Vergangene Woche wurde ein Dreijähriger in Detmold erstochen, seine 15-jährige Halbschwester hat die Tat inzwischen gestanden. Die “Bild”-Medien berichten seitdem ausführlich über den Fall — und zeigen dabei ständig ein unverpixeltes Foto des getöteten Jungen. Sogar auf der Titelseite der Printausgabe vom vergangenen Freitag:
(Unkenntlichmachung durch uns.)
Auch in diversen Bild.de-Artikeln veröffentlichte die Redaktion das Foto ohne Unkenntlichmachung — alles für Klicks und Auflage, keine Spur von Rücksicht auf das Opfer und dessen Angehörige. Am Samstag zitierte “Bild” eine Freundin der Mutter des Opfers: Die Mutter befinde sich derzeit in einer psychiatrischen Klinik. Auch das scheint für das Blatt kein Grund zur Zurückhaltung zu sein.
“Bild” dürfte damit klar gegen den Pressekodex des Deutschen Presserates verstoßen. Kinder und Jugendliche sollen gerade in solchen Fällen geschützt werden, heißt es in Richtlinie 8.3:
Insbesondere in der Berichterstattung über Straftaten und Unglücksfälle dürfen Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in der Regel nicht identifizierbar sein.
Überhaupt, so steht es in der Richtlinie 8.2 zum Opferschutz, sei die Identität von Opfern besonders zu schützen und “das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich”. Mit folgender Einschränkung: “Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben”. Gab es in diesem Fall eine solche Zustimmung? Wir haben bei “Bild” mehrfach nachgefragt, ob die Redaktion eine Erlaubnis der Familie erhalten hat, das Fotos ohne Verpixelung zu verbreiten. “Bild”-Sprecher Christian Senft hat nicht geantwortet. Auch auf die Frage, woher “Bild” das Foto des Jungen hat, gab es keine Antwort.
Die “Bild”-Medien verbreiten aber nicht nur ein unverpixeltes Foto eines Dreijährigen, sie schildern auch exakt, wo sich die schreckliche Tat abgespielt hat: In verschiedenen Bild.de-Artikeln wird das Mehrfamilienhaus von hinten und von vorne gezeigt. Für alle, die es ganz genau wissen möchten, beschreibt die Redaktion in einer Bildunterschrift, um welche Wohnung in welcher Etage es sich handelt. In der gedruckten “Bild” vom Samstag haben sie sogar einen schwarzen Pfeil auf die Wohnung gerichtet, um auch den allerletzten Zweifel auszuräumen. Und sie zeigen ein Foto der Wohnungstür (“Hinter dieser Tür spielte sich ein furchtbares Drama ab”). Den Straßennamen haben die “Bild”-Medien da schon längst genannt, und die Hausnummer ist auf einem Foto ebenfalls zu erkennen.
Damit dürfte die “Bild”-Redaktion auch noch gegen Richtlinie 8.8 des Pressekodex’ verstoßen, in der es heißt: “Der private Wohnsitz sowie andere private Aufenthaltsorte (…) genießen besonderen Schutz.”
Das Magazin MÄDCHEN begleitet bereits seit über 40 Jahren junge Frauen und Mädchen beim Erwachsen werden und das auch digital — dort wo sich die Zielgruppe heute aufhält.
MÄDCHEN.de legt seinen Fokus auf Beautytrends und Styling speziell für junge Frauen und Mädchen. Zusätzlich finden Nutzerinnen aktuelle News zu ihren Stars, Horoskope, Spiele und Test sowie natürlich alles über Schule, Liebe und Beziehung.
… und den direkten Weg in Online-Casinos und an digitale Roulettetische, was im schlimmsten Fall in einer Spielsucht enden kann, aber das haben sie beim Verlag Klambt irgendwie vergessen dazuzuschreiben.
Scrollt man die Startseite von Mädchen.de durch, findet man zwischen der, öhm, Nachricht, dass “Hottie Noah Centineo” “sich von seinen Locken getrennt” hat, und Tipps, was gegen “Pickel im Intimbereich” helfen soll, unter anderem diesen Beitrag aus der vergangenen Woche:
Manche stehen auf stille, ruhige Leseratten, andere auf laute, lustige Mädchen, wieder andere auf robuste Kämpfernaturen und einige sicherlich auch auf genau das, was auch immer du bist!
Aber es gibt fünf Eigenschaften, auf die alle Jungen stehen, sei es bei einer sportlichen Kämpferin oder einer ruhigen Denkerin
(Muss es wirklich immer noch sein, dass man Mädchen und jungen Frauen erzählt, wie sie sein sollten, damit sie Jungen und jungen Männern gefallen?)
Die “fünf Eigenschaften”, auf die angeblich “alle Jungen stehen”, sind: “Ehrlichkeit”, “Humor”, “Gepflegtes Aussehen”, “Einen gesunder Körper und ein gesundes Eßverhalten” sowie:
Sinn für Spiel und Spaß — ohne einen Sinn für Spiel, Spaß und vielleicht auch ein bißchen Nervenkitzel geht nichts! Wer gerne spielt und eine Herausforderung wie Casinos online oder Roulette online nicht scheut, der kann auch in der Liebe nicht verlieren! Glück im Spiel und in der Liebe — das geht!
“Casinos online” und “Roulette online” sind mit direkten Links zu einem Schweizer Online-Casino versehen. “Du willst dem einen Jungen aus der Parallelklasse gefallen? Dann verzock hier doch mal ein bisschen von Deinem Taschengeld.”
Am selben Tag ist bei Mädchen.de ein anderer Artikel erschienen, der noch ein bisschen irrer ist:
Es wird metaphysisch — und ziemlich holzhammerig:
Im September, Oktober und November liegt etwas Magisches in der Luft und wenn du dir diese magische Zeit für, zum Beispiel, live wetten oder […] Casinos zu Nutzen machen willst, dann hast du jetzt die Gelegenheit! Vor allem im Oktober sind die magischen Ströme um uns herum besonders stark und du kannst einfache magische Rituale ausprobieren, vor allem Liebes- und Glücksrituale! Willst du es mal versuchen? Hast du Lust?
Klickt die junge Zielgruppe auf “live wetten”, landet sie bei einem Anbieter für Sportwetten, klickt sie auf “Casinos”, landet sie im Online-Casino-Bereich desselben Anbieters.
Die Mädchen.de-Redaktion erklärt dann noch, dass im Oktober “die Grenze zwischen unserer Welt und der Welt der Toten” sehr dünn sei, und dass man “vor allen Ritualen einen magischen Kreis” ziehen solle, um dann doch noch mal aufs Wesentliche (und die entsprechenden Links) zurückzukommen:
Für ein einfaches Glücksritual (zum Beispiel Glück im Spiel für Online Casinos oder bei […] Sportwetten!) brauchst du nur eine Kerze (die muß aber gold, grün oder rot sein) die mit Gewürznelkenöl eingestrichen ist und eine Schale mit frischem (!) Wasser und einige Münzen. (…) Halte die Münzen erst in deinen Händen und lasse sie dann, eine nach der anderen in die Schale mit dem Wasser gleiten. Es ist wichtig, dass du vorher laut sagst, dass alles Glück und Geld, das du auf diese Weise bekommen solltest, anderen in keiner Weise schaden darf!
Diesen wichtigen Schritt, um bei der Suche nach Glück und vor allem nach (Werbe-)Geld Schaden von anderen abzuhalten, scheinen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Mädchen.de selbst ständig zu vergessen, wenn sie ihre als Artikel getarnten Anzeigen für Glücksspiel in die Welt jagen.
Und das macht sie zu allen möglichen Themen. Zum Beispiel, wenn es vermeintlich um einen “Spieleabend für Groß und Klein” geht:
Es muss nicht immer das Mensch-ärgere-Dich-nicht sein.
Genau — wie wäre es zum Beispiel, mit den Freundinnen vor dem Laptop zu hängen und zu pokern?
Einmal spielen wie die raffinierten Pokerspieler, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen und immer schön cool bleiben. Das geht bei […].
Auch die Antwort auf die Frage, was Frauen am liebsten spielen, führt bei Mädchen.de zum Glücksspiel:
Eines der populärsten Genres unter Frauen ist das Denkspiel. In diese Kategorie fallen alle möglichen Puzzlespiele, Rätsel und Kartenspiele, die aus dem Casino bereits bekannt sind. […] Doch auch Spiele wie Poker und Blackjack finden immer größeren Anklang. Bei diesen Casinospielen wird ebenfalls eine Strategie sowie eine Kombinationsfähigkeit gefordert, die vielen von uns besonders gut liegt. Diese Spiele werden ebenfalls aufgrund ihrer einfachen Zugänglichkeit für Anfänger immer populärer: So bieten manche Online Casinos Anleitungen zu den Spielen. Andere erleichtern den Einstieg mit einem Online Casino Bonus ohne Ersteinzahlung, der es ermöglicht, ein Angebot zunächst auszuprobieren. Mobilität und Ausprobieren ist bei diesen Spielen garantiert.
Bei “Online Casino Bonus” hat die Redaktion einen entsprechenden Link gesetzt.
Und wenn es um Mädchen geht, die Videospiele mögen, gibt es ebenfalls einen Link zu einem Online-Casino:
Gamer Girls sind mittlerweile genauso trendy wie Gamer Guys, und zwar nicht nur als Liebestraum eines Zockers, der darin den Topf für seinen Deckel sieht. Tun mehrere Gamer Girls sich zusammen, können sie aus einem Mädelsabend auch eine LAN-Party machen. Doch auch wenn es sich nur um Casual Gamer handelt, können Online Spiele jeden Mädelsabend versüßen. Ladies über 18 können sich dafür sogar ins Casino Online einloggen — für alle anderen gibt’s hier unterhaltsame Tipps.
Prominente und das Glücksspiel, das ist seit Elvis untrennbar verbunden. Der Weltstar begann den wichtigsten Teil seiner Karriere in Las Vegas, dem ultimativen Ort für Glücksspiele wie Poker, Roulette und Black Jack. Heute muss aber niemand mehr bis in die Wüste fahren, um spielen zu können, denn Online Casinos haben das Internet erobert.
… und baut zwischen ein paar Promi-Geschichten aus den Casinos dieser Welt einen Link zu einer Vergleichsseite von Automatenspielen ein:
Ein besonders beliebtes Spiel ist dabei Poker, doch auch Automatenspiele, die laut der Webseite […] zu den besten Onlinespielen zählen, stehen in der Gunst ganz oben.
In einer großen Übersicht, in der die Redaktion schreibt, wonach “Dein Sternzeichen süchtig” ist, steht auch:
Wassermann
Candy-Crush? Farmville? Doodlejump? All diese Spiele hast Du auf Deinem Handy. Ganz klar: Wassermänner neigen zur Spielsucht! Aber solange es nur harmlose Handyspiele sind, brauchst Du Dir keine Sorgen machen. Gefährlich wird es erst, wenn Du regelmäßig auf Gaming-Seiten unterwegs bist oder in Casinos um Geld spielst.
Oder wenn Du Mädchen.de besuchst.
Mit Dank an Kad für den Hinweis!
Nachtrag, 22. Oktober: Die Redaktion von Mädchen.de hat alle Artikel, die wir hier thematisiert haben, gelöscht — selbst den Beitrag zur angeblichen Suchtgefahr beim Sternzeichen Wassermann, in dem es lediglich um die Gefahr von Gaming-Seiten und Casinos ging und überhaupt kein fragwürdiger Link zu einem Online-Casino vorkam.
Einen Artikel, den wir bisher nicht erwähnt hatten, und in dem Mädchen.de auf eine Seite mit Testberichten zu Online-Casinos verlinkt (die dann wiederum direkt zu den getesteten Online-Casinos verlinkt), hat die Redaktion hingegen nicht gelöscht.
Nachtrag, 22. März 2020: Der Presserat hat eine Rüge gegen die Mädchen.de-Redaktion ausgesprochen. Das Gremium bezog sich dabei auf den Artikel “Worauf stehen Jungs bei Mädchen? Die 5 Top Eigenschaften, auf die alle Jungen stehen!”:
Der Presserat sah darin eine unzureichende Kennzeichnung von Werbung nach Richtlinie 7.1 des Pressekodex, da die Verlinkungen nicht als Werbung erkennbar waren. Noch schwerwiegender war nach Ansicht des Beschwerdeausschusses allerdings der Verstoß gegen den Jugendschutz nach Ziffer 11. Es ist mit den presseethischen Grundsätzen nicht vereinbar, in einem redaktionellen Angebot, das sich in erster Linie an Jugendliche richtet, für Glücksspiele zu werben.
1. Die letzten Tage der “Welt” (taz.de, Ilija Trojanow)
Der Schriftsteller Ilija Trojanow beschäftigt sich in seiner “Gegner”-Lektüre mit der Tageszeitung “Die Welt”. Trojanow stört sich vor allem am trotzigen Öko-Bashing des Blatts: “All diese temperamentvollen Blockadehaltungen ergeben nur Sinn, wenn man die ökologischen Bedrohungen nicht ernst nimmt, wenn man nicht wirklich an Klimawandel und die fortschreitende Zerstörung der Natur glaubt. Wenn man davon ausgeht, dass es irgendwie mit Wachstum und Wohlstand, mit Verbrauch und Verschwendung so weitergehen kann, ad infinitum.”
Weiterer Lesetipp: Presserat: Volkswagen-“Welt” gefährdet Ansehen der Presse (uebermedien.de, Stefan Niggemeier).
2. “War bei der Entwicklung dieser Blöcke eine Frau beteiligt?” (sueddeutsche.de, Saskia Aleythe)
Beim Leichtathletik-Weltverband haben sie sich etwas besonders Innovatives einfallen lassen: Kameras an den Startblöcken filmen die Gesichter der Sportlerinnen und Sportler — und zwar von unten durch die Beine. Abgesehen von der distanzlosen Aufdringlichkeit während der Konzentrationsphase, wird die Vorgehensweise von Sportlerinnen wie Gina Lückenkemper als übergriffig kritisiert: “War bei der Entwicklung dieser Blöcke eine Frau beteiligt? Ich glaube nicht. In den knappen Sachen über die Kamera drüber zu steigen, um in den Block zu gehen, finde ich sehr unangenehm.” Die Kritik zeigt erste Wirkungen.
3. Leugnen ist zwecklos (spiegel.de, Christian Stöcker)
Christian Stöcker weist in seiner Kolumne auf ein Medienphänomen hin, nach dem viele Kommentatoren in Deutschland anscheinend mehr Probleme mit Greta Thunberg als mit dem menschengemachten Klimawandel hätten. Stöckers traurige Erkenntnis: “Auch das ist eine Folge der Klimakrise: Mit peinlichen Ablenkungsmanövern und Ad-Hominem-Attacken statt Argumenten blamiert man sich heute schneller als erwartet.”
Dazu passend ein Hörtipp: Bei Deutschlandfunk Kultur kritisiert der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski die Berichterstattung zum Klimawandel und warnt vor Aktivismus: Über die Klimakrise berichten! – Aber nicht so! (deutschlandfunkkultur.de, Katja Bigalke & Marcus Richter, Audio: 15:42 Minuten).
4. AfD lässt Dokus produzieren (tagesspiegel.de)
Um “eine Gegenöffentlichkeit zur einseitigen Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu schaffen”, lässt die AfD-Bundestagsfraktion längere Youtube-Videos produzieren. Fraktionsvize Peter Felser hat der “Welt am Sonntag” den ersten Titel verraten: “Dieselmord im Ökowahn”. Weitere derartige “Dokumentationen” sollen folgen.
5. Die Schein-Transparenz öffentlich-rechtlicher Gremien (dwdl.de, Hans Hoff)
Der öffentlich tagende MDR-Rundfunkrat hat ein seltsames Verständnis von Transparenz. Die eingeladenen Gäste werden mit der schweren Materie alleingelassen. Ihnen wird sogar der Einblick in die dort verhandelten Dokumente und Beschlussvorlagen verweigert. Hans Hoff fragt in seiner Medienkolumne folgerichtig: “Wie aber soll Transparenz funktionieren, wenn man die Scheibe, durch die zu blicken ist, milchig macht? Was ist da so wichtig, dass man es den Gästen nicht komplett zugänglich machen kann?”
6. Götterdämmerung – Warum Influencer ihre beste Zeit gehabt haben könnten (haz.de, Imre Grimm)
Imre Grimm ist genervt von Influencer-Marketing und hat all seine Genervtheit in einen Influencer-Rant gepackt: “Das System des Mietglamours ist in eine Sackgasse geraten, seit praktisch jeder als prominent gefeiert wird, der bei Instagram mehr als sieben Follower hat. Es gibt ein Überangebot an Prominenz. Laut einer Studie galt schon vor einigen Jahren jeder elfte erwachsene Deutsche als Influencer. Jeder! Elfte! Inzwischen dürfte es kaum jemanden geben, der nicht irgendwo heruminfluenzt.”
1. Höcke bricht ZDF-Interview ab und droht (zdf.de, David Gebhard & Dominik Rzepka)
Der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke hat ein Interview mit dem ZDF abgebrochen. In dem Gespräch ging es unter anderem um Höckes Bedeutung für die Bundes-AfD und um seine Sprache. Das ZDF hatte AfD-Abgeordneten Höcke-Äußerungen vorgelegt und sie gefragt, ob es Höcke- oder Hitler-Zitate seien. Nach zehn Minuten unterbrach Höckes Sprecher: “Das geht so nicht. Sie haben jetzt Herrn Höcke mit Fragen konfrontiert, die ihn stark emotionalisiert haben” und schlug vor, das Interview “noch mal von vorne” zu wiederholen. Das abgebrochene Interview mit Björn Höcke in voller Länge gibt es hier zu sehen, das Interview in Schriftform hier.
Weiterer Lesehinweis: Katja Thorwarth hat für die “Frankfurter Rundschau” das ARD-Sommerinterview mit dem AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland besprochen: “Gauland hätte im Vorfeld eigentlich Zuschauerfragen beantworten sollen, hatte darauf aber keine Lust. “Warum muss ich sozusagen in ein schwarzes Loch gucken?”, sollte sich der AfD-Mann später rechtfertigen, den erzürnte, dass er die Fragen nicht im Vorfeld zur Einsicht bekam. Wohl, damit er sich seine Phrasen zurecht legen kann, doch es sind ja gerade die spontanen Antworten gefragt — offensichtlich eine Überforderung für Gauland. Allerdings ist “Fragt selbst!” fester Bestandteil der Sendung, und konsequenterweise hätte das Erste den AfD-Fraktionsvorsitzenden ausladen müssen, immerhin hatten sich alle anderen Politiker bislang jenem Part gestellt.”
Außerdem lesenswert Philipp Peyman Engel von der “Jüdischen Allgemeinen”: Warum wir nicht mit der AfD sprechen: “Mit Politikern, die den Holocaust als »Vogelschiss der Geschichte« und das Holocaustmahnmal in Berlin als »Schande« bezeichnen, gibt es für uns nichts zu besprechen. Eine Partei mit einem gefährlichen Scharfmacher samt bester Neonazi-Kontakte als Landeschef disqualifiziert sich ohnehin von ganz alleine — und hat alle Fragen damit bereits selbst beantwortet.”
2. Was wäre die Gesellschaft ohne Whistleblower? (deutschlandfunk.de, Stefan Fries & Stefan Koldehoff, Audio: 67:42 Minuten)
Der Deutschlandfunk hat ein längeres Interview mit Edward Snowden geführt. Darin geht es unter anderem um staatliche Überwachung, die Notwendigkeit von Aufklärung und Whistleblowing sowie Snowdens Lebensgeschichte: “Erst, nachdem ich immer tiefer in die Regierung gekommen bin, nachdem ich die Leiter nach und nach hinaufgestiegen bin, erst nachdem ich zur CIA und NSA gegangen bin, nachdem ich mit diesen Systemen lange gearbeitet habe, hatte ich denn die Perspektive, hatte ich die Möglichkeit zur Selbstreflexion, dass ich mich fragen konnte: Was habe ich eigentlich mit dieser Arbeit gemacht? Was macht meine Regierung? Es hat nicht den Zweck, die Menschen zu befreien, sondern zu unterdrücken. Es ging um die Kontrolle. Es ging nicht darum, die Demokratie zu schützen, sondern leider eigentlich, die Demokratie zu gefährden im Endeffekt. Wenn wir uns unsere Werte anschauen: Wir zerstören genau das, was wir gerne schützen möchten.”
3. Der Stoff, der den Journalismus verändert hat (sueddeutsche.de, Ralf Wiegand)
Dem Journalisten und freien Autor des “Spiegel” Juan Moreno ist es zu verdanken, dass die Fälschungen von Claas Relotius aufgedeckt wurden. Nun hat Moreno ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben. Der Fälschungsskandal ist das eine, der Umgang damit das andere: Man möchte nicht in Morenos Haut gesteckt haben, als man ihm beim “Spiegel” durchaus brutal und arrogant zu verstehen gab, dass man ihn jederzeit feuern könne.
4. “Das ist kein Spaß mehr”: Klenk stellt Entschädigungsantrag gegen Jeannée und “Krone” (derstandard.at)
“Falter”-Chefredakteur Florian Klenk wehrt sich nun auch gerichtlich gegen den gedruckten Hass-Post des österreichischen “Krone”-Kolumnisten Michael Jeannée. Siehe dazu auch Klenks Tweet: “Ich bringe Klage gegen Jeanne und die Krone ein. Ich beantrage eine strafrechtliche Verurteilung von Jeannee wegen übler Nachrede und den höchsten Entschädigungsbetrag, den das MedienG hergibt. Je 50.000 € von Krone Verlag und Krone Multimedia. Ja, wird bei Obsiegen gespendet.”
5. Presserat rügt Sensationsberichte über Schwertmord (stuttgarter-nachrichten.de)
Der Deutsche Presserat hat Berichte der “Bild”-Medien über den sogenannten Stuttgarter Schwertmord als übertrieben sensationell und respektlos gerügt. Vor allem die Täterperspektive wird kritisiert: “So habe die Redaktion auf der Titelseite ein Foto des mutmaßlichen Mörders mit erhobenen blutigen Armen gezeigt und sei damit Gefahr gelaufen, sich zum Werkzeug des Verbrechers zu machen. Auch die identifizierende Darstellung des Opfers sei nicht vom Informationsinteresse der Öffentlichkeit gedeckt. Zu sehen war ein Porträtfoto des Mannes vor der Tat, daneben ein verpixeltes Bild des Sterbenden in einer Blutlache.”
6. “Angry German Kid”: Wie ein Internetvideo das Leben eines Teenagers zerstörte (rnd.de, Matthias Schwarzer)
Matthias Schwarzer erzählt die tragische Geschichte eines Jugendlichen nach, der auf Youtube als “Angry German Kid” bekannt wurde. Sie beginnt 2006, als der damals 13-Jährige ein gespieltes Brüllvideo von sich aufnimmt und auf die Plattform hochlädt, das bei “Focus TV” landet — der Startpunkt einer für den Youtuber äußerst unheilvollen Entwicklung.
1. Aufruhr im Freibad: Vom Jugendstreich zum Terrorakt (ardmediathek.de, Video: 8:38 Minuten)
Man könnte in der Tat verzweifeln, wie es Georg Restle am Ende des “Monitor”-Beitrags ausdrückt: Da wird ein Düsseldorfer Freibad zum Tatort von Terror und Gewalt hochgejazzt, in dem angeblich 60 aggressive Migranten nordafrikanischer Herkunft Angst und Schrecken verbreiten. Nur allzu begierig stürzen sich Medien und Politik auf den Fall und instrumentalisieren ihn für ihre Zwecke. Ein Fall, bei dem nach näherem Betrachten wenig bis gar nichts übrig bleibt.
2. “Wir kommen uns im digitalen Dorf unerträglich nahe” (tagesspiegel.de, Joachim Huber)
Der “Tagesspiegel” hat sich mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen über Filterblasen und Echokammern unterhalten. Und über Michael Seemanns Idee “der positiven und negativen Filtersouveränität”: “Man kann sich aktiv in seine Wirklichkeitsblase hineingoogeln, kann für jede Idee einen Beleg, für jeden Irrwitz einen sogenannten Experten finden. Das meint positive Filtersouveränität. Und das Netz kommt der Bestätigungssehnsucht sehr weit entgegen, stellt von der Logik des Empfängers auf die des Empfängers um, der sich — einerseits — seine Wunschwirklichkeit zusammensucht. Andererseits kann man jedoch der Weltsicht der anderen nicht entkommen, kann sich eben gerade nicht effektiv abschotten, isolieren. Negative Filtersouveränität ist in der vernetzten Welt nicht zu haben.”
3. Ein Aufreger jagt den nächsten (sueddeutsche.de, Jagoda Marinic)
In ihrer Kolumne regt sich Jagoda Marinic über das Aufregen auf: “Die mediale Aufmerksamkeit darf sich nicht auf die Erregungsschleifen über twittertaugliche Thesen richten, sondern muss sich dem Kampf um Ideen widmen, die großen Fragen unserer Zeit angehen. Wer den Profilneurotikern heftig widerspricht, tut einerseits gut daran, doch letztlich wälzt er sich mit ihnen im Schlamm.”
4. Presserat: Blick verletzte Journalistenkodex mit voller Namensnennung im Mordfall von Rupperswil (steigerlegal.ch, Martin Steiger)
Nun hat es auch der Schweizer Presserat bestätigt: Die Zeitung “Blick” verletzte den schweizerischen Journalistenkodex, indem die Redaktion den Vierfachmörder von Rupperswil offline und online beim vollen Namen nannte. Der Jurist Martin Steiger kommentiert die Entscheidung und kritisiert den Presserat, der in seiner Stellungnahme den Täter mit vollem Vornamen und mit dem ersten Buchstaben des Nachnamens genannt habe: “Der Presserat legitimiert damit eine weit verbreitete, aber vollkommen unnötige Unsitte im Journalismus. Für die Justizberichterstattung ist grundsätzlich gar keine Namensnennung erforderlich. Die Justizberichterstattung kann ihre Funktion genauso erfüllen, wenn ein geeignetes Pseudonym genannt wird. Es gibt grundsätzlich kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Namensnennung.”
5. Asymmetrische Berichterstattung (taz.de, Serge Halimi & Pierre Rimbert)
In diesem übersetzten Artikel aus “Le Monde diplomatique” geht es um zweierlei Maß in der politischen Berichterstattung. Konkreter Anlass ist der Abschuss einer US-Drohne durch den Iran. Die Autoren kehren den Vorgang um und fragen: “Man stelle sich vor, eine iranische Drohne würde über Florida abgeschossen oder ein paar Kilometer vor der US-Küste. Niemand würde über den exakten Abschussort diskutieren, vielmehr würden sich alle fragen, was diese Drohne dort zu suchen hatte — 11.000 Kilometer entfernt von Teheran.”
6. Google zeigt Podcasts in Suchergebnissen an (heise.de)
Podcasts erfahren bei Google eine deutliche Aufwertung. Zunächst nur in den USA will die Suchmaschine mehr als zwei Millionen Podcasts auffindbar machen. Dazu werden die Podcasts analysiert, transkribiert und in die Suchergebnisse eingepflegt.
1. Presserat rügt “Krone” wegen erfundenen Interviews mit Witwe (derstandard.at)
Sie muss zentimeterdick sein, die seelische Hornhaut bei der österreichischen “Kronen Zeitung”. Dort hat man in Zusammenhang mit dem Todesfall eines Kärntner Gastronomen nicht nur ein unverpixeltes Familienfoto samt minderjähriger Tochter veröffentlicht. Nein, man hat auch noch ein erfundenes Interview mit der Witwe zusammenfantasiert. Nachdem es eine Rüge vom Presserat gab, versicherte der “Kronen”-Chef, man werde in Zukunft “noch behutsamer und vorsichtiger vorgehen”. “Noch” …
2. Pierre M. Krause: “Auch ein Auslacher ist ein Lacher” (dwdl.de, Kevin Hennings)
“DWDL” hat sich mit dem TV-Moderator Pierre M. Krause über dessen Late-Night-Format (“Pierre M. Krause Show”), einen potenziellen Senderwechsel und die Notwendigkeit einer täglichen Late-Night unterhalten.
Tipp: Wem Krauses sehenswerte SWR3-Latenight bislang entgangen ist: In der ARD-Mediathek gibt es einige der vergangenen Sendungen.
3. 7500 Zeichen am Tag (sueddeutsche.de, Hans Leyendecker)
Ende vergangener Woche ist der Journalist Michael Jürgs nach einer schweren Krebserkrankung im Alter von 74 Jahren verstorben. Jürgs war ein journalistischer Frühstarter und schon mit 23 Feuilleton-Chef bei der Münchner “Abendzeitung”. Stationen bei “Tempo” und “Stern” folgten. Daneben schrieb Jürgs einige Sachbücher und Biografien (unter anderem den Bestseller “Der Fall Romy Schneider”) und moderierte die NDR-Talkshow. Hans Leyendecker erinnert an einen bemerkenswerten Journalisten und Publizisten.
Weiterer Tipp: Jürgs gab “Zapp” 2013 ein Interview über die “Zukunft des Journalismus”. Hintergrund war der Verkauf verschiedener Springer-Regionalzeitungen an die Funke Mediengruppe.
4. “Der Satiriker darf erst mal alles” (spiegel.de, Elisa von Hof)
Dominik Bauer ist Teil des Karikaturisten-Duos “Hauck und Bauer” und dort für den nicht-zeichnerischen Part zuständig. Im Gespräch mit “Spiegel Online” geht es um den Karikaturen-Ausstieg der “New York Times”, die Bedeutung der Sozialen Medien, Shitstorms und Beifall von der falschen Seite.
5. Hinterzimmer-Politik (uebermedien.de, Andreas Püttmann)
“Übermedien” fragt regelmäßig nach dem persönlichen “Hasswort”. Für den Politikwissenschaftler und freien Publizisten Andreas Püttmann ist es der Begriff von der “Hinterzimmer-Politik”.
6. Wir sind das Medienmagazin “journalist” und haben auf unserem Juli-Cover das Wort “Journalismus” falsch geschrieben. Argh. (twitter.com/journ_online)
Kein Medium ist vor Rechtschreibfehlern oder unglücklichen Formulierungen gefeit. Das Medienmagazin “journalist” atmet den Schmerz über einen Lapsus weg, indem es auf Twitter die Kolleginnen und Kollegen nach ähnlichen Schnitzern fragt. Die Ergebnisse sind teilweise ganz lustig und zugleich beruhigend. Schließlich machen wir alle mal einen Veler.
Nach einem schweren Busunfall auf Madeira im April dieses Jahres, bei dem 29 Menschen starben, zeigte Bild.de viele Fotos, auf denen die Opfer des Unglücks zu sehen waren. Über diese Veröffentlichung beschwerten sich mehrere Personen beim Deutschen Presserat.
Zum Prozedere gehört es dann, dass auch die Redaktion, gegen die sich eine Beschwerde richtet, Stellung nehmen kann. Das hat in diesem Fall Julian Reichelt übernommen. Und der “Bild”-Chef entgegnete den Vorwürfen mit einer sehr eigenen Version der Vorgänge. Im Bericht des Presserats steht:
Der Vorsitzende der Chefredaktionen trägt vor, die Beschwerde sei erkennbar unbegründet, weshalb er sich kurzfassen wolle: An dem tragischen Busunglück in Madeira, von dem auch viele deutsche Urlauber betroffen waren, habe ein besonders großes öffentliches Informationsinteresse bestanden. Diesem Interesse habe man entsprochen, nicht mehr und nicht weniger — wie alle anderen Medien auch. Und unter Einhaltung sämtlicher presseethischer Grundsätze über ein Aufsehen erregendes zeitgeschichtliches Ereignis berichtet. Anders als die Beschwerdeführer behaupten, habe man insbesondere keine Fotos der getöteten oder lebensgefährlich verletzten Opfer gezeigt. Man habe aber — natürlich, weil man als Presse dazu verpflichtet sei — die Fotos der Unfallstelle gezeigt, an der eine Vielzahl von Helfern darum bemüht war, den Opfern zu helfen. Teilweise — mit “viel gutem Willem” — identifizierbar seien lediglich einige wenige leicht verletzte Opfer des Busunglücks. Dies jedoch sei im Rahmen des unstreitig gegebenen öffentlichen Interesses i.S.v. Ziffer 8 Pressekodex im Hinblick auf eine vollständige und umfassende Berichterstattung unvermeidbar und verletze weder Recht noch Presseethik.
Kurzum: Ihre Bild- und Textberichterstattung über den tragischen Unglücksfall auf Madeira sei absolut medienubiquitär und in keiner Weise zu beanstanden. Die Beschwerden seien allesamt zurückzuweisen.
Erstmal zur Frage der Identifizierbarkeit der von Bild.de gezeigten Personen. Zu dem Thema schreibt der Medienrechtler Udo Branahl in seinem Lehrbuch:
An die Erkennbarkeit des Betroffenen stellt die Rechtssprechung (…) nicht sehr hohe Anforderungen. Sie verlangt nicht etwa, dass ein erheblicher Teil des Publikums die gemeinte Person erkennen kann, sondern lässt es ausreichen, dass sie von Kollegen, Freunden, Bekannten oder Verwandten erkannt werden kann.
Wenn Reichelts Redaktion Aufnahmen veröffentlicht, die Personen in einer Totalen unverpixelt zeigen, ist also nicht “viel guter Wille” notwendig, um von einer identifizierenden Berichterstattung zu sprechen. Das dürfte auch für das Foto gelten, auf dem ein Verletzter deutlich größer, aber verpixelt zu sehen ist, da dieser für “Kollegen, Freunde, Bekannte oder Verwandte” etwa anhand seiner Kleidung immer noch zu erkennen sein dürfte.
Reichelts Argument, dass man insbesondere keine Fotos der getöteten oder lebensgefährlich verletzten Opfer gezeigt habe, ist schlicht falsch. Entweder weiß er nicht, was seine Redaktion so alles veröffentlicht hat, oder er lügt. Bild.de zeigte noch am Tag des Unfalls ein Foto, auf dem Leichen vor dem verunglückten Bus unvepixelt zu sehen waren:
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag stammen von uns.)
Und als Bild.de die Aufnahme bereits nach und nach verpixelt hatte, druckte die “Bild”-Zeitung ein ähnliches Foto noch einmal komplett ohne Unkenntlichmachung:
Der Presserat sah es dann auch anders als Julian Reichelt und sprach eine Missbilligung aus:
Der Beschwerdeausschuss erkennt in der Berichterstattung unter der Überschrift “Reisebus mit 55 Menschen auf Madeira verunglückt” einen Verstoß gegen den in Ziffer 8 des Pressekodex festgeschriebenen Schutz der Persönlichkeit und die in Ziffer 11 des Pressekodex festgehaltene Sensationsberichterstattung.
Das Gremium sieht in der Veröffentlichung von Fotos, die Opfer des Unglücks unverfremdet und identifizierbar zeigen, einen Verstoß gegen deren Persönlichkeitsschutz gemäß Richtlinie 8.2 des Pressekodex. Der Umstand, dass jemand Opfer eines Busunglücks wird, macht denjenigen grundsätzlich nicht zu einem legitimen Objekt des öffentlichen Interesses. Das Wissen um die Identität der Betroffenen trägt vorliegend in keiner Weise zum besseren Verständnis vom Unfallhergang bei. Bloße Neugier der Leser rechtfertigt hingegen keine identifizierende Berichterstattung. Daher überwiegen die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen. Die Veröffentlichung von unverfremdeten Fotos der Opfer im Moment ihres Leids lässt diese in der Öffentlichkeit erneut zu Opfern werden und verstößt insofern auch gegen Richtlinie 11.3 des Pressekodex.
Nachtrag, 4. Juli: Zu dieser Aussage des pflichtbewussten Julian Reichelt: “Man habe aber — natürlich, weil man als Presse dazu verpflichtet sei — die Fotos der Unfallstelle gezeigt, an der eine Vielzahl von Helfern darum bemüht war, den Opfern zu helfen.” schickte uns ein Leser die Frage, wo und in welcher Form die Presse “dazu verpflichtet sei”, Fotos einer Unfallstelle zu zeigen. Darauf wissen wir leider auch keine Antwort. Von so einer Pflicht haben wir jedenfalls noch nie gehört. Und, das nur nebenbei: Es gab auch Fotos von der Unfallstelle, die etwas später aufgenommen wurden und bei denen die Leichen von den Helfern bereits abgedeckt waren.
1. RWE fordert 50.000 Euro für Aufruf per Tweet (deutschlandfunk.de, Henning Hübert)
Der Energieversorgungskonzern RWE verlangt vom 24-jährigen Pressesprecher des Aktionsbündnisses “Ende Gelände” die stolze Summe von 50.000 Euro. Der Sprecher habe auf Twitter und bei einer Veranstaltung zu “massenhaft zivilem Ungehorsam” aufgerufen. Der WDR-Journalist Jürgen Döschner sieht in der Forderung einen massiven Eingriff in die Meinungsfreiheit: “Man muss das ja nicht nur auf Pressesprecher beschränken. Ich bin öfter in der Gegend und berichte über Aktionen — wenn ich dann dort aufgegriffen werde, vielleicht von RWE auch eine solche Unterlassungserklärung zugeschickt bekomme, und dann äußere ich mich in einem Kommentar, wie ich das 2015 gemacht habe, mit Verständnis für Aktionen wie zum Beispiel eine Tagebaus — schon hätte ich potenziell auch eine Erklärung auf dem Tisch, eine solche Androhung von 50.000 Euro Strafe.”
2. Hanseat von Stil (sueddeutsche.de, Hans Hoff)
Der ehemalige “Tagesschau”-Sprecher Wilhelm Wieben ist gestern im Alter von 84 Jahren gestorben. Hans Hoff erinnert in seinem Nachruf an die Fernsehlegende.
3. Das Telefonat, das nie geführt wurde (wienerzeitung.at, Heinz Fischer)
Als der ehemalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer im Rahmen der Regierungskrise gefragt wurde, ob er bereit wäre, vorübergehend das Amt des Bundeskanzlers zu übernehmen, verneinte er unter Hinweis auf sein Alter. Trotzdem machten einige Medien (unter anderem der “Spiegel”) mit der Behauptung auf, er würde sich um das Amt bemühen und verwiesen auf Telefonate und SMS-Nachrichten, die es laut Fischer jedoch nie gab. Seinen Gastbeitrag mit der Schilderung der Vorgänge will Fischer auch an den Presserat schicken. Ohne sich all zu viel davon zu versprechen: “Er wird voraussichtlich nichts tun, aber sich vielleicht wenigstens wundern, was in Qualitätsmedien alles möglich ist.”
4. Freischreiber-Report 2019: Wer verdient was? (wasjournalistenverdienen.de, Katharina Jakob & Michel Penke)
Der Berufsverband Freischreiber hat bei freien Journalistinnen und Journalisten rumgefragt, wie hoch ihr Honorar bei verschiedenen Medien ist. Herausgekommen sind der Honorarreport 2019 und die Erkenntnis, dass “das gemittelte Zeichenhonorar aller Medien” derzeit “bei 40 Euro pro 1000 Zeichen” liege. Ein Fazit der Freischreiber: “Guter Journalismus sollte überall ähnlich viel wert sein. Ist er aber nicht. Und es ist vielerorts ziemlich düster.”
5. Jetzt ist Schluss! (spiegel.de, Jan Fleischhauer)
“Spiegel”-Kolumnist Jan Fleischhauer verabschiedet sich mit seiner letzten Kolumne bei den “Spiegel”-Lesern. Auf stolze 438 Kolumnen hat er es insgesamt gebracht. “Haben mich alle im SPIEGEL geliebt? Ganz sicher nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Meine Chefs haben alles gedruckt, was ich am Kolumnentag an sie geliefert habe, selbst wenn ich damit quer zur Mehrheit der Redaktion lag. Mehr kann man als Journalist nicht erwarten.” Ab August wird man Fleischhauer beim “Focus” lesen können: “Solange sich Zweidrittel der in Deutschland tätigen Journalisten politisch links der Mitte verorten, bleibt für jemanden wie mich genug zu tun.”
6. 10 Tipps, wie du deine Podcast-Reichweite noch heute verbessern kannst (podigee.com, Mati Sojka)
Als Podcast-Hoster kennt sich Mati Sojka von Podigee naturgemäß gut mit den technischen Aspekten von Podcasts aus. In seinem Beitrag verrät er Podcast-Anbietern zehn bewährte Methoden zur Reichweitensteigerung.
1. Bloggerin soll Holocaust-Opfer erfunden haben (tagesspiegel.de, Julia Prosinger)
Der Erfolg der promovierten Historikerin und Bloggerin (“Read on my dear, read on”) Marie Sophie Hingst beruht anscheinend auf weitgehend erfundenen Geschichten. So habe Hingst ihre jüdische Familiengeschichte erlogen. Auch sei fraglich, ob Hingst im Alter von 19 Jahren tatsächlich ein Slumkrankenhaus gegründet habe. “Zeit Online” rückt mittlerweile von einem Beitrag über eine angebliche Aufklärungs-Sprechstunde mit Geflüchteten ab. Die “FAZ” hat ein mit Hingst veröffentlichtes Interview offline genommen.
Weiterer Lesetipp: Anke Gröner kommentiert in ihrem Blog: “Holocaust-Opfer zu erfinden, ist nicht nur geschmacklos, es ist gefährlich. Es ist Wasser auf den Mühlen der Holocaust-Leugner, es ist Wasser auf den Mühlen derer, die Opfern eine Mitschuld unterstellen, ganz gleich, von was sie Opfer geworden sind, es ist Wasser auf den Mühlen der Geschichtsverfälscher und -umdeuter, die im Nachhinein besser wissen wollen, was passiert ist und wie wir damit umgehen sollten (“Schlusstrich”, “langt jetzt auch”, “DRESDEN!”).”
Und wer sich noch weiter einlesen will: Die Causa Hingst – Fragen und erste Antworten zu einem Skandal der Blogosphäre (archivalia.hypotheses.org, Klaus Graf).
2. Angaben zu Social-Media-Profilen sind jetzt Pflicht (spiegel.de)
Antragsteller für ein US-Visum müssen zukünftig ihre Social-Media-Identitäten offenlegen und sowohl ihre aktuellen als auch ihre früheren Telefonnummern angeben. USA-Urlauber seien davon jedoch derzeit nicht betroffen. Für sie gilt das visumlose ESTA-Programm für Besuche mit befristeter Aufenthaltsdauer.
3. Lügen, Sex und YouTube (gutjahr.biz)
Anlässlich der jüngsten Videoveröffentlichungen mit politischem Rückhall, kommentiert Richard Gutjahr: “Stellen wir uns vor, das Ibiza-Video wäre kein Video gewesen, sondern nur ein Audio-Mitschnitt. Oder ein verschriftetes Wortprotokoll. Ich gehe jede Wette ein, Kurz und Strache wären heute noch im Amt. Oder die “Zerstörung der CDU”. Nehmen wir mal an, Rezo hätte seinen Rant nicht als Video, sondern in Schriftform ins Netz gestellt. Wort für Wort. Mit allen Fußnoten und Quellenhinweisen. Rezo… wer?” Gutjahrs Prognose: “Die Bedeutung von Video wird in den kommenden Jahren nicht nur weiter linear wachsen, sondern geradezu explodieren.”
4. Nutzer können laut Facebook keine Privatsphäre erwarten (golem.de, Friedhelm Greis)
In einem Prozess um den Cambridge-Analytica-Skandal verteidigt sich Facebook mit einer bemerkenswerten Argumentation: Das Unternehmen habe nicht gegen Datenschutzvorgaben verstoßen, da es bei Sozialen Medien “keine vernünftige Erwartung auf Datenschutz” gebe und weiter: “Es gibt keine Verletzung der Privatsphäre, da es überhaupt keine Privatsphäre gibt”.
5. Rezo-Fallout: “Wir brauchen Regeln gegen Desinformation” (heise.de, Markus Kompa)
Markus Kompa kommentiert ein Interview, das Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, der “FAZ” zur Netzregulierung gegeben hat (Wir brauchen Regeln gegen Desinformation). “Landesmediendirektor Schmid behauptet im Interview allen Ernstes, die Einhaltung journalistischer Standards überwache bei der Presse der Presserat. Bei solch weltfremder Naivität möchte man in die Tischkante beißen. Der Presserat ist nichts weiter als eine Propaganda-Veranstaltung der Verlagsbranche, mit der man in den 1950er Jahren den Erlass eines lästigen Ehrenschutzgesetzes verhindern wollte. Das geplante Gesetz wurde aber überflüssig, weil die Rechtsprechung praktisch die gleichen Ergebnisse durch Entwicklung des aus der Verfassung hergeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts erzielt.”
6. Diese Instagram-Accounts gingen im Mai durch die Decke (horizont.net, Giuseppe Rondinella)
“Horizont” hat die Wachstumsraten aller deutschsprachigen Instagram-Kanäle ab 100.000 Follower für den Monat Mai analysieren lassen. Die Top 10 werden von den Teilnehmerinnen von “Germany’s Next Topmodel” dominiert. Mit dabei sind aber auch ein Fußballer und ein PARTEI-Politiker.
Vor zwei Monaten verkündete die “Bild”-Zeitung eine “Weltsensation”, die jedoch gar keine war — und die sich zu einem wissenschaftlichen und journalistischen Skandal entwickelte, zu dem inzwischen sogar die Staatsanwaltschaft ermittelt. Beteiligte, unter anderem: die Uniklinik Heidelberg und ein chinesisches Pharmaunternehmen. Auch Ex-“Bild”-Chef Kai Diekmann spielt bei der Geschichte eine Rolle.
Eine Chronik.
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21. Februar 2019: Exklusiv bejubelt die “Bild”-Zeitung auf der Titelseite eine “Weltsensation aus Deutschland”:
Es sei “ein echter Durchbruch”, heißt es da, eine “medizinische Sensation”:
Seit vielen Jahren wird daran geforscht, Krebs im Blut zu erkennen. Ärzte der Universitätsklinik Heidelberg erreichten jetzt revolutionäre Ergebnisse: Sie weisen mit einem Test Brustkrebs im Blut nach. Und zwar mit einer Treffsicherheit, die vergleichbar ist mit der einer Mammografie! Wie BILD exklusiv erfuhr, soll der Bluttest noch in diesem Jahr auf den Markt kommen.
Im Innenteil: ein großes Interview mit Christof Sohn, dem Geschäftsführenden Ärztlichen Direktor der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg.
Darin darf er den Bluttest ausführlich bewerben: viel sicherer als bisherige Tests, hohe Treffsicherheit, besonders gut für Risikopatientiennen, und so weiter und so fort.
Am selben Tag gibt die Uniklinik eine Pressemitteilung heraus, in der sie die “neue, revolutionäre Möglichkeit” des Bluttests noch einmal selbst feiert: “Dies ist ein Meilenstein in der Brustkrebsdiagnostik”, schreibt sie.
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21. bis 27. Februar 2019: Andere Medien greifen die Geschichte auf. Dabei melden einige schon Zweifel an, etwa “Spiegel Online” oder die “Zeit”. Viele aber, etwa “Focus Online” oder “DerWesten”, verlassen sich blind auf “Bild” und bezeichnen den Bluttest ihrerseits als “Sensation”, “Durchbruch” oder “Revolution”.
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27. Februar 2019: Sieben renommierte Verbände, von der Deutschen Krebsgesellschaft über die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe bis zur Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, geben eine gemeinsame Stellungnahme heraus, in der sie die Berichterstattung kritisieren:
Eine Berichterstattung, die ohne Evidenzgrundlage Hoffnungen bei Betroffenen weckt, ist aus unserer Sicht kritisch zu bewerten und entspricht nicht den von uns vertretenen Grundsätzen medizin-ethischer Verantwortung.
Es sei einfach noch zu früh für Jubelstimmung, so die Experten: Die Studie sei “noch nicht abgeschlossen, die Ergebnisse sind nicht in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift publiziert und der Test noch nicht zugelassen”. Daher “halten wir Schlussfolgerungen über die Validität und den klinischen Nutzen für verfrüht und raten ausdrücklich davon ab, diagnostische oder therapeutische Entscheidungen basierend auf Blutuntersuchungen zu treffen, die nicht von nationalen oder internationalen Leitlinien empfohlen werden.”
In den nächsten Tagen häuft sich die Kritik an der “Bild”-Berichterstattung, aber auch am Vorgehen der Heidelberger Forscher. So schreibt etwa Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung:
Nach üblichen wissenschaftlichen Standards veröffentlichen Forscher zuerst eine Studie in einer Fachzeitschrift, die dort begutachtet wird, und gehen erst dann an die Presse. Beim Bluttest wurde dieser Standard nicht eingehalten. Die Heidelberger Forscher sind zuerst medienwirksam zur BILD-Zeitung gegangen. Eine wissenschaftliche Veröffentlichung liegt nicht vor.
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8. März 2019: Der Journalist Jan-Martin Wiarda berichtet in seinem Blog und bei den “Riffreportern” ausführlich über den Fall und deckt weitere Merkwürdigkeiten auf. “Welche Rolle spielt das Joint Venture mit einem chinesischen Pharma-Unternehmen?”, fragt er unter anderem, denn: Partner der Uniklinik sei ein chinesisches Pharmaunternehmen, dessen Aktienkurs seit einigen Tagen, insbesondere seit der gehypten Berichterstattung über den Bluttest, einen steilen Anstieg zeige.
Erstmals äußert sich auch Christof Sohn, der Geschäftsführende Ärztliche Direktor der Universitäts-Frauenklinik, der von “Bild” groß interviewt wurde, zur Formulierung “Weltsensation”: Diese Schlagzeile sei nicht angebracht gewesen, er habe sie vor Veröffentlichung auch nicht gekannt, und er und seine Kollegen hätten sie “in dieser Form” nicht mitgetragen.
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20. März 2019: Die “Rhein-Neckar-Zeitung” (“RNZ”) steigt in die Berichterstattung ein und leistet in den darauffolgenden Wochen ausgezeichnete journalistische Arbeit; ihre zahlreichen Artikel sind unter rnz.de/heiscreen nachzulesen.
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22. März 2019: Der Aktienkurs des chinesischen Pharmaunternehmens erreicht den höchsten Stand seit acht Monaten. Seit dem 21. Februar, dem Erscheinungstag des “Bild”-Artikels und der Pressemitteilung der Uniklinik, ist der Kurs um fast 60 Prozent gestiegen:
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23. bis 29. März 2019: Die Kritik reißt nicht ab. Das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg erklärt in der “RNZ”, dass die “verfrühte Kommunikation nicht den hohen Ansprüchen an eine verantwortungsvolle Wissenschaftskommunikation entspreche”. Gerade im medizinischen Bereich, “der für die Betroffenen mit so viel Ängsten und großer Hoffnung verbunden ist, darf es keine Effekthascherei geben”. Auch die Heidelberger Universität teilt mit, dass sie “eine umfassende Klärung der Vorgänge für zwingend erforderlich” halte.
Die Uniklinik ist derweil um Schadensbegrenzung bemüht. Sie “bedauert, dass es zu Irritationen gekommen ist” und verkündet die Gründung einer internen Arbeitsgruppe und einer externen Expertenkommission, die die Vorgänge aufarbeiten sollen.
Außerdem distanziert sie sich von der PR-Strategie zum Bluttest: Die Medienbegleitung habe die Heiscreen GmbH verantwortet, sagt die Kliniksprecherin der dpa. (Die Heiscreen GmbH wurde 2017 gegründet und soll den Bluttest in Deutschland vermarkten. Hauptanteilseigner ist eine Tochterfirma der Uniklinik, weitere Anteile hält über eine Beteiligungsgesellschaft der schillernde Unternehmer Jürgen Harder. Auch der von “Bild” interviewte Christof Sohn und eine weitere Ärztin der Uniklinik sind an der Heiscreen GmbH beteiligt.)
Wie die angebliche Weltsensation am Ende genau in der “Bild”-Zeitung landete, ist zwar nur schwer nachzuvollziehen. Fest steht aber: Ohne Zustimmung vonseiten des Universitätsklinikums ist dies nicht geschehen. Auch ein weiterer Bekannter Harders war daran offenbar beteiligt: Ex-“Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, der sich dazu nicht äußern will. Aber was wäre der Mann für ein Journalist, wenn er sich nicht dafür einsetzen würde, dass ein Thema, das ihm am Herzen liegt, in seine alte Zeitung kommt?
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4. April 2019: Die Uniklinik erstattet Anzeige gegen Unbekannt — warum genau, wird allerdings nicht klar. In einer Pressemitteilung teilt sie lediglich mit, dass sie sich “aufgrund der Anzeichen eines unlauteren Vorgehens bei der Entwicklung und Ankündigung” des Bluttests zu diesem Schritt veranlasst sehe. Der Sprecher der Heidelberger Staatsanwaltschaft erklärt in der “RNZ”, in der eingegangenen Anzeige stünden “weder der vermutete Tatbestand, noch weitere Hintergründe zum Sachverhalt, noch Personen, gegen die sich die Strafanzeige richtet.” Das sei sehr ungewöhnlich. Sollte sich jedoch ein Anfangsverdacht ergeben, werde die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnehmen.
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6. April 2019: Die “RNZ” berichtet, dass Vorstand und Pressestelle des Klinikums “sehr frühzeitig in die unseriöse PR-Kampagne eingeweiht” waren. So sei das “Bild”-Interview …
sowohl von der Pressestelle der Uniklinik als auch von zwei Vorständen gegengelesen worden. Achtete die Ärztliche Direktorin Annette Grüters-Kieslich auf inhaltliche Korrekturen, so freute sich der Dekan der Medizinischen Fakultät, Andreas Draguhn, über die wissenschaftliche Korrektheit: “Präziser, als ich es ‘Bild’ zugetraut hätte”.
Auch die Pressemitteilung der Klinik sei “in großer Runde abgesprochen” worden. Der Entwurf sei unter anderem an Kai Diekmann geschickt worden.
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11. April 2019: Die “RNZ” geht genauer auf die Rolle Diekmanns ein:
Kai Diekmann war von 2001 bis 2015 Chefredakteur der “Bild”-Zeitung. 2018 startete er mit dem Investmentbanker Lenny Fischer den “Zukunftsfonds”. Die Markenstrategie für diesen Kapitalanlagefonds entwickelte die Digitalagentur “diesdas.digital” — die auch für die Heiscreen GmbH den Internetauftritt machte. Diekmann war “bei mehreren Treffen” in Sachen Brustkrebstest dabei, wie er der RNZ sagte, “aus Interesse”. Finanziell beteiligt sei er aber nicht. Jürgen Harder bezeichnet er gegenüber der RNZ als “persönlichen Freund”.
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11. April 2019: Die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen auf. Genauer: die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität in Mannheim. Die Anweisung dazu habe die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe erteilt, schreibt die “RNZ”:
Hintergrund der Ermittlungen soll unter anderem der Verdacht auf Kursmanipulation und Insiderhandel mit Aktien sein. Die “Bild”-Schlagzeile “Weltsensation aus Heidelberg” könnte in diesem Szenario eine gewichtige Rolle spielen, weil sie womöglich den Kurs einer Aktie in China beflügelt hat. Zwar gibt man sich bei der Justiz bedeckt und verweist lediglich auf erste Erkenntnisse durch die Berichterstattung der RNZ — ermittelt wird schließlich “in allen rechtlichen Belangen”. Dennoch kam schnell der Verdacht auf, dass hinter dem “Bluttest-Skandal” im Grunde ein Verstoß gegen das Wertpapierhandelsgesetz stecken könnte.
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14. April 2019: In der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” (“FAS”) kritisiert die Leitende Ärztliche Direktorin des Klinikums, Annette Grüters-Kieslich, die Wortwahl der “Bild”-Zeitung:
“Die Schlagzeile einer Boulevardzeitung, die von einer Weltsensation in diesem Zusammenhang sprach, hat mich betroffen gemacht. Als Ärztin und Wissenschaftlerin hätte ich niemals von einer Weltsensation gesprochen; ich habe eine solche Wertung stets als vollkommen irreführend angesehen.” Man sei damit befasst, die Verantwortlichkeiten zu klären und werde die Öffentlichkeit so schnell wie möglich informieren.
Zudem deckt die “FAS” neue Details auf. So sei für die PR-Kampagne unter anderem Christina Afting zuständig gewesen — die frühere Büroleiterin von Kai Diekmann bei “Bild”. Mit der “Bild”-Berichterstattung, so Afting, habe sie jedoch nichts zu tun gehabt. Laut “FAS” soll die PR-Kampagne etwa 80.000 Euro gekostet haben.
Neben den Staatsanwälten aus Mannheim würden sich demnächst auch Spezialermittler des Landeskriminalamtes mit dem Fall befassen, schreibt die “FAS”.
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Heute: Noch sind eine Menge Fragen offen. Fest steht aber: Viele Details wären ohne die hartnäckige Arbeit einiger Journalisten, vor allem von “Riffreporter” Jan-Martin Wiarda und den Journalisten der “Rhein-Neckar-Zeitung”, wohl nie an die Öffentlichkeit gelangt. Und: Obwohl die Berichterstattung der “Bild”-Zeitung, insbesondere die Bezeichnung als “Weltsensation”, von Experten als verantwortungslos und selbst von der Klinikleitung als “vollkommen irreführend” gewertet wird, steht sie auch heute noch unverändertonline.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
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Nachtrag, 26. April: Wir haben die Überschrift und den ersten Absatz geändert, weil der Eindruck entstehen konnte, dass die Staatsanwaltschaft in der Sache gegen Kai Diekmann ermittelt. Dem ist nicht so.
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Nachtrag 2, 26. April: Inzwischen liegt der “RNZ” die Rechnung für die PR-Kampagne vor, die die Düsseldorfer Beratungsagentur Deekeling Arndt Advisors an die Heiscreen GmbH geschickt hat:
79.420,78 Euro rechnen die Berater ab. Sie übernahmen das gesamte Projektmanagement rund um die PR-Kampagne: das Kommunikationskonzept, die Pressemitteilung, die Pressekonferenz am 21. Februar auf einem Kongress in Düsseldorf sowie die Beantwortung und Koordination von Medienanfragen.
Besonders intensiv abgestimmt wurde die Kampagne offenbar in den zehn Tagen vor dem großen Aufschlag am 21. Februar. “Tägliche Telefonkonferenzen zwischen dem 12. und 22. Februar 2019”, listet die Agentur auf. In Rechnung gestellt werden “enge telefonische Abstimmungen und Rücksprachen” unter anderen mit dem früheren “Bild”-Chef Kai Diekmann, Heiscreen-Geschäftsführer Dirk Hessel, den Bluttest-Erfindern Sarah Schott und Christof Sohn, Harders Anwalt Thomas Dörmer sowie Doris Rübsam-Brodkorb, der Pressesprecherin des Universitätsklinikums.
Bemerkenswert ist die enge Abstimmung mit Kai Diekmann, dem Ex-Chefredakteur der “Bild”-Zeitung und persönlichen Freund von Jürgen Harder. Dazu passt: Die Rechnung hat Christina Afting geschickt. Sie ist “Managing Director” bei der Agentur — und leitete früher das Büro Diekmann bei der “Bild”.
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23.Mai: Das Blog “Medwatch” berichtet, dass der Test “anders als bislang kommuniziert nicht nur nicht marktreif ist — sondern eigentlich wertlos.” Das gehe aus Unterlagen hervor, die “Medwatch” von der Pressestelle der Uniklinik erhielt.
Demnach erhält fast jede zweite gesunde Frau einen falsch positiven Befund — was bislang öffentlich nicht thematisiert wurde. Bei Frauen, die älter als 50 Jahre sind, ist der Wert etwas besser: Bei diesen erhält gut jede vierte gesunde Frau einen falschen Krebsbefund, doch übersieht der Test bei zwei von fünf Brustkrebspatientinnen über 50 den Tumor.
Als besonders vielversprechend bezeichnete die Uniklinik den Test für Frauen bis 50, sowie für Hochrisikopatientinnen mit genetischen Mutationen. Dabei schlägt der Test bei der jüngeren Gruppe von Brustkrebspatientinnen zwar in 86 Prozent aller Fälle korrekt an, doch liegt hier die Spezifität bei nur 45 Prozent: Der Test liefert also bei 55 Prozent der gesunden Frauen einen falsch positiven Befund. Bei Hochrisikopatientinnen liegt die Sensitivität bei 90 Prozent, doch wiederum erhält mehr als jede zweite gesunde Frau einen falschen Krebsbefund. Dies hieße, dass ein Großteil aller Frauen, die über den Bluttest einen Krebs-Befund erhalten, in Wahrheit gesund sind.
“Medwatch” kritisiert auch die Berichterstattung verschiedener Medien, etwa die des “Focus”, der auch noch einen Monat nach Lautwerden der Zweifel titelte: “Die Sensation aus Heidelberg: Mit Bluttest Brustkrebs erkennen”.
Die “Bild”-Zeitung habe ihre Leser “bislang noch nicht über die weiteren Entwicklungen” informiert, schreibt “Medwatch”. Auf “mehrere Fragen zur Berichterstattung über den Bluttest” habe der Axel-Springer-Verlag geantwortet: “Bitte haben Sie Verständnis, dass wir redaktionelle Prozesse und Entscheidungen grundsätzlich nicht kommentieren.”
Nach intensiver Überprüfung und Anhörung aller beteiligten Parteien hat der Deutsche Rat für Public Relations dem Vorstand des Universitätsklinikums Heidelberg und der HeiScreen GmbH eine Rüge wegen bewusster Falschbehauptung und Täuschung der Öffentlichkeit ausgesprochen. (…)
Der Rat hatte sich zur Prüfung des Falles entschieden und sieht es als erwiesen an, dass beide Parteien bei der Vorstellung des „neuen“ Verfahrens zur Diagnose von Brustkrebs eine öffentliche Produktvorstellung zugelassen und begleitet haben, die weder in Wortwahl, Zeitpunkt und Format angemessen, noch im Hinblick auf abgeschlossene Studien und die angekündigte Marktreife der Wahrheit entsprochen hat.
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29. August: Nach mehrfacher Beschwerde beim “Ombudsmann” hat “Bild” nun eine Anmerkung unter den Artikeln veröffentlicht (Links im Original):
Aktualisierung – August 2019
Die Uniklinik Heidelberg hat mittlerweile zurückgenommen, dass der oben beschriebene Bluttest zur Erkennung von Brustkrebs noch dieses Jahr auf den Markt kommen wird.
Eine unabhängige Prüfkommission hat als Zwischenergebnis unter anderem veröffentlicht, dass der Test zu früh der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, es „Führungsversagen“ und „Machtmissbrauch“ an der Universitätsklinik gab.
Inzwischen sind der Medizin-Dekan der Heidelberger Uniklinik sowie zwei Mitglieder des Vorstandes zurückgetreten. Außerdem wurde dem Direktor der Unifrauenklinik für drei Monate die Lehr- und Forschungserlaubnis entzogen.
BILD veröffentlichte am 21. Februar 2019 einen Artikel über den neuen Bluttest. Der Text basierte auf einer offiziellen Pressemitteilung des Universitätsklinikums Heidelberg, in der der neue Test als „revolutionäre Möglichkeit“ und als „Meilenstein in der Brustkrebsdiagnostik“ bezeichnet wurde, sowie auf einem autorisierten Interview. Der Test wurde am 21.2. außerdem auf dem Gynäkologen-Kongress in Düsseldorf vorgestellt.
Wie geht es mit dem Test nun weiter? Das ist im Moment unklar. Abzuwarten bleibt, was die angekündigten größeren Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit des Tests ergeben. Dass diese noch ausstehen, hatte Bild direkt zu Anfang geschrieben (siehe hier). Die Ergebnisse lassen aber weiterhin auf sich warten.
BILD informiert, sobald es neue, fundierte Angaben zum Test gibt.
Sonst hat sich aber nichts geändert. Überschrift, weiterhin: “Warum dieser Test eine Weltsensation ist”.
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13. September: Nun wurde die Berichterstattung auch vom Deutschen Presserat gerügt:
Eine Rüge erhielt BILD.DE für die Veröffentlichung einer Exklusiv-Geschichte unter der Überschrift „Erster Blut-Test erkennt zuverlässig Brustkrebs“ über einen von Heidelberger Forschern entwickelten Brustkrebs-Test. Der Beschwerdeausschuss stellte Verstöße gegen die gebotene Sorgfalt in der Medizin-Berichterstattung (Ziffern 2 und 14 des Pressekodex) fest. Der Artikel über das als „medizinische Sensation“ beschriebene Testverfahren beruhte allein auf einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums und Aussagen der beteiligten Forscher und war geeignet, unberechtigte Hoffnungen bei Betroffenen zu wecken. Wie sich später herausstellte, hatten die Forscher den Stand des Testverfahrens positiver dargestellt, als es dem Forschungsstand entsprach. Die Redaktion hatte bei ihrer exklusiven Berichterstattung versäumt, die gemachten Angaben durch weitere Quellen zu überprüfen.