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Werte, Pfefferspray, Selfies

1. Schwimmen im Common Sense: Medien, wo sind eure Werte?
(derstandard.at, Franziska Weder)
Medienwissenschaftlerin Franziska Weder kritisiert die Medien, die sich mit “Common-Sense-Issues” und Allgemeinplätzen begnügen und neue, andere Sichtweisen und Gegenargumente scheuen würden. Der vom “gesunden Menschenverstand” getriebene Common Sense sei erwartbar und unterdrücke Debatten, was schade sei. Gefordert sei ein “aufklärender, verantwortungsorientierter Informationsjournalismus, ein Aufbrecherjournalismus, der nach Für und Wider sucht, der mit neuen Argumenten und Gegenargumenten anstelle von Allgemeinplätzen spielt, der Themen problematisiert und einen öffentlichen Dialog ermöglicht”.

2. Lästiges Pfefferspray-Bild: US-Universität zahlte 175.000 Dollar für Suchmaschinenoptimierung
(netzpolitik.org, Jonas Klaus)
Manch einer erinnert sich noch an die Bilder von Studentenprotesten an einer amerikanischen Uni, bei der die friedlichen Teilnehmer eines Sitzstreiks aus nächster Nähe mit Pfefferspray attackiert wurden. “Netzpolitik” berichtet nun davon, dass die Uni verschiedene Marketingunternehmen beauftragt hat, die für sie unangenehme Berichterstattung aus dem Netz zu drängen. Rund 175.000 Dollar habe sich die Uni die Bereinigungsaktion kosten lassen. Mit zweifelhaftem Erfolg: Wenn man den Namen der Universität (“uc davis”) bei Google eingibt, erscheint bereits als erster Ergänzungsvorschlag “pepper spray”.

3. Lügenpresse
(lügenpresse.de)
Journalisten bekommen seit geraumer Zeit den Vorwurf der angeblichen “Lügenpresse” zu hören. Nun wehrt man sich mit Video-Statements: “Deshalb wird es Zeit, dass die “Lügenpresse” das Wort ergreift und wir unsere Version erzählen. Hier spricht also die “Lügenpresse”!” Produziert wird die Seite von der DDV Mediengruppe (“Sächsische Zeitung”, “Mopo24” etc.). Verantwortlicher Redakteur ist der Chefredakteur der “Morgenpost Sachsen” und “MOPO24.de” Robert Kuhne.

4. Der Zusammenhang: Die Flüchtlingskrise
(krautreporter.de, Dominik Wurnig)
Weil seit mehr als einem Jahr die Flüchtlingsthematik die Berichterstattung in Deutschland bestimmen würde, hat Krautreporter Dominik Wurnig die 13 wichtigsten Fragen dazu aufgegriffen, erklärt und mit weiterführenden Links versehen. Wer zum Thema mitreden will: Kompakter und dennoch ausführlich kann man sich wohl keinen Überblick verschaffen.

5. Der Appell an die Ethik wird immer weniger gehört.
(planet-interview.de, Henry Steinhau)
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) vertritt als Gewerkschaft 35.000 Mitglieder und ist damit die größte Journalisten-Organisation Europas. Seit 2015 leitet Frank Überall den Verband, in den 12 Jahren zuvor war dies Michael Konken. Im Interview mit “Planet Interview” spricht der ehemalige DJV-Chef Konken über Trennungsgebote, den Umgang mit “Lügenpresse“-Vorwürfen, wirkungslose Rügen, Autorisierung und seine Idee einer Haushaltsabgabe für Printmedien.

6. Das perfekte Selfie – wo liegen die Grenzen?
(netzpiloten.de, Michael Weigold)
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema “Selfie”, samt geschichtlichem Abriss (erstes “Selfie”: 1839), unzähligen Links zum Weiterlesen und kulturpessimistischem Ende: “Letztendlich ziehen Selfies Aufmerksamkeit auf sich, was eine gute Sache zu sein scheint. Aber das tun Autounfälle auch. Die Bestätigung, die durch Likes und positive Kommentare in sozialen Medien entsteht, ist belohnend – besonders für die Einsamen, Isolierten und Unsicheren. Die Tatsachen weisen alles in allem (einschließlich der Tode von Menschen und Tieren!) darauf hin, dass es bei diesem Hype nur wenig zu verherrlichen gibt.”

Partei des Grauens? TV-Auftritt des Grauens? Ranch des Grauens?

1. Und wie jetzt mit der AfD umgehen?
(journalist.de)
Die AfD sitzt mittlerweile in acht Landtagen. Das gestörte Verhältnis der Partei zur Presse ist bekannt. Wie soll man jetzt von jornalistischer Seite mit der AfD umgehen, so die Frage, die das Magazin “journalist” an verschiedene Chefredakteure von Tageszeitungen gerichtet hat. Die antwortenden Journalisten eint das Bestreben, die AfD keineswegs zu ignorieren, sie vielmehr ernst zu nehmen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie jedoch auch nicht zu dämonisieren.

2. Tendenziöse Griechenland-Berichte deutscher Medien
(oxiblog.de)
Zusammenfassung einer Studie, die sich mit der Berichterstattung deutscher Medien zur Griechenlandkrise befasst. Wissenschaftler der Uni Würzburg haben im Auftrag der Hans Böckler Stiftung 1.442 Artikel untersucht, die zwischen Ende Januar und Ende Juni 2015 in den Tageszeitungen “Bild”, “Welt”, “FAZ”, “SZ”, “taz” und auf “Spiegel Online” erschienen sind. Das für die Medien wenig schmeichelhafte Urteil der Wissenschaftler: Der Streit zwischen der griechischen Linksregierung und ihren europäischen Gläubigern sei ziemlich verzerrt dargestellt und die griechische Position einseitig negativ gedeutet worden.

3. „So weit ist es mit der Pressefreiheit gekommen“
(faz.net)
Der Erdogan-nahe türkische Sender “A Haber” hat eine fragwürdige Aktion durchgeführt. Ein Reporter versuchte unangemeldet, unter Berufung auf die Pressefreiheit und mit laufender Kamera, auf das Gelände der ZDF-Zentrale zu gelangen. Dass dem türkischen TV-Team der Zutritt nicht gestattet wurde, hat man aufgeregt und lautstark als Beleg dafür gefeiert, wie schlecht es um die Pressefreiheit in Deutschland bestellt sei. In den Artikel eingebettet ist das Video des bizarren Auftritts.

4. Drei große Klick-Magnete
(medienwoche.ch, Isabelle Schwab)
Isabelle Schwab schreibt über die Konzentrationstendenzen im Schweizer Internet: Die Medienriesen “Tamedia”, “Ringier” und “Swisscom” würden sich bereits die Hälfte des Traffics teilen. Nach und nach würden sich die Schweizer Internet-Giganten weitere Sites einverleiben. “Das Verhalten der Medienhäuser Ringier und Tamedia erinnert an das Mini-Game Agar: Der Spieler ist ein runder Einzeller, der durch das Einverleiben kleinerer Spieler immer grösser und stärker wird. Und auch im Netz gilt das Gesetz der Größe: Wer hat, dem wird gegeben, respektive: kriegt noch mehr Traffic.”

5. Der Kampf hat sich gelohnt
(taz.de, Anne Fromm)
Die Tarifkommission der “Zeit” hat sich mit der Verlagsgeschäftsführung auf höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen für die Online-Redakteure geeinigt. Der Arbeitgeber erkenne grundsätzlich die Tarifverträge des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger an, in wenigen Punkten würde man Anpassungen durchführen. Anne Fromm sieht die Einigung als Signal für die ganze Branche und Hoffnung für Onlineredakteure, die oft weniger als ihre Printkollegen verdienen würden.

6. Alle Wege führen nach Kansas
(zeit.de, Eike Kühl)
Pädophile, Hacker, Steuerhinterzieher: Auf der Vogelman-Ranch im amerikanischen Budesstaat Kansas lebe ein übler Verbrecher-Clan. Jedenfalls ergebe das die Rückverfolgung von IP-Adressen. Was ist da los, fragt Eike Kühl und klärt die Geschichte mit der hübschen Technik-Pointe auf.

Pay-Rebell, Neu-Neon, fliegender Flughafensprecher

1. Spießbürger oder Nervensäge?
(faz.net, Antonia Baum)
Am Montag entscheidet die Bundesregierung, ob Jan Böhmermann – wie von der Türkei gefordert – strafrechtlich verfolgt werden soll. Antonia Baum fragt, ob er wirklich der Aufrührer sei, als der er sich aufspiele: “Ein bezahlter Rebell wird von einer Institution, die ihn bezahlt und als Rebell installiert hat, gemaßregelt, nachdem dieser, mit Ansage, etwas falsch gemacht hat, das man in der Bundesrepublik Deutschland nicht falsch machen soll. Woraufhin die Regierung öffentlich sagt, dass jener Rebell da wirklich etwas falsch gemacht habe, die Staatsanwaltschaft, weil er mutmaßlich etwas falsch gemacht hat, aktiv wird und die Presse von ihrer Pressefreiheit Gebrauch macht, indem sie darüber streitet, ob der Rebell nun tatsächlich etwas falsch gemacht hat.”

2. Mehr Daten, mehr Defizite
(de.ejo-online.eu, Marlis Prinzing)
Die Professorin für Journalistik Marlis Prinzing weist auf Defizite bei der Vermittlung von Datenjournalismus hin und nennt die “Panama Papers” als Beispiel. Die Recherchen rund um die geleakten Daten seien zwar in vielerlei Hinsicht eine Sternstunde des enthüllenden Journalismus. Sie würden aber auch Defizite widerspiegeln, die dringlicher denn je systematisch beseitigt werden müssten. Hier könne eine Studie der “Columbia Journalism School und Knight Foundation” helfen (im Artikel als PDF verlinkt).

3. Ein eher angespanntes Feeling
(sueddeutsche.de, Katharina Riehl)
Das Magazin “Neon” war einst eine der erfolgreichsten deutschen Zeitschriftengründungen und galt lange Zeit als Erfolgsmodell. Seit einiger Zeit steckt es in der Krise. Querelen in der Redaktion ließen die ohnehin schon bröckelnde Auflage in den vergangen Monaten rasant nach unten rauschen. Die umstrittene Chefredakteurin hat das Heft nun überarbeitet und setzt zum Relaunch an. Das neue Heft strahle jedoch nach Ansicht der Autorin mit seiner stärkeren Orientierung an der Medienmacher- und Hipsterblase die Art von Coolness aus, mit der man eigentlich keine Hefte verkaufe.

4. Brutale Heldinnen
(freitag.de, Claudia Reinhard)
Claudia Reinhard hat sich mit der Rolle von Action-Heldinnen in Blockbustern beschäftigt wie die der Katniss Everdeen in “Die Tribute von Panem”. Neben dem kommerziellen Erfolg (3 Milliarden für die Panem-Reihe) werde Action-Heldin Katniss aber vor allem für ihre feministische Vorbildfunktion gefeiert. Das Studio inszeniere und vermarkte sie für die junge Zielgruppe als „starke Heldin“, mit deren Geschick eine Revolution steht und fällt. Die Unterhaltungsindustrie glorifiziere dabei Gewalt unter dem Deckmantel des Feminismus.

5. Zu ehrlich für den Job?
(taz.de)
Der Pressesprecher der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg, Daniel Abbou, ist wegen eines Interviews mit dem “PR Magazin” freigestellt worden. Mit den Worten „Milliarden versenkt“ und „zuviel verbockt“ hätte der BER-Sprecher den Skandal um den Bau des neuen Berliner Flughafens kritisiert. Nun ist er wohl seinen Job los.

6. Erlaubte Schmähkritik? Die verfassungsrechtliche Dimension der causa Jan Böhmermann
(verfassungsblog.de, Alexander Thiele)
Die Causa Böhmermann ist mittlerweile zur handfesten Staatsaffäre geworden. Im “Verfassungsblog” gibt Privatdozent Alexander Thiele seine juristische Einschätzung des Falls wieder, in einer auch für Laien gut lesbaren Weise. Eines Falls, von dem er übrigens annimmt, dass er in Bälde auch in öffentlich-rechtlichen Examensklausuren auftauchen dürfe.

Liebes-Hashtag, Bildverdrehung, Nachrichtendramaturgie

1. „Fuck it, ich lasse mir meine Offenheit nicht kaputtmachen!“: Die Initiatorin des Hashtags #aufdieliebe im Interview
(wired.de, Nikolaus Röttger)
Kathrin Weßling postet auf Facebook ein Bild von sich. Sie hält darauf ein Wodkaglas in der Hand und prostet dem Betrachter zu: “Auf die Liebe, sich zuhören, sich & andere respektieren, ehrlich sein, heulen, schreien, auf über alles reden und trinken, auf küssen und Konfetti, auf das Leben und die Freiheit.” Auf Twitter wird daraus ein viraler Trend. Unzählige Leute stellen das Bild nach, und der Hashtag “#aufdieliebe” holt zwischenzeitlich sogar den Hashtag #StopIslam ein. “Wired” hat mit der Initiatorin über die Entstehung der Aktion und die Beweggründe gesprochen.

2. Ausgegraben: Der Ursprung des Steinbach-Bildes
(ndr.de, Fiete Stegers)
Die CDU-Politikerin Erika Steinbach hat auf Twitter vor einiger Zeit ein Foto einer überraschten Begegnung einer großen Gruppe von indischen Kindern mit einem einzelnen blonden, hellhäutigen Kind gepostet. Mit dem perfiden Zusatz: “Deutschland 2030”. Mittlerweile sind die Urheber des Bilds ausgemacht. “Das Foto entstand in einem sehr schönen Moment voller Liebe und Freude. Er zeigt das Miteinander verschiedener Kulturen und von Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen”, erinnert sich der Vater. “Das auf eine negative Weise zu verwenden, unterstützen wir auf gar keinen Fall.”

3. Prozess gegen Cumhuriyet-Journalisten einstellen
(reporter-ohne-grenzen.de)
Am Karfreitag beginnt der Prozess gegen den Chefredakteur und den Hauptstadtbüroleiter der Tageszeitung Cumhuriyet, denen aufgrund ihrer Berichterstattung lebenslange Haftstrafen wegen Spionage- und Terrorismusvorwürfen drohen. “Reporter ohne Grenzen” bezeichnet das Ganze als Skandal, der Fall sei “symptomatisch dafür, wie die türkische Führung in ihrem Kampf gegen unbequeme Journalisten immer unverhohlener das Recht beugt.” Umfassender Beitrag über die verheerende Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei mit zahlreichen Beispielen und Links zum Weiterlesen.

4. Tote, Rauch und Synthieklänge
(taz.de, Barbara Dribbusch)
“Taz”-Redakteurin Barbara Dribbusch setzt sich mit der Nachrichtendramaturgie im Fernsehen auseinander. Einige Sendungen würden die Bilder zu den Brüsseler Anschlägen mit Soundtracks unterlegen. Das sende die falsche Botschaft an Täter und Opfer. “Was passiert eigentlich, wenn Verletzte oder gar die Angehörigen von Todesopfern im Fernsehen solche Nachrichtensendungen sehen, in denen ihr real erlebtes Leid, das zufällig von einer Handykamera gefilmt wurde, mittels Soundtrack zu Szenen wie in einem Thriller aufgemotzt wird?”

5. Im Panikorchester
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Boris Rosenkranz beschäftigt sich anlässlich der Brüsseler Anschläge mit dem hehren Anspruch von Journalisten, seriös zu informieren und sich damit vom Internet-Geraune abzuheben. Dabei seien es die Journalisten selbst, die Onlinegerüchte und Netzgeplapper ungeprüft verbreiten würden, unter dem Deckmantel der Spekulation – “als wäre das der Zauberspruch, um einfach alles ungeprüft rauszuhauen, solange man es nur als möglichen Unsinn kennzeichnet.”

6. Auslandsjournalismus in der Krise? – „Auf den Medienhype muss man aufpassen“
(journalisten-bloggen.de)
Der Auslandsjournalismus hat es schwer. Weltweite Korrespondentennetze leisten sich nur noch überregionale Medien wie ARD, ZDF, Spiegel, SZ, FAZ, Handelsblatt, dpa oder die taz. Der Artikel lässt einige Auslandskorrespondenten zu Wort kommen. Die Aussichten sind nicht rosig: Überregionalen Printmedien würden weiter Korrespondentenstellen abbauen. Und sowieso würde in diesem Zusammenhang Idealismus eine immer wichtiger werdende Rolle spielen.

Die Anschläge von Brüssel im Breaking-News-Modus

Es ist zum Verzweifeln. Da passieren so unfassbar schlimme Dinge, und dann kommen Journalisten und berichten, als hätten sie aus all den bisherigen Katastrophen nicht das Geringste gelernt.

Aber wir wollen mit einem Positivbeispiel anfangen. Ein paar Medien haben gestern in unseren Augen einen richtig guten Job gemacht. Besonders aufgefallen ist uns “Zeit Online”, wo den ganzen Tag über sorgfältig und unaufgeregt erklärt wurde, „was wir wissen“ …

… und was nicht:

Viele andere Medien haben dagegen wieder den gewohnten Weg eingeschlagen, den mit Krach und ohne Besinnung.

***

Liebe Zuschauer, anlässlich der Terroranschläge in Belgien haben wir den gewohnten Programmablauf verändert und senden jetzt im Breaking-News-Modus.

Und da haben wir schon das erste Problem: Sie versprechen Breaking News, also brauchen sie Breaking News, und wenn es keine Breaking News gibt, na dann … nehmen sie halt irgendwas.



Wenn selbst die Börse nix hergibt, kann man ja immer noch irgendeinen Experten befragen, der dann alle “möglichen Szenarien” durchgeht und die “denkbaren Motive” der “angeblichen Attentäter” skizziert oder Sachen sagt wie …

Das ist natürlich jetzt alles Spekulation, aber es sieht ganz danach aus, dass das so ist.

Oder man kann, wie n-tv, zu einem Reporter schalten, der „nur 300 Kilometer von Brüssel entfernt“ steht, nämlich am Frankfurter Flughafen, um zu berichten, dass auch in Frankfurt „die Angst ein bisschen mitfliegt“.

Mutmaßungen werden zu Cliffhangern und Clickbaits, jede Kleinigkeit zur +++Sensation+++

***

Doch das ist alles nicht so tragisch, wenn die Fakten wenigstens stimmen.

Dieses Video wurde gestern Vormittag von vielen Medien verbreitet. Zunächst von belgischen wie dem Sender VRT.

Kurz darauf (unter anderem) vom ZDF:

… von RTL …

… Phoenix …

… „Focus Online“ …

… der „Huffington Post“ …

… dem „Kurier“ in Österreich …

… “TMZ” in den USA …

… stern.de …

… und der „Tagesschau“:

Als Quelle steht da: „Überwachungskamera“. Stimmt. Nur: Dieses Video aus dieser Überwachungskamera ist fünf Jahre alt und zeigt einen Anschlag in Russland. Irgendwer hat einfach das Datum von gestern eingebaut und das Video neu bei Youtube hochgeladen.

Und es wäre kein Hexenwerk gewesen, das herauszufinden. Es gibt einfache Tools, mit denen man Videos überprüfen oder im Internet nach ähnlichen Bildern suchen kann. Auch mit der umgekehrten Bildersuche von Google lässt sich sehr schnell checken, ob Fotos oder Videos früher schon mal irgendwo hochgeladen wurden.

In diesem Fall hätten die Medien außerdem schon allein wegen des Zeitpunkts misstrauisch werden müssen. So ein Video kann ja eigentlich nur von der Polizei oder vom Sicherheitspersonal des Flughafens kommen, und die hatten so kurz nach dem Anschlag sicherlich Besseres zu tun, als Überwachungsvideos bei Youtube hochzuladen.

Inzwischen haben die meisten Medien das Video kommentarlos gelöscht. Der Sender VRT hat sich immerhin entschuldigt:

Und die „Huffington Post“ hat aus dem ursprünglichen Clickbait …

… einen neuen gebastelt:

***

Besonders panisch wurde es gestern, als diese „erschreckende Meldung“ (n-tv) reinkam:

Der Moderator gab sich geschockt — und große Mühe, dieses Gefühl auch bei den Zuschauern auszulösen:

Ein Atomkraftwerk ist natürlich ein Anschlagspunkt … da stehen einem die Haare zu Berge!

Kaum vorstellbar, dass es zu einem atomaren Zwischenfall kommen könnte, provoziert durch Terroristen!

Allein die Vorstellung ist natürlich ein absolutes Horrorszenario!

Tatsächlich war die Sache weit weniger dramatisch. „Zeit Online“ schrieb kurz nachdem die Meldung herumgereicht worden war:

Entwarnung aus den Atomkraftwerken in Belgien: Der Betreiber Electrabel hat klargestellt, dass keine Evakuierung laufe. Vielmehr seien auf Anforderung der Behörden alle Mitarbeiter, die nicht zwingend für den Betrieb benötigt würden, gebeten worden, nach Hause zu gehen. Der Schritt sei aus Sicherheitsgründen erfolgt.

Der Betreiber selbst twitterte:

Außerdem rieten die Behörden nicht nur den Atomkraftwerken, sondern auch anderen Einrichtungen, ihre Mitarbeiter nach Hause zu schicken, der Universität zum Beispiel, auch der Justizpalast wurde evakuiert. In die Eil-Schlagzeilen schaffte es aber nur das hier:

***

Was bei der post-katastrophalen Breaking-News-Raterei selbstverständlich nicht fehlen darf, sind Mutmaßungen über den oder die Täter.

Der Schweizer „Blick“ präsentierte schon um 13 Uhr, als noch so gut wie gar nichts feststand, einen Kandidaten:

(Der Mann ist der mutmaßliche Komplize des Terroristen, der am Freitag in Brüssel festgenommen wurde.)

Ein paar Stunden später hatten auch deutsche Medien drei Verdächtige ausgemacht:

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei immer noch keine offiziellen Fahndungsfotos veröffentlicht.

… und trotzdem wurde es sofort verbreitet.


Erst zwei Stunden später veröffentlichte die belgische Polizei offizielle Fahndungsfotos, auf denen dieselben Männer zu sehen sind.

***

Und dann gab’s natürlich: Opferfotos.

Die Leute von „Bild“ vertreten ja die Auffassung, dass man Selbstzensur betreibe und ein Feind der Pressefreiheit sei, wenn man Menschen verpixelt oder auf die Nennung grausamer Einzelheiten verzichtet. Weil man die Welt dann nicht so zeige, wie sie ist.

Nachdem ein “Bild”-Reporter einige Fotos von Verletzten getwittert hatte und dafür kritisiert worden war, schrieb er:

Nach der Logik der „Bild“-Menschen ist es in Ordnung, ja sogar notwendig, die Gesichter von Opfern zu zeigen, ihre Verletzungen, das Blut, den HORROR in all seinen grausamen Details. Denn wer verpixelt, der verhindere, dass der Schrecken ein Gesicht bekommt. Wer verpixelt, schade den Opfern.

Darum zeigt „Bild“ — alles.

(Unkenntlichmachung — auch in allen anderen Screenshots — von uns.)

Einige davon wurden auch groß auf der Startseite gezeigt.



Auch in der Print-Ausgabe hat „Bild“ heute welche abgedruckt: Großaufnahmen von schwer verletzten Menschen, panische, blutüberströmte, unverpixelte Gesichter.

Eines der Fotos zeigt eine Frau, die sich kurz nach der Explosion auf einer Bank festklammert, die Schuhe zerfetzt, die Bluse zerrissen, man sieht ihren BH, ihren nackten Bauch, ihr blutiges Gesicht, das direkt in die Kamera guckt.

„Bild“ hat es gestern auf der Startseite präsentiert und heute groß in der Print-Ausgabe (oben links):

Und es diente „Bild“-Online-Chef Julian Reichelt als Hintergrundkulisse für ein Interview:

Und weil wir wissen, dass hier einige “Bild”-Menschen mitlesen, zum Schluss eine Bitte: Stellen Sie sich nur mal kurz vor, die Frau, die da liegt, nach einer Explosion, blutend, hilflos, völlig geschockt, in Unterwäsche, das wäre Ihre Mutter. Und dann würde jemand ein Foto von ihr machen und es mit der ganzen Welt teilen. Stellen Sie sich das nur mal vor.

Mit Dank an Bernhard W.

Siehe auch: “Im Panikorchester” (uebermedien.de)

Clickbait aus Leidenschaft

Und warum?

Weil “Focus Online” völlig scham- und schmerzfrei ist und jeden Schrott postet, und zwar mitunter nicht nur ein- oder zwei-, sondern dreißig Mal. Anders gesagt:

Der Erfolg von FOCUS Online ist Ergebnis einer klaren redaktionellen Strategie, schon bei der Erstellung der Inhalte darauf zu achten, über welche Kanäle wir Sie als User am besten informieren können. Soziale Netzwerke nehmen dabei eine immer wichtigere Rolle ein.

Facebook zum Beispiel.

Durch die 24 Facebook-Kanäle von FOCUS Online erhalten täglich mehr als zwei Millionen Fans aktuelle News und nachhaltigen Service direkt in ihren Newsfeed.

Um mal zu zeigen, wie das im Alltag aussieht, haben wir uns den vergangenen Donnerstag etwas näher angeschaut (den Tag haben wir willkürlich gewählt, man könnte auch jeden anderen nehmen).

***

Um 5 Uhr morgens postete „Focus Online“:

Dort wird gezeigt, wie man sich aus Alufolie und einem Küchensieb eine Antenne für einen Surfstick bastelt.

Was man nicht erfährt (auch nicht, nachdem man geklickt hat): Der Artikel ist mindestens neun Monate alt. “Focus Online” hat ihn schon am 3. Juni 2015 gepostet:

Und am 26. Juni 2015:

Und am 2. Juli 2015:

Und am 10. August 2015, am 20 August 2015, am 23. August 2015, am 29. August 2015, am 26. September 2015, am 4. Oktober 2015, am 28. Dezember 2015 und am 8. Januar 2016.

Und: Nicht nur auf der allgemeinen Facebookseite von „Focus Online“. Sondern auch bei „Focus Online Wissen“:

Und bei „Focus Online Unterhaltung“:

Und bei „Focus Online Politik“:

Und bei “Focus Online Gesundheit“. Und bei „Focus Online Panorama“. Und bei „Focus Online Video“. Und bei „Focus Online Digital“. Und bei „Focus Online Finanzen“.

Und bei anderen Burda-Medien: Bei der „Bunten“, bei „Chip“ bei „Instyle“, bei “Elle” und bei „Meine Familie“.

So dürfte „Focus Online“ allein mit diesem Artikel einige Hunderttausend Klicks eingefahren haben. Womöglich noch viel mehr. Genial einfach!

Unter fast jedem Posting ärgern sich die Leser über die ständige Wiederholung — “Focus Online” ignoriert sie konsequent.

***

Eine halbe Stunde nach dem Bastelvideo postete „Focus Online“ am Donnerstag:

Das Video ist eine Animation. Bei Sekunde 11 verwandelt sich das Flugzeug in einen „Transformer“, der dringend pinkeln muss, haha. Das Video ist drei Monate alt. „Focus Online“ hat es am Donnerstag zum zwölften Mal gepostet.

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Wieder eine halbe Stunde später folgte das hier:

Der Artikel ist über ein Jahr alt. „Focus Online“ hat ihn zum fünften Mal gepostet.

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Wieder eine halbe Stunde später:

Dahinter steckt ein PR-Video von McDonald’s (“So entsteht Burger XY”). Das weiße Zeug auf dem Foto ist tiefgefrorenes Fleisch. Kein Skandal, keine Nachricht, nur Werbung für McDonald’s. Anderthalb Jahre alt. Zum siebten Mal gepostet.

***

Wieder eine halbe Stunde später:

Die Fahrerin baut einen Unfall, weil sie auf ihr Handy guckt — ein gestelltes Video, das zeigen soll, dass Handys am Steuer gefährlich sind. Sieben Monate alt. Zum dritten Mal gepostet.

***

Dann:

Ein Jahr alt, zum fünften Mal gepostet. (Die Löwin haut ab, weil sich das Flusspferd wehrt.)

***

Dann:

1. Das Mädchen auf dem Foto ist nicht das Mädchen, um das es geht, sondern irgendein Mädchen (Verpixelung von uns).
2. Story: Ein Mann will Tickets für einen Freizeitpark holen. Da seine Tochter das Down-Syndrom hat, möchte er für sie ein ermäßigtes Ticket haben. Dafür müsse sie aber persönlich erscheinen, heißt es am Ticketschalter. Große mediale Aufregung, Freizeitpark entschuldigt sich, Ende.
3. Der Artikel ist sieben Monate alt, abgeschrieben von der britischen „Sun“.
4. Zum dritten Mal gepostet.

***

Zwischendurch postet “Focus Online” tatsächlich auch aktuelle Artikel, doch ein großer Teil der Facebook-Aktivität besteht aus der willkürlichen Wiederverwurstung von altem Zeug.

Nun wäre das alles halb so wild, wenn das Portal wenigstens kenntlich machen würde, dass es sich um alte Artikel handelt. “Focus Online” will aber, dass man sie für aktuell hält.

Die Geschichte ist über ein Jahr alt. Das erfahren die Leser aber nicht mal, wenn sie auf den Link klicken. Das Portal „Netmoms“ (das auch zum Burda-Verlag gehört) zeigt in seinen Artikeln nämlich kein Veröffentlichungsdatum. Erst wenn man sich weiter zu „Focus Online“ durchklickt (im Text verlinkt), wird ersichtlich, dass es keine aktuelle Geschichte ist.

***

9.15 Uhr:

Der Artikel ist sieben Monate alt.

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9.30 Uhr:

Ebenfalls sieben Monate alt. Zum siebten Mal gepostet.

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10.30 Uhr:

Ein bezeichnendes Beispiel. Im Artikel geht es um eine 18-Jährige, die am Tag nach einem scheinbar harmlosen Fahrradunfall plötzlich gestorben war. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung stand die Todesursache noch nicht fest, die Ärzte vermuteten innere Verletzungen. Inzwischen (der Artikel ist sieben Monate alt) dürfte es da genauere Erkenntnisse geben.

Aber interessiert das die Leute “Focus Online”? Quatsch. Fünf Mal haben sie den Artikel gepostet — den sieben Monate alten Artikel, in dem sie rätseln, was denn da los war. Statt einfach mal ihren Job zu machen und zu recherchieren, was denn da los war.

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11 Uhr:

Fast anderthalb Jahre alt. Zum achten Mal gepostet.

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11.30 Uhr:

Sieben Monate alt. Zum fünften Mal gepostet.

***

12.15 Uhr:

Fünf Monate alt. Zum siebten Mal gepostet.

***

Es folgten mehrere aktuelle Artikel (u.a.: “Sexy Rennfahrer-Rücken: Lewis Hamilton zeigt tätowiertes Kreuz”, “Forscher sicher: So könnten uns Aliens beobachten”, “Was diese Frau für ihren morgendlichen Kaffee auf sich nimmt, ist unglaublich”). Dann, 19 Uhr:

Ein Jahr alt. Zum dritten Mal gepostet.

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0 Uhr:

Sieben Monate alt. Zum sechsten Mal gepostet.

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0.30 Uhr:

Acht Monate alt. Zum zwölften Mal gepostet.

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2 Uhr:

Sieben Monate alt. Zum fünften Mal gepostet.

***

Daniel Steil, Chefredakteur von “Focus Online”, erklärt die hohen Klickzahlen seines Portals übrigens so:

Unsere Strategie geht auf. Wir setzen unsere journalistische Leidenschaft auf allen Kanälen ein und lernen ständig dazu.

Journalistische Leidenschaft. Ja, die ist kaum zu übersehen.

Bild  

Wie gut ist “Bild” wirklich?

Journalismus ist wie Essen. Man kann darauf achten, woher die Sachen kommen, Wert auf Qualität legen, Zeit und Mühe investieren. Oder halt Fast Food. Geht flott, schmeckt okay und kann, gerade in großen Mengen konsumiert, zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit werden.

Womit wir bei der “Bild”-Zeitung wären, die am 10. März fragte:

Im Artikel stellen die beiden Autorinnen unter anderem folgende Behauptung auf:

Damit sich die Euter der Kühe nicht entzünden, mischen herkömmliche Landwirte vorbeugend jeden Tag Antibiotika ins Futter, das zu einem geringen Teil in die Milch übergeht. Sind Bio-Kühe krank und schlagen homöopathische Mittel nicht an, wird zwar auch ihnen Antibiotika gegeben. Allerdings auf ein paar Tage beschränkt, nicht ein Leben lang.

Das wollte der Bauernverband Schleswig-Holstein nicht auf sich und den Bauern sitzen lassen und beschwerte sich darüber (und über weitere Aussagen in dem Artikel, dazu später mehr) auf seiner Facebook-Seite. Denn: Die prophylaktische Verabreichung von Antibiotika ist in der Tierhaltung laut Arzneimittelgesetz verboten. Zwar werden in deutschen Ställen durchaus Antibiotika eingesetzt (laut Angaben des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit etwa 1.000 Tonnen pro Jahr), in einigen Fällen sicher auch prophylaktisch. Doch dass alle “herkömmlichen Landwirte” ihren Kühen „jeden Tag“ Antibiotika ins Futter mischen — eine sehr gewagte These.

Daher forderte der Bauernverband die “Bild”-Redaktion zur Offenlegung ihrer Quellen auf. Und tatsächlich — am nächsten Tag erschienen (gut im Blatt versteckt) diese Zeilen:

In unserem Text “Wie gut ist Bio wirklich” schrieben wir gestern: “Damit sich die Euter der Kühe nicht entzünden, mischen herkömmliche Landwirte vorbeugend jeden Tag Antibiotika ins Futter.” Richtig ist: “Etwa 80 Prozent der konventionell arbeitenden Milchbauern behandeln ihre Kühe regelmäßig mit Antibiotika, damit sich die Euter nicht entzünden”, sagt Tobias Reichert von Germanwatch.

In einer Pressemitteilung hat die Umwelt- und Entwicklungsorganisation “Germanwatch” die Aussage inzwischen präzisiert:

Hierzu sind zwei Punkte zu ergänzen, die in dem sehr knappen Beitrag noch zu kurz kamen, aber gerade im Nachgang zu dem ersten BILD-Artikel klar gestellt werden sollten: Erstens erfolgt die Antibiotika-Gabe nicht über das Futter und zweitens ist mit “regelmäßig” mindestens einmal jährlich gemeint (schon dies hält Germanwatch im Hinblick auf die Förderung von Antibiotika-Resistenzen für gefährlich, was unabhängig von der Frage ist, ob die Milch nachher zum Verbraucher gelangt).

“Germanwatch” betont außerdem, dass die Autorinnen sich erst nach der Veröffentlichung des ersten “Bild”-Artikels gemeldet hätten. Worauf die ursprüngliche (falsche) Behauptung des Blattes beruhte, bleibt also weiter unklar.

Auf Anfrage des Bauernverbandes antwortete die Redaktion, sie habe für die Recherche …

Studien und die Aussagen mehrerer Experten ausgewertet.

Leider ist dabei ein großer Teil der Fakten auf der Strecke geblieben, nicht nur bei der Antibiotika-Sache. Die Autorinnen schreiben zum Beispiel:

Bio-Produkte haben jedoch oft Probleme mit Schadstoffen wie Schimmelpilzgiften oder Mineralöl.

Belege liefert “Bild” auch dafür nicht. Das Blatt zitiert nur eine “Stiftung-Warentest-Expertin”:

„Gründe können zum Beispiel ungewollte Verunreinigungen aus der Produktion sein.“

Das mag sein. Aber die “Stiftung Warentest” (oder auch “Foodwatch”) findet diese Schadstoffe in den verschiedensten Produkten — ganz unabhängig davon, ob bio oder nicht.

Wir haben beim Bundeslandwirtschaftsministerium, dem Umweltbundesamt und verschiedenen Umweltverbänden nachgeforscht — nirgends fanden sich Hinweise darauf, warum insbesondere Bio-Produkte stärker betroffen sein sollen. Nur der “Bund für Umwelt und Naturschutz” schrieb uns auf Anfrage, dass die Problematik “durchaus vorhanden” sei:

Es geht dabei um die Migration von Mineralölrückständen (MOAHs) aus Druckfarben. Die können seit Ende der Nullerjahre durch eine verbesserte Analytik nachgewiesen werden und tauchen nun ab und zu auf. Die Bundestagsfraktion DIE LINKE hat dazu mehrfach Kleine Anfragen an die Bundesregierung gestellt. Gerade bei Recyclingverpackungen bestehen diese Probleme. Im Biobereich wird aus ökologischen Gründen verstärkt auf Recyclingprodukte zurückgegriffen. Viele Bio-Unternehmen haben allerdings unterdessen darauf reagiert und das Risiko abgebaut.

Von solchen Details und Einordnungen erfahren die “Bild”-Leser nichts, das Blatt belässt es bei halbwahren Verallgemeinerungen. Hier zum Beispiel:

Konventionelle Landwirte bestellen ihre Äcker meist einseitig: Sie säen und ernten nur eine bestimmte Pflanze. Der Boden laugt aus, Nährstoffe gehen verloren. Außerdem düngen sie mit Kunstdünger, spritzen Unkraut- und Insektenvernichtungsmittel. Rückstände dieser Gifte essen wir mit.

Reste von Pestiziden können sich auf Lebensmitteln finden, das stimmt. Was “Bild” nicht schreibt: Solche Rückstände sind bis zu bestimmten Höchstwerten zulässig, weil sie bis zu diesen Grenzwerten nicht als gesundheitsgefährdend gelten. Ganz ausschließen kann eine solche Gefährdung natürlich niemand, jedoch sagen das Bundesinstitut für Risikobewertung sowie das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (PDF):

Die Überwachung [der Rückstände von Pflanzenschutzmitteln] hatte im Jahr 2012 bei etwa 98,5 % der deutschen und europäischen Obst- und Gemüseproben nichts zu beanstanden. Nur etwa 1,5 % der Proben wiesen Rückstände über den gesetzlichen Höchstgehalten auf. […]

Der Anteil der Proben, die als „möglicherweise gesundheitlich bedenklich“ eingestuft wurden, lag in den vergangenen Jahren weit unter einem Prozent. Weil die Toxikologen mit hohen Sicherheitsfaktoren rechnen, gehen sie davon aus, dass bislang noch niemand eine kritische Menge Rückstände aufgenommen hat. Dem Bundesinstitut für Risikobewertung ist auch noch kein Fall bekannt, bei dem Verbraucherinnen oder Verbraucher nach dem Verzehr von Obst und Gemüse, das Rückstände eines chemischen Pflanzenschutzmittels enthielt, krank geworden sind. […] Eine Gesundheitsgefährdung durch Rückstände ist sehr unwahrscheinlich. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl das Bundesinstitut für Risikobewertung als auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit.

Aber so ist das im Fast-Food-Journalismus: Geht flott, schmeckt okay. Aber nährstoffreich wie ein Autoreifen.

Mit Dank an Eiko M., Susanne G. und Herma R.

Native Schleichvertising, Statistikfallen, Spin-Doktoren

1. Powered by Pepsi: Der Trend zum Native Advertising
(get.torial.com, Tobias Lenartz)
Seit Adblocker bei vielen Nutzern die Werbeanzeigen und lästigen Blinkbanner und Popups wegfiltern, setzen Publisher verstärkt auf das sogenannte “Native Advertisement”. Eine Werbung, die sich als redaktioneller Inhalt tarnt und daher höchst umstritten ist. Die Geister scheiden sich bereits bei der oftmals beschönigenden Ausweisung als “Sponsored Post”, “Service” oder “im Auftrag und mit Unterstützung von”. Der Artikel verrät den Stand der Dinge, erzählt von der Entstehungsgeschichte und liefert Beispiele gelungener und weniger gelungener Anzeigen.

2. Bild.de holt sich Spitzenposition zurück
(horizont.net, Katrin Ansorge)
Die Dezemberzahlen zur Reichweite von Nachrichtenseiten sind ausgewertet. Demnach hat “Bild” im letzten Monat des vergangenen Jahres den lange führenden “Focus Online” als Spitzenreiter abgelöst. Die Nachrichtenseiten hatten es zum Schluss des Jahres besonders mit der Konkurrenz von Koch- und Backseiten zu tun, die jahreszeitlich bedingt besonders klickstark waren.

3. Paartherapie auf Papier
(taz.de, Natalie Mayroth)
Der Bericht stellt das deutsch-hebräische Kunst- und Literaturmagazin “Aviv” vor. Die Macher wollen aus dem klassischen Deutschland-Israel-Kontext ausbrechen und gehen auch formal andere Wege: Das bilinguale Magazin kann von hinten und von vorne aufgeschlagen werden, denn es hat zwei Leserichtungen. Der Fokus des von der Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum geförderten Projekts liege laut Blattmacher Hauenstein nicht auf der Beziehung zwischen den Ländern, sondern auf der gegenseitigen Beeinflussung zweier Sprachen und der Inhalte.

4. Warum Umfrageinstitute so häufig danebenliegen
(blog.zeit.de, Tobias Dorfer)
Bei den letzten Wahlen gab es erhebliche Unterschiede zwischen den Vorhersagewerten und den tatsächlich erreichten Prozentwerten. Tobias Dorfer macht im Blog der “Zeit” auf ein Projekt eines belgischen Datenjournalisten aufmerksam, der die Komplexität politischer Vorhersagen verdeutlichen möchte. Außerdem gibt er Hinweise auf Beiträge, die zeigen wie fehleranfällig Statistiken sind.

5. Der große Scrollytelling-Tool-Test
(onlinejournalismus.de)
Wer wissen will, was auf uns in den nächsten Jahren in Sachen “Scrollreportagen” zukommt, kann hier einen Blick hinter die Kulissen werfen. Der aktualisierte “große Scrollytelling-Tool-Test” stellt die Werkzeuge der Redaktionen vor und liefert Links zu Beispielreportagen.

6. „Wir hatten auch Glück, dass Julia Klöckner Panik bekommen hat“
(faz.net, Timo Steppat)
Ausführliches Interview mit einem hinter den politischen Kulissen agierenden “Spin-Doctor”. Wahlkampfmanager Frank Strauss gilt vielen als die Geheimwaffe der SPD und als Mann für aussichtslose Fälle. Im Interview gibt er sich erstaunlich offen. Er und die Firma, bei der er Teilhaber ist, machen Werbekampagnen für Joghurt, Versicherungen und eben… Parteien. 25 Wahlkämpfe in 20 Jahren will er laut Homepage durchgeführt haben. Man pendelt zwischen Respekt für die professionelle Leistung und der Ernüchterung, dass derlei Berater Politik wie eine Ware verkaufen. Wie den Joghurt, der eben manchmal links- und manchmal rechtsdrehend ist.

Protest-Protest, Überzeugungstäter, Radiofälscher

1. Klarstellung: Wer hat die AfD wegen ihrer politischen Forderungen gewählt?
(erbloggtes.wordpress.com)
“Erklärt es irgendetwas, wenn man behauptet, drei Viertel hätten die AfD nicht wegen ihrer Inhalte gewählt, sondern aus Protest? Wahrscheinlich nicht. Denn die Aussage ist falsch.” Auf “Erbloggtes” lässt sich nachlesen, warum die vom ZDF am Wahlabend verbreitete Aussage falsch ist und auf welchen Missverständnissen sie beruht.

2. Der Job als Gradmesser der Freiheit
(horizont.at)
ORF-Korrespondent Jörg Winter muss sich an eine neue Form des Arbeitens gewöhnen: Die Berichterstattung in der Türkei werde zunehmend eingeschränkt, immer mehr Journalisten würden unter den sich verschlechternden Arbeitsbedingungen leiden. Objektive Stimmen würden in die sozialen Medien oder das Internet ausweichen. „Die Existenz vieler Kollegen ist bedroht“, sagt Winter. „Fast zynisch mutet da die Aussage von Präsident Erdogan an, dass Journalisten nirgendwo freier seien als in der Türkei.“

3. Auslandskorrespondenten: Überzeugungstäter
(de.ejo-online.eu, Anna Carina Zappe)
Eine kürzlich in Buchform erschienene Masterarbeit beschäftigt sich mit der Motivationslage von Auslandskorrespondenten. Nach 15 Interviews mit im Ausland tätigen Journalisten sei klar, dass es sich oft um “Überzeugungstäter” handele, denen es um „einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung“ gehe. Der wirtschaftliche Druck sei jedoch hoch und auch das Netz sei konkurrierender Gegner: “Die schnelle Verfügbarkeit von Nachrichten aus aller Welt, vor allem über das Internet, kann bei Redaktionen in der Heimat den Eindruck erwecken, bereits über genügend Informationen über das Geschehen in der Ferne zu verfügen.”

4. Die Trumpifizierung der US-Medien
(netzpiloten.de, Stephen Cushion)
Stephen Cushion berichtet über den amerikanischen Wahlkampf und die Vorgehensweise des republikanischen Abgeordneten Donald Trump. “Von provokanten Reden in Wahlkampfveranstaltungen bis hin zu billigen persönlichen Angriffen auf seine Gegner in TV-Debatten: die Trumpifizierung der Politik passt perfekt zu den kommerziellen Zielen der US-Fernsehsender.” Bei der jüngsten TV-Debatte der republikanischen Spitzenkandidaten auf Fox News hätten 17 Mio. Zuschauer eingeschaltet. Dies sei die höchste Zuschauerquote, die für eine der Spitzendebatten erzielt wurde.

5. Arno heißt jetzt Elvis
(fair-radio.net, Beata Beier)
Bei “Fair Radio” (Alternativlink) geht es um einen besonders kuriosen Fall: Der Sender “Radio NRW” behaupte, bei ihm würden für Spaßtelefonate Hörer anrufen. Die Gespräche mit Comedian Elvis Eifel seien aber gefälscht. Der Artikel legt mit einigen Soundclips die Beweisstücke vor. “So ein Hörerbetrug strahlt weit über den vermeintlich unseriösen und unwichtigen Bereich der Comedy hinaus. Hörer denken sich ihren Teil und im schlimmsten Fall bleibt ganz unterbewusst eine Erkenntnis hängen: Wer schon bei Comedy lügt, der ist auch an anderer Stelle – wenn es um wichtige, seriöse Infos geht – nicht ehrlich. Nicht vertrauenswürdig.”

6. Neues aus der Bildmontage-Bastelstube: Sinnentleertes
(noemix.twoday.net, Michael Nöhrig)
Wenn eine Redaktion kein passendes Symbolbild zur Hand hat, muss es manchmal eine selbsterstellte Fotomontage tun. “Nömix” hat einige haarsträubende Photoshopdesaster und Musterbeispiele für angewandten Pixelpfusch herausgesucht.

Unter AfD-lern, unter Whistleblowern, unter Klatschern

1. Wie ich auszog, die AfD zu verstehen
(zeit.de, Malte Henk)
“Zeit”-Reporter Malte Henk ist linksliberal und hat nichts gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Mit AfD-Gerede von “Volksverrätern” und “Tugendterror” kann er nichts anfangen. Und er fragt sich, wer so denkt. Also hat er einen Selbstversuch unternommen, sich unter falschem Namen bei Facebook angemeldet und mit AfD-Anhängern befreundet. Langes und lesenswertes Dossier über ein Experiment, bei dem Henk nicht nur auf Rechtsextreme trifft, sondern auf viele Menschen, die ihm seltsam vertraut vorkommen.

2. Willkommen in der bunten Medienrepublik
(faz.net, Michael Hanfeld)
Von einer Posse aus Baden-Württemberg berichtet die “FAZ”. Vornehmlich Politiker der Grünen und der SPD hätten dort Einfluss auf die Vergabe einer regionalen Sendelizenz in Baden-Württemberg ausgeübt. Von eigens dafür ausgedachten, neuen Briefköpfen ist die Rede. Dem Sender RTL reiche das jetzt, er werde sich an die Präsidenten des Bundestages und des baden-württembergischen Landtages wenden.

3. Was vom Aufschrei übrig blieb
(sueddeutsche.de, Thorsten Schmitz)
Ende letzter Woche fand in Berlin das “Logan CIJ Symposium” des “Centre for Investigative Journalism” statt. Das Motto der Überwachungskonferenz: “Challenge Power! Building Alliances against Secrecy, Surveillance and Censorship”. Dort seien die bekannten Whistleblower wie Julian Assange und Edwar Snowden wie Popstars gefeiert worden. Der Beitrag erinnert an einen vergessenen Helden wie Thomas Drake, der vor elf Jahren der “Baltimore Sun” Informationen zum NSA-Projekt “Trailblazer” gab und zwischenzeitlich keine Anstellung fand und verarmte.

4. Sind Social Plugins rechtswidrig?
(internet-law.de, Thomas Stadler)
Das Landgericht Düsseldorf hat in einem aktuellen Urteil (Urteil vom 09.03.2016, Az.: 12 O 151/15) einem Unternehmen untersagt, auf seiner Website das „Social Plugin „Gefällt mir“ von Facebook zu integrieren“, ohne die Nutzer vorab darüber zu informieren. Wenn sich die Rechtsprechung durchsetze, so IT-Rechtler Stadler, könne man den Like Button und das Page Plugin von Facebook in Deutschland wohl nicht mehr rechtskonform in die eigene Website einbauen. Zudem seien bestimmte Konstellationen von Gesetzesseite nicht eindeutig geregelt, hier müsse die Rechtsprechung für die notwendige Eindeutigkeit sorgen.

5. Et kütt, wie et klickt
(zeit.de, Jana Gioia Baurmann)
Multi-Channel-Netzwerke bringen YouTuber und Markenfirmen zusammen. Jana Gioia Baurmann erklärt, was es mit den ominösen Netzwerken auf sich hat und warum es eines der größten davon, die Disney-Tochter “Maker Studios”, nun nach Köln zieht.

6. Klatschvieh im TV: Put your Patschehändchen together
(dwdl.de, Hans Hoff)
Letzte Woche kam es bei “Anne Will” zu einer blamablen Szene als sich der Pressesprecher von Bundesjustizminister Heiko Maas durch allzu lautes Klatschen outete. Kolumnist Hans Hoff beschäftigt sich mit dem Klatschverhalten von Zuschauern in Fernsehsendungen, das selten normal zu nennen sei. Und er bittet um mildernde Umstände für den Pressesprecher mit der ausdauernden Klatsche: “Hat man berücksichtigt, unter welchen Zwängen der Mann stand? Trug er vielleicht einen Elektroschocker am Bein, der ihm bei jeder Aussage seines Ministers einen aktivierenden Stromstoß versetzte? Oder klatschte er gar, um seinen Jahresbonus zu sichern?”

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