustiz sehen oder gar den Aufruf dazu. Man kann es deshalb abstoßend finden, dass die “Bild”-Zeitung diese Leserstimme ausgewählt und veröffentlicht hat.
Doch der Presserat hat kein Problem damit. Er lehnte eine Beschwerde von uns schon im “Vorverfahren” ab, ohne überhaupt den Beschwerdeausschuss mit der Sache zu befassen.
Der Inhalt […] spiegelt nach unserer Einschätzung die Meinung eines Teils der Leserschaft wieder. Um allen Lesern zu verdeutlichen, welche Standpunkte in der Bevölkerung zu der Forderung bzw. zu der Person von Magnus Gäfgen existieren, ist es vertretbar, wenn diese Äußerungen dann so veröffentlicht werden. Es sind zwar extreme Meinungen, jedoch verstoßen sie nach unserer Ansicht nicht gegen die Menschenwürde Gäfgens.
Das betrifft auch andere Leserstimmen mit ähnlichem Tenor, die “Bild” und Bild.de im März veröffentlicht hatten, etwa die von Bernd M. Aus Lüdenscheid:
Das gibt es nur in Deutschland. In Amerika wäre diese Bestie kein Thema mehr.
Dass der Presserat das Wort “Bestie” nicht missbilligen würde, hätten wir natürlich vorher wissen können. 2009 urteilte der Beschwerdeausschuss über die “Bild”-Berichterstattung über einen mutmaßlichen Kinderschänder:
Außerdem sieht der Presserat mit der Bezeichnung “Dreckschwein” die Ziffer 1 des Pressekodex verletzt. Die Mehrheit im Beschwerdeausschuss kann der Argumentation der Zeitung nicht folgen, wonach auf diese Weise der vorherrschenden öffentlichen Meinung Ausdruck verliehen werde. Unabhängig von der Schwere der Vorwürfe gilt der Schutz der Menschenwürde. Die Bezeichnung “Sex-Bestie” hingegen hält der Beschwerdeausschuss für zulässig.
Einen Mann lynchen oder hinrichten lassen zu wollen, geht also menschenwürdetechnisch in Ordnung, so lange man ihn nur nicht mit einem Schwein vergleicht.
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1. “7 ultimative Tipps für Journalisten, damit Sie auch morgen noch einen Job haben” (gutjahr.biz, Richard Gutjahr)
“Streichen Sie das Wort ‘Synergien’ bitte noch heute aus Ihrem Wortschatz. Verbrennen Sie Ihre Social Media Guidelines. Lesen Sie keine Zeitung mehr. Zerschnippeln Sie Ihren Presseausweis. Zertrümmern Sie Ihr iPad. Meiden Sie Bedenkenträger. Denken Sie nicht an Geld.”
2. “Und weiter geht’s: Bilds Ökostrom-Bashing” (klima-luegendetektor.de)
Der “Klima-Lügendetektor” kritisiert die “Bild”-Titelgeschichte vom Samstag. Sie lautete: “Irrsinn: Deutschland verschenkt Strom ins Ausland … und wir kaufen ihn für teures Geld zurück”.
3. “Die LVZ und die Pipeline. Eine Liebesgeschichte.” (somereason.blogsport.eu)
Berichte über die Erdgasleitung OPAL kommen in der “Leipziger Volkszeitung” als “Werbespecials” daher. “Wer sich darüber beschweren will, darf sich übrigens an den Deutschen Presserat wenden. Bester Ansprechpartner dort ist dessen Vorsitzender – der LVZ-Chefredakteur Bernd Hilder.”
4. “Apple-Bashing bei der SZ” (kaliban.de)
Was der Ressortleiter und Chefreporter des Wirtschaftsteils der “Süddeutschen Zeitung” über Apple und Steve Jobs schreibt.
5. “Der börsennotierte Körper” (freitag.de, Ronnie Vuine)
Ronnie Vuine staunt, “wie sehr man in Netz und Presse Technologieunternehmen mit Ponyhöfen verwechselt” und über die Reaktionen auf den Tod von Steve Jobs: “Beides, die Trauer wie das Urteil über den Charakter, nimmt eine Vertrautheit an mit einer Person, wo niemals eine war.”