Archiv für Compact

Die Verbindungen von “Compact” zu Rechtspopulisten und Rechtsradikalen

Eine der obskursten Behauptungen, die die “Compact”-Redaktion immer wieder verteidigt: Ihr Magazin stehe politisch nicht weit rechts. Sie verlinkt in ihrer Selbstbeschreibung auf eine eigens dafür vorgesehene FAQ, in der die Redaktion versucht zu erklären, sie sei weder rechtspopulistisch noch rechtsradikal. Zuletzt empörte sie sich im Mai darüber, in die Sonderausstellung “Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945” des NS-Dokumentationszentrums München als Exponat aufgenommen worden zu sein. Geht es nach “Compact”, ist diese Verortung in der rechten Ecke eine bösartige Verleumdung.

Die Münchner Kuratoren nannten das Cover der Oktober-Ausgabe von 2016 “rassistisch”. Hier im BILDblog hatten wir ausführlich über das Heft berichtet. Unter anderem riss die “Compact”-Redaktion darin Bilder aus einer Aufklärungsbroschüre aus dem Zusammenhang und behauptete fälschlicherweise, es handele sich um eine an Geflüchtete gerichtete Anleitung für Vergewaltigungen. Derartige Hetze ist wahrlich keine Ausnahme bei “Compact”.

Neben der inhaltlichen Analyse lässt sich die weit rechte Ausrichtung des Blatts noch auf anderem Wege nachweisen: über personelle Verbindungen. Das Magazin “gilt als AfD- und Pegida-nah”, hieß es unter dem Cover in der Ausstellung in München. “Compact” entgegnete:

Der Kommentar der Kuartoren (sic) lautet lediglich: “Rassistisches Cover des rechtspopulistisches (sic) und verschwörungstheoretischen Magazins ‘COMPACT’, 2016”. Darunter noch der Hinweis, dass es AfD- und “Pegida”-nah gelte. Die üblichen Zuschreibungen also. Nichts weiter. Was für eine erbärmliche Recherche für eine geschichtswissenschaftliche Ausstellung.

Tatsächlich ist die Formulierung “gilt als”, die die Kuratoren gewählt haben, nicht ganz angebracht. Sie ist unnötig vage und defensiv. Mit etwas mehr Platz als nur drei Zeilen Museumstext lässt sie sich aber konkretisieren: “Compact” ist definitiv AfD- und “Pegida”-nah. Das Magazin pflegt enge Verbindungen zu Rechtspopulisten und Rechtsradikalen.

AfD-Mitarbeiterinnen mit Nebenjob

Zu sehen ist das zum Beispiel in der Sendung “Die Woche Compact”, die bei Youtube läuft. Das etwa 20-minütige Format ist eine Werbesendung für “Compact”, die mit einer Studio-Optik und Video-Einspielern zu Themen aus dem Heft wie eine Nachrichtensendung gestaltet ist. Eine von drei Moderatorinnen ist Lisa Lehmann:

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Lisa Lehmann

Dass Lehmann auch stellvertretende Vorsitzende der Jungen Alternative Sachsen-Anhalt ist, könnte Zuschauer interessieren. Sie ist außerdem die Lebensgefährtin von André Poggenburg, Mitbegründer der völkischen AfD-Gruppierung “Der Flügel”, und Tochter von Mario Lehmann, AfD-Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt. Dass Poggenburg seine Partnerin als Auszubildende in die Landtagsfraktion holte, hielten selbst Parteikollegen für Vetternwirtschaft.

Lisa Lehmann ist nicht die einzige AfD-Frau mit direkter Verbindung zu “Compact”, deren Parteizugehörigkeit das Magazin nicht transparent macht. Einzelne Folgen von “Die Woche Compact” moderierte Linn Kuppitz, die sich auf Twitter selbstironisch “Frontfrau” der AfD-Landesliste Nordrhein-Westfalen für die Bundestagswahl 2017 nennt. Sie trat, hinter 22 Männern, auf dem vorletzten Listenplatz an und arbeitet als Büroleiterin des AfD-Bundestagsabgeordneten Johannes Huber.

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Linn Kuppitz

Und dann ist da noch die Frau, die in den meisten “Compact”-Videos als Moderatorin auftritt, Katrin Nolte. Auch sie ist mit einem AfD-Politiker liiert, Jan Nolte, Vorsitzender der Jungen Alternative Hessen. Seit der Wahl 2017 sitzt er als Abgeordneter im Bundestag. Und auch seine Frau hat einen Platz in Berlin gefunden, als Mitarbeiterin von Noltes Fraktionskollegen Martin Hohmann.

Screenshot eines Compact-Videos - Moderatorin laut Bauchbinde: Katrin Nolte

Somit arbeiten alle drei “Compact”-Moderatorinnen für die AfD. Sie sind selbst AfD-Politikerinnen, mit AfD-Politikern familiär verbandelt oder beides gleichzeitig. Mehr Nähe zur Partei geht kaum. “Compact” aber nennt die Videos “unabhängige Nachrichten”. 57.000 Youtube-User haben den Kanal, in dem die Sendung läuft, abonniert.

Die AfD hat sich mit “Compact” bestens arrangiert — und umgekehrt.

“Compact” betreibt gewissermaßen Content-Marketing für AfD-Inhalte und nutzt selbst wiederum Parteiveranstaltungen als Werbefläche für sich. Etwa die von der AfD getragene “Merkel muss weg”-Demonstration Ende Mai in Berlin. Stolz kündigte “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer vorher an, dass die von seinem Blatt im April zur “Schönen des Monats” gekürte Marie-Thérèse Kaiser eine Rede halten werde. Auch sie ist AfD-Mitglied. Die Demo selbst begleitete Elsässer schließlich mit seinen Moderatorinnen und weiteren Sympathisantinnen in “Compact”-T-Shirts, unter ihnen die AfD-Politikerinnen Jessica Bießmann und Jeannette Auricht. Er nannte sie die “Compact-Frauenbrigade”.

Screenshot Compact-Online - Einsatz für die COMPACT-Frauenbrigade mit „Sieg für Deutschland“-Shirt: Jessica Bießmann und Jeannette Auricht, AfD-Abgeordnete in Berlin

Bei einem von der AfD Falkensee organisierten Public Viewing des WM-Spiels Deutschland gegen Mexiko präsentierte “VIP-Gast” Elsässer sein Magazin. Im Februar sprach er beim politischen Aschermittwoch der AfD ein Grußwort, bevor André Poggenburg dort Türken als “Kümmelhändler” und “Kameltreiber” beleidigte.

Am Abend der Bundestagswahl hatte “Compact” eine Liveübertragung von der Party der AfD organisiert. Wohlgemerkt: Elsässer berichtete ausschließlich von der AfD-Wahlparty. Die Partei war dann auch das zentrale Thema der über drei Stunden langen Sendung. Elsässer sprach mit verschiedenen AfD-Politikerinnen und -Politikern sowie Vertretern des Vereins “Ein Prozent”, den Elsässer persönlich unterstützt und der die AfD auch mit Gruppen rechts von ihr vernetzt. Bei der Übertragungen ebenfalls dabei war Michael Stürzenberger, den “Compact” als Journalisten und “Pegida”-Redner bezeichnete:

Screenshot Compact-Video - Bauchbinde: Michael Stürzenberger, Journalist

Stürzenberger ist Autor des islamfeindlichen Blogs “Politically Incorrect”. Für seine Hetze bei “Pegida”-Veranstaltungen wurde er in Deutschland und in Österreich verurteilt. Auch bei den mitunter rechtsextremen “Hooligans gegen Salafisten” war er zugange. Im bayerischen Verfassungsschutzbericht wird Stürzenberger namentlich erwähnt (PDF, ab Seite 189).

“Compact”-Veranstaltungen als Plattform für Rechtspopulisten

Bei einem solchen Umfeld ist es kein Wunder, dass der völkisch-nationalistische Flügel der AfD die jährlichen “Compact”-Konferenzen gerne als Forum nutzt. Ohne befürchten zu müssen, kritisiert zu werden, konnten dort in den vergangenen Jahren Alexander Gauland (2014), André Poggenburg (2015, 2016) und Björn Höcke (2017) Reden halten. Hinterher werden diese unkommentiert in “Compact” abgedruckt. So lassen sich ohne aufwändige journalistische Arbeit billig Heftseiten füllen.

Aktive Führungsfiguren anderer deutscher Parteien, die in Landtagen oder im Bundestag sitzen, treten bei “Compact”-Konferenzen nicht auf, allenfalls dürfen sich ehemalige Mitglieder als Dissidenten gerieren. Stattdessen lädt “Compact” Vertreter europäischer rechtspopulistischer Parteien ein: Oskar Freysinger von der Schweizer SVP (2014, 2016) beispielsweise oder Susanne Winter, deren Auftritt bei der “Compact”-Konferenz 2015 wohl ihr letzter als Mitglied der FPÖ war. Am Wochenende darauf hieß sie öffentlich einen antisemitischen Facebook-Kommentar, der von Europa bedrohenden “Geldjuden” sprach, mit den Worten “schön, dass Sie mir die Worte aus dem Mund nehmen” gut. Daraufhin wurde sie aus der Partei ausgeschlossen. Heute ist Winter Mitglied der europäischen Neonazi-Partei “Allianz für Frieden und Freiheit”, an der unter anderem die NPD beteiligt ist.

“Pegida”-Gründer Lutz Bachmann sprach 2016 und 2017 auf “Compact”-Konferenzen. Martin Sellner, einer der Köpfe der rechtsextremen “Identitären Bewegung Österreich”, tritt seit 2015 jährlich auf, zudem schreibt er regelmäßig für “Compact” die Kolumne “Sellners Revolution”. Bevor er für die “IBÖ” aktiv wurde, war Sellner Teil der österreichischen Neonazi-Szene. Er leugnet das alles nicht, tut es aber als Jugendsünde ab. Der deutsche und der österreichische Verfassungsschutz (PDF, ab Seite 52) beobachten die “Identitäre Bewegung”.

AfD-Mitglieder als Moderatorinnen. AfD-Politikerinnen als “Compact-Frauenbrigade”. Auftritte des Chefredakteurs bei AfD-Veranstaltungen. Anti-Islam-Hetzer als Studiogäste. Gastredner, die heute in Neonazi-Parteien aktiv sind. Ein Mitglied der “Identitären Bewegung” als Kolumnist. Aber rechtspopulistisch oder rechtsradikal wollen sie bei “Compact” nicht sein.

Wie “Compact” lügt, verdreht und Stimmung macht. Ein Beispiel.

Fährt in Deutschland jemand mit einem Kleinbus in eine Menschenmenge, steht für das selbsterklärte Wahrheitsmagazin “Compact” direkt fest: Hinterm Steuer muss ein islamistischer Terrorist gesessen haben. Stellt sich später allerdings heraus, dass der Täter Deutscher war, wird es erst richtig wild.

Wie wenig dem Blatt daran liegt, journalistische Aufklärungsarbeit zu leisten, kann man gut an der “Compact”-Berichterstattung zur Amokfahrt in Münster Anfang April erkennen, die wir uns mit etwas zeitlichem Abstand noch einmal genauer angeschaut haben. Ein Mann fuhr damals in eine Gruppe von Menschen, vier Personen kamen ums Leben. Und “Compact” legte los: Die Redaktion brachte erstmal eine Falschmeldung in Umlauf, nahm diese später keinesfalls zurück, sondern löschte heimlich und flüchtete in neue haltlose Behauptungen. Beliebig änderte “Compact” Standpunkte und Geschichten und konstruierte eine widersprüchliche Erzählung. Gemeinsamer Nenner war nur ein Misstrauen in die offizielle Version zur Tat — und selbst das wurde ohne zu zögern geopfert, wenn es der “Compact”-Agenda diente.

Doch der Reihe nach. Am 7. April, dem Tag der Tat, veröffentlicht die “Compact”-Redaktion abends einen Bericht auf ihrer Website. Sie wählt folgende Überschrift:

Screenshot Compact - Anschlag in Münster: 4 Tote! Wacht die Multikulti-Hochburg jetzt auf?

Während “Comapct” bereits in der Titelzeile Schuldige suggeriert (woher könnte der Täter schon stammen, wenn er mit seiner Tat “die Multikulti-Hochburg” wachrüttelt? Aus Deutschland sicher nicht), berichten andere Medien aufgrund der dünnen Faktenlage vorsichtiger. Bei “Compact” heißt es empört:

Die ARD-Tagesschau sprach in einer ersten Meldung verharmlosend von einem “Zwischenfall mit einem Auto”. DIeselbe (sic) Formulierung übernahm auch Die Welt. Dabei ist klar, dass es ein Anschlag war, denn der Fahrer hat sich nach seiner Terrorfahrt erschossen. (…)

Dass es ein islamistischer Anschlag war, ist zur Stunde nicht nachweisbar. Aber die Indizien sind stark: Das Anschlagsmuster gleicht dem von Nizza im Sommer 2015 (siehe Aufmacherfoto) und von London Anfang 2017. Und: Am heutigen Tag jährt sich der islamistische LKW-Anschlag von Stockholm 2017.

Die Schutzstrategie der Stadt Münster habe versagt, man habe nämlich nicht nur Poller aufstellen, sondern die Salafistenszene verbieten müssen. Die Tat soll laut “Compact” auch irgendwie mit einer Anti-Pegida-Demonstration und dem schlechten Ergebnis der AfD in Münster bei der Bundestagswahl zu tun haben.

Die Frage stellt sich: Wann werden die Bunt-Besoffenen aus ihren kuschelweichen Träumen aufwachen? Was muss noch passieren?

“Compact” hat sich also früh auf einen Täter festgelegt, vermutlich soll es ein Islamist sein, ganz sicher ein Ausländer, dessen Anschlag den “Bunt-Besoffenen” den Wahnsinn vor Augen führt. Später ändert die Redaktion ihre Überschrift klammheimlich:

Screenshot Compact - Überschrift jetzt: Münster: Drei Tote! Jens R. und sein Abschiedsbrief – Neuester Stand

Der anonyme “Compact”-Autor ergänzt den Artikel. Er kommentiert nun die Erkenntnisse seriöser Medien und wundert sich über deren Enthüllungen:

Der gleiche Rechercheverbund, der bereits vor der Polizei den Namen des Täters wusste und an die Öffentlichkeit gab, soll jetzt also diesen persönlichen Brief “gefunden” haben, der doch eigentlich als Beweismittel ebenfalls zuerst in die Hände der Polizei gehören sollte. Darf man sich fragen, wie die Journalisten das angestellt haben?

Darf man. Zunächst aber muss man festhalten, dass “Compact” nur behauptet, sie — also NDR, WDR und “Süddeutsche Zeitung” — hätten den Brief gefunden, bevor die Polizei das tat. Denn was “Compact” dazu zitiert, belegt lediglich, dass der Dreier-Rechercheverbund die Meldung über den Brief veröffentlicht hat, bevor die Polizeipressestelle öffentlich von dem Brief sprach. Das ist gleich viel weniger aufregend.

Die Journalistinnen und Journalisten von NDR, WDR und “Süddeutscher Zeitung” haben einfach ordentlich recherchiert. Dass dieses Vorgehen in der “Compact”-Redaktion Verwunderung auslöst, sagt vor allem etwas über “Compact” aus. Die Leute dort arbeiten in aller Regel nicht an seriösen Nachrichten, sondern verdienen ihr Geld damit, möglichst aufbrausend Ressentiments zu bedienen.

Und so schließt das AfD- und “Pegida”-nahe Magazin nicht zum ersten Mal überstürzt auf falsche Täter. Als 2016 in Grafing ein aus einer Psychiatrie geflohener Mann wahllos auf Menschen einstach, schrieb “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer auf seinem persönlichen Blog dazu unter der Überschrift “Islamistischer Terror in Grafing bei München? Davon will die Lügenpresse nichts wissen.” Später löschte er den Artikel, “Compact” versuchte, den Täter weiter als Islamisten darzustellen.

Nach dem Amoklauf am Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016 rettete sich “Compact” in eine Verschwörungstheorie. Nach Darstellung des Magazins soll es sich auch hier um einen islamistischen Anschlag gehandelt haben und zwar von mehreren Tätern. Das sei dann durch die Behörden und die “Lügenpresse” vertuscht worden. Nichts will man dagegen bei “Compact” davon wissen, dass neben persönlicher Rache wegen Mobbings auch Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Ansichten ein Motiv des Einzeltäters gewesen sein könnten.

“Compact” weiß offenbar gut, was die eigene Zielgruppe hören beziehungsweise lesen will. Dennoch birgt eine so eklatante Falschmeldung wie die zu Münster selbst für ein wirres, fremdenfeindliches Verschwörungsmagazin die Gefahr eines gewissen Imageverlusts. Auch der überzeugteste “Compact”-Leser könnte bei derart gravierenden Fehlern Zweifel am Redaktionsclaim “Mut zur Wahrheit” bekommen. Wohl auch deswegen folgten in den Tagen nach der Tat Artikel, die sichtlich damit ringen, wie man mit dem Vorfall in Münster nun umgehen soll — und zwar möglichst, ohne sich selbst korrigieren zu müssen oder gar um Entschuldigung zu bitten.

Zwei Tage nach der Tat veröffentlicht “Compact” einen Zeugenaufruf:

Da von den Medien keine ehrliche Aufklärung zu erwarten ist, bitten wir um Ihre Mithilfe

Der Vorwurf an andere Medien, “keine ehrliche Aufklärung” zu betreiben. Von einer Redaktion, die kurz zuvor erst zum selben Fall einen falschen Täter in den Ring geworfen hat. Das ist mutig.

Es scheint tatsächlich Rückmeldungen auf den Aufruf gegeben zu haben, allerdings wohl nicht von Zeugen, sondern von Leuten, die ebenfalls verfrüht irgendwelche Behauptungen aufstellen. Denn später ergänzt die Redaktion folgenden Absatz:

Wir wollen betonen, dass es uns um die Sammlung von Fakten geht, nicht um die verfrühte Aufstellung irgendwelcher Behauptungen. Deshalb möchten wir bei den Tatsachen bleiben und hoffen auf eine baldige Aufklärung.

Am selben Tag veröffentlicht “Compact” einen zweiten Artikel zum Thema:

Screenshot Compact - Münster: 8 Fragen, die wir stellen sollten

Der Autor des Textes, “Polit-Profiler” Wolfgang Eggert, ist aktiv in der Verschwörungsszene und hat zuletzt 2014 im Verlag von “Compact”-Verleger Kai Homilius ein Buch über den Abschuss des Flugs MH17 veröffentlicht. Er will mit seinen acht Fragen wohl vor allem eines: Zweifel säen an allen anderen Berichten zum Geschehen, ob nun von seriösen Medien oder offiziellen Stellen.

Die Fragen 1 (“Was ist das Motiv?”) und 2 (“Wer ist der Täter?”) sind noch neutrale Recherchefragen. Eggert liefert zu ihnen zwar skurrile Kurzschlüsse (etwa: Jens R. könne wohl kaum gleichzeitig Rechtsradikaler und drogenabhängig gewesen sein, was erstens Unsinn ist und zweitens nicht länger relevant, da die Ermittler später bekannt gaben, dass sie ein rechtsextremes Motiv ausschließen); aber es sind Fragen, die viele Redaktionen in den Tagen nach der Tat gestellt haben. Die restlichen Fragen sind hingegen eher suggestiv gestellt. Zum Beispiel Frage 3:

Warum gibt es so wenig Bildmaterial?

Heutzutage müsse es doch mehr Bilder von der Tat geben, meint Eggert und fragt weiter: “Warum griff niemand zu seinem sonst ständig präsenten Handy, wenn der Vorfall die Brisanz hatte, welche die Presse ihm nachher zuschrieb?” Genau gegenteilig argumentiert Eggert, wenn es um andere Ereignisse geht. So verdächtigte er den Journalisten Richard Gutjahr in einem “Compact”-Interview, beim Anschlag von Nizza eingeweiht gewesen zu sein, weil er die Tat mit dem Handy filmte. Das Interview wurde mittlerweile gelöscht, kursiert aber noch auf Verschwörungs-Blogs.

Eggerts Frage 6 lautet:

Wie starb der angebliche Fahrer “Jens”?

Ab hier geht Eggert von mehreren Beteiligten aus. Bereits in der Frage deutet er an, dass es sich für ihn beim offiziellen Täter nicht um den tatsächlichen handeln könnte. Außerdem zweifelt er an, dass dieser sich erschossen habe, aus dem einzigen Grund, dass keine Bilder der Leiche veröffentlicht wurden. Polizei und Medien hätten für seinen Geschmack zu schnell Antworten geliefert. Dabei hatte “Compact” selbst ja direkt nach Bekanntwerden der Tat diese erklärt. Nur eben falsch.

In seinen Anmerkungen zu Frage 8 …

Die zwei Flüchtigen: Warum widerspricht sich der Polizeisprecher?

… zieht Eggert nicht weiter genannte oder verlinkte “angloamerikanische und israelische Medien” als Beleg dafür heran, dass ein Polizeisprecher erst von zwei Flüchtigen gesprochen habe. Dass der Beamte diese Meldung später dementierte, lässt Eggert nicht gelten, weil es ein Video aus Münster gebe, in dem “ein südländischer Jugendlicher” festgenommen werde. Eggert meint, dieses Video finde bei deutschen Medien keine Beachtung. Dabei hat “Spiegel Online” nachgefragt, was es mit dem Video auf sich hat: Die in der Aufnahme zu sehenden Personen waren Inder, die kein Deutsch verstanden. Nachdem ihre Personalien festgestellt wurden, ließ die Polizei sie gehen.

Nun kommt die “Compact”-Zeugensuche wieder ins Spiel. Einen Tag nach der Veröffentlichung des Aufrufs meint Redakteur Marc Dassen, der bereits für die Berichte zum Münchner Amoklauf verantwortlich war, einen Zeugen gefunden zu haben:

Screenshot Compact - Von Depression keine Spur: Compact sprach mit Nachbar des Amokfahrers Jens R.

Egon T. (Name geändert) war einige Zeit direkter Nachbar von Jens R. in einer seiner vier Wohnungen. Was er uns erzählte, passt so gar nicht zur Suizid-Story der Massenmedien.

In einer späteren Version relativiert die Redaktion intransparent wie gewohnt das “so gar nicht” zu einem “auf den ersten Blick”.

In seinem Artikel erzählt Dassen, dass er bei einem Mann, der sich als Nachbar von Jens R. ausgibt, angerufen hat. Und was hat dieser nun über Jens R. zu berichten, was “so gar nicht zur Suizid-Story der Massenmedien” passt?

Er sei “immer nett und freundlich” gewesen, “ganz normal halt”, “aufgeschlossen”, so T. Von depressivem Verhalten war “gar nichts zu spüren”. Das könne T. mit Sicherheit sagen, da er selbst bereits unter Depressionen zu leiden hatte und deshalb wisse, wie man sich da fühle.

Eine einzige per Telefon übermittelte Ferndiagnose eines nur oberflächlich mit dem Täter bekannten Laien-Psychologen ist für “Compact” glaubwürdiger als Ermittler der Polizei und ein Großteil der Medien.

Am 12. April schreibt Marc Dassen einen weiteren Text zur Tat in Münster:

Screenshot Compact - Zum Fall Münster: Wer war Jens R. - und wenn ja wie viele?

Es geht ihm vor allem ums Fragenstellen — beziehungsweise um ein vermeintliches Fragen-Tabu: Das Stellen offener Fragen sei verpönt und “der Verschwörungssucht verdächtig”. Bezogen auf den Brief von Jens R. schreibt Dassen:

Darf man fragen, wie die Medien an diese Schriftstücke rangekommen sind? Müssten diese als wichtige Beweismittel nicht zuerst einmal unter Verschluss gehalten werden, um eine mediale Spekulationsblase zu vermeiden? Auch solche Fragen traut man sich kaum zu stellen. Ist halt so. Finde dich damit ab. Fall erledigt. Basta. Wer sich dennoch nicht zufrieden geben will, der wird gerne mit Aluhut-Vorwürfen konfrontiert — oder wie zuletzt auch oft gesehen: Als notorischer Ausländerfeind bezeichnet, der es nicht ertragen kann, dass diesmal kein Muslim als Täter in Frage kommt.

Nur noch mal fürs Protokoll: Marc Dassen arbeitet in einer Redaktion, die es kaum erwarten konnte, einen Muslim als Täter von Münster präsentieren zu können.

Der “Compact”-Autor meint, weitere Fragen gefunden zu haben, die man kaum noch stellen dürfe, die allerdings schon längst gestellt worden sind. Etwa, wie der Täter an die Waffe gekommen ist. Das wollen nicht nur seriöse Journalisten wissen, auch die Polizei Münster stellt diese Frage. Oder, warum Jens R. Menschen tötete und verletzte, wenn er eine Suizidabsicht hatte. Auch das wurde bereits ausführlich thematisiert.

Schließlich äußert sich auch “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer zur Amokfahrt in Münster. Nachdem zwei Tage zuvor die dpa meldete, dass die Polizei weitere Projektile im Tatfahrzeug gefunden habe, die Untersuchung dazu aber noch nicht abgeschlossen sei, titeln er und seine Redaktion:

Screenshot Compact - Sensation: Weitere Projektile in Münsteraner Killer-Van gefunden. Wer schoss? Magic bullets wie bei JFK

Erstmal: Das Aufmacherfoto in Elsässers Beitrag zeigt den Tatort eines völlig anderen Verbrechens, auf das der Artikel nicht Bezug nimmt. Im Text verrät der “Compact”-Chef dann seine Entdeckung: Parallelen zum Mord an John F. Kennedy und zum NSU, zu dessen Ende er noch mal eine ganz eigene Theorie parat hat:

Erinnerungen werden wach: Zum Beispiel an den Kennedy-Mord am 22. November 1963, als die These vom Alleintärer (sic) Lee Harvey Oswald durch die kriminaltechnische Untersuchung — Stichwort: Magic Bullet — erschüttert wurde. Und vor allem an den sogenannten Selbstmord von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011: Die Patronenhülsen am Tatort weisen darauf hin, dass ein dritter Mann die beiden hingerichtet hat.

Zum Abschluss seines Artikels schreibt Elsässer, kein Witz:

Und nun Münster. Warten wir ab, was die weiteren Ermittlungen bringen. COMPACT wird nicht vorab wilde Theorien in die Welt setzen.

Die große Auflagenlüge der “Lügenpresse”-Rufer

Auf ihrer Titelseite verkündete die “Bild”-Zeitung am 1. August empört:

Ausriss Bild-Titelseite - Die große Abschiebelüge! In Wahrheit sinken die Ausreisezahlen! Sogar kriminelle Afghanen bleiben bei uns!

Der dazugehörige Artikel beklagt unter anderem, ebenfalls sehr empört, dass von Januar bis Ende Juni 2017 weniger Menschen abgeschoben wurden als im Vorjahreszeitraum. Man kann das auch unaufgeregter aufschreiben. Hier soll es aber nicht um “Bild” gehen, sondern um eine typische Reaktion auf diese Art der Berichterstattung aus einer noch schlimmeren Ecke.

“Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer griff die “Bild”-Schlagzeile auf und nutzte sie zur Eigenwerbung. Sein Magazin hätte all das schon im Frühjahr geschrieben. Wie er und sein Team bereits im Mai die genauen Abschiebezahlen bis Ende Juni kennen konnten, verrät Elsässer nicht. Das ist aber auch gar nicht die Frage:

Die Frage ist: Warum schreibt jetzt auch Bild endlich die Wahrheit, nachdem das Blatt bis vor kurzem den Offene-Grenzen-Wahnsinn mitgemacht hat?

Die Antwort kennt Elsässer auch schon:

Bild steht das Wasser bis zum Hals, Auflage nur noch 1,6 Millionen. Sie wollen ihren lausigen Ruf als Lügenpresse korrigieren…

Wobei er auch eine zweite Antwortmöglichkeit gelten lässt: Dass “Bild” auf Befehl von US-Präsident Donald Trump Angela Merkel im Wahlkampf schaden wolle.

Beschäftigen wir uns aber besser mit der etwas weniger kruden, ersten These. Die Behauptung, dass die veröffentlichte Meinung, insbesondere eine flüchtlingsfreundliche Berichterstattung, der Grund für die Auflagenverluste sei, wird von unterschiedlichen rechten Alternativmedien gerne verbreitet. Bei “Compact” etwa klingt das so:

Oberlehrerhafte Leserbevormundung hat eben seinen Preis. Wie bei allen Etablierten, befindet sich die Auflage des ehemaligen Hamburger Nachrichtenmagazins [“Der Spiegel”] im Sturzflug. […] Gegen den Strom wächst COMPACT in der Zwischenzeit immer mehr.

Oder so:

Vielleicht sollten die deutschen Blätter mal versuchen, Informationen statt Propaganda zu publizieren — vielleicht steigt dann die Auflage wieder.

“Compact” hat auch Peter Bartels, der um 1990 kurzzeitig “Bild”-Chefredakteur war, als Kolumnisten und Kronzeugen engagiert. Er ist der Autor einer als “Enthüllungsbuch” betitelten Krawallschrift gegen “Bild”. Die Zeitung ist ihm nämlich nicht mehr krawallig genug. Für “Compact” recycelt Bartels diese Meinung regelmäßig unter Hinweis auf die gefallene Auflage des Boulevardblatts. Und auch über die Auflagen anderer Tageszeitungen schreibt er, zum Beispiel in seiner Dezember-Kolumne:

Wohin man blickt im Blätterwald — Kahlschlag von der Alpen-Prawda SZ bis zur Antifa-Bibel Taz. Wer hoffte, Muttchen Merkels Schranzen würden nach der Dritten Quartals-Klatsche in Folge endlich begreifen, dass es nicht das Internet ist, das ihnen die Leser abspenstig macht, sondern ausschließlich ihre ignorante Sprach- und Denktyrannei, hoffte vergeblich.

“Compact” äußert die These zum Auflagenschrumpfen zwar besonders laut, ist aber keinesfalls ihr einziger Verfechter.

Bei der “Achse des Guten” erklärt Wolfgang Röhl einen möglichen Stellenabbau bei der “Hamburger Morgenpost” Ende 2016: Die Zeitung habe “besondere Maßstäbe in Sachen Leserfeindlichkeit gesetzt”, nämlich Linksextreme verharmlost und Polizeieinsätze kritisiert. Die angebliche Folge: “Die Auflage der einstmals stolzen SPD-Postille sinkt wie Blei im Hafenbecken.”

Auch der russische Staatssender “RT Deutsch” macht den stetigen Auflagenschwund deutscher Zeitungen immer mal wieder zum Thema, zuletzt etwa im Januar unter der Schlagzeile “Mainstream in Not: Erneut massiver Auflagenschwund bei den Etablierten”. An der Digitalisierung könne das nicht liegen, heißt es dort in Einklang mit “Compact”, schließlich setzten “Der Freitag” und “Junge Freiheit” zuletzt mehr Exemplare ihrer Wochenzeitungen ab.

Die “Junge Freiheit” selbst stellt ihre Auflagengewinne regelmäßig weitgehend unkommentiert den Verlusten der großen Medien entgegen. Einige Leser verstehen das als Wink mit dem Zaunpfahl und interpretieren die Zahlen in den Kommentaren:

Die IndoktrinationsPresse bricht ein! Die FaktenPresse gewinnt.

Oder:

Es erkennen offensichtlich immer mehr Bürger, dass sie von den Systemmedien über Jahrzehnte belogen und betrogen worden sind.

Eine weitere Seite aus der rechten Ecke, die sich um eine feinere Ausdrucksweise als das Hau-Drauf-Blatt “Compact” bemüht, macht bei der Auflagen-Erzählung ebenfalls mit. Roland Tichy schreibt auf seiner Website “Tichys Einblick”, die er selbst ein “liberal-konservatives Meinungsmagazin” nennt, Anfang Juli:

In der Flüchtlingskrise genannten Migrationskrise zerbracht der Nasenring, an dem die Bevölkerung in die Irre geführt wurde. Zu weit klafften Realität und mediale Wirklichkeit auseinander. Das böse Wort von der “Lügenpresse” entstand, der Auflagenschwund nimmt seither immer dramatischere Formen an.

Der Tenor ist, trotz unterschiedlicher Wortwahl, von Elsässer bis Tichy gleich: Die sinkenden Auflagenzahlen seien Folge von falscher Berichterstattung und Lügen. Die Medien schrieben am Leser vorbei. Abokündigungen seien folglich die Strafe für eine zu linke Haltung. Die Leser würden sich nun den rechten Medien zuwenden, da diese vermeintlich die Wahrheit schreiben.

Mal abgesehen davon, dass sich die Wahrheit nicht per Volks- oder Aboabstimmungen ermitteln lässt: Stimmt die These von der durch ideologische Dissonanz bedingten Auflagenkrise überhaupt?

Die wahren Fragmente, aus der sie geschmiedet ist: Die Auflagen der großen gedruckten Tageszeitungen sinken tatsächlich stetig, nicht zuletzt die von “Bild”. Neue Medien am rechten Rand wurde in den vergangenen Jahren mehr Aufmerksamkeit zuteil. Und in den Kommentaren zu Onlineartikeln proklamieren regelmäßig angeblich jahrelange Abonnenten ihre Kündigung.

Doch gibt es zwischen diesen Beobachtungen auch einen Zusammenhang? Was sagen die Zahlen?

Zunächst misst die “Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern” (“IVW”) lediglich die Auflagenzahl ihrer Mitglieder — die Gründe für eine Änderung der Verkaufszahlen erforscht sie nicht. Allein aufgrund der “IVW”-Zahlen lässt sich nicht argumentieren, dass explizit die Berichterstattung zur Flüchtlingsbewegung ab 2015 zum Auflagenrückgang geführt hätte.

Die verkaufte Auflage aller Tageszeitungen zusammengerechnet hat sich seit 1995 beinahe halbiert:

Grafik, die die Auflagenentwicklung aller Tageszeitungen gesamt seit 1992 (29,4 Millionen verkaufte Exemplare) bis 2017 (16,7 Millionen verkaufte Exemplare) zeigt
(Draufklicken für größere Version.)

Vor dieser Zeit kann man die “IVW”-Zahlen nur bedingt vergleichen, da die Anmeldung von Zeitungen aus der ehemaligen DDR für einen großen Zuwachs der statistischen Auflage sorgte. Wie zu sehen ist, sinkt die Gesamtauflage deutscher Tageszeitungen bereits 20 Jahre vor 2015 ziemlich stetig. So auch etwa zwischen 2005 und 2010, einer Zeit mit sehr niedrigen Asylantragszahlen. Der Schwund nimmt auch nicht “immer dramatischere Formen” an, wie Roland Tichy meint, sondern ist recht konstant. Von dem Einbruch der Auflagen sind zudem beinahe alle Zeitungen, ungeachtet ihrer politischen Ausrichtungen, betroffen.

Und was hat es mit dem Erfolg neuer rechter Medien auf sich? Die “Junge Freiheit” etwa hat ihre wöchentliche Auflage seit 2008 auf rund 30.000 Exemplare verdoppelt. Anders als bei den Tageszeitungen ist der Auflagenverlust der Wochenzeitungen insgesamt weniger stark. “Die Zeit” etwa konnte ihre Printauflage bei ungefähr 500.000 Stück halten. Bis die “Junge Freiheit” der “Zeit” als führende Wochenzeitung den Rang abläuft, dürfte es noch eine Weile dauern:

Grafik, die die Auflagenentwicklung aller Wochenzeitungen gesamt seit 2008 (1,99 Millionen verkaufte Exemplare) bis 2017 (1,71 Millionen verkaufte Exemplare) zeigt, sowie die Auflagenentwicklung der Zeit (2008 485223 verkaufte Exemplare, 2017 504420 verkaufte Exemplare) und der Jungen Freiheit (2008 15705 verkaufte Exemplare, 2017 30316 verkaufte Exemplare)
(Draufklicken für größere Version.)

“Tichys Einblick” gibt es seit Oktober 2016 auch als gedrucktes Monatsmagazin. Im ersten Quartal 2017 brachte dieses es auf 13.978 Exemplare im Einzelverkauf und Abo, im zweiten Quartal auf 10.414. Da man für einen fairen Vergleich letztlich die gleichen Quartale aus einem anderen Jahr bräuchte, lässt sich hier noch keine Tendenz ablesen. Wirklich hoch sind die Verkaufszahlen allerdings nicht. Sollte Roland Tichys Behauptung stimmen, die Auflage sei an die Wahrheit des Inhalts gebunden, stünde es um sein eigenes Printprodukt nicht besonders gut.

Und “Compact”? Elsässers Magazin hat überhaupt keine “IVW”-Auflage. Die “IVW” zeichnet nämlich nur die Titel aus, die bei ihr Mitglied sind. Sie tut dies auch, damit Anzeigenkunden besser abschätzen können, ob ihr Geld gut investiert ist.

Niemand muss sein Magazin oder seine Zeitung bei der “IVW” anmelden. Dann gibt es allerdings auch niemanden, der unabhängig überprüft, ob die genannten Auflagenzahlen der Wahrheit entsprechen. “Compact” behauptet, eine gedruckte Auflage von etwa 80.000 Exemplaren zu haben, von der die Hälfte auch verkauft werde. Ob das grundsätzlich stimmt, wie viele der Magazine zum vollen Preis verkauft wurden oder — wie kürzlich geschehen — als “Pegida”-Aktionsabo verschenkt wurden: von außen ist das nicht zu beurteilen.

Wären da noch “RT Deutsch” und die “Achse des Guten”. Die haben ebenfalls keine “IVW”-Auflage, sie liefern schließlich kein Printprodukt. Das gilt natürlich ebenso für diverse Blogs, die sich der “Lügenpresse”-Schelte gerne anschließen.

Die Printauflage ist eben doch nicht alles — was die “Lügenpresse”-Rufer nicht daran hindert, ausschließlich mit dieser Zahl zu argumentieren. Verweisen die Verlage bei der Erklärung für ihren Auflagenverlust auf die Online-Konkurrenz, tun “Compact” und all die anderen das gerne als Gejammer ab. Das Argument passt nicht zu ihrer Erzählung, an der Printkrise sei alleine die inhaltliche Ausrichtung Schuld.

Im digitalen Bereich ergibt sich ein völlig anderes Bild. Dort wuchs beispielsweise Bild.de laut “IVW”-Messung von etwa 47,9 Millionen Visits im Juli 2007 auf 354,7 Millionen Visits zehn Jahre danach. Die “Junge Freiheit” lag bei dieser Kennzahl im Juli dieses Jahres bei rund 2,2 Millionen, “Tichys Einblick” bei 1,7 Millionen.

Visits sind einzelne Besuche innerhalb einer bestimmten Zeitspanne (bei der “IVW” 30 Minuten). Wer also mehrmals im Monat eine Seite aufruft, wird auch mehrmals gezählt. Mit Abonnentenzahlen oder einzelnen Lesern ist diese Größe daher nicht gleichzusetzen.

Eine andere wichtige Ziffer sind die Unique User, die einzelnen Nutzer, die jeweils mindestens einmal im Monat ein digitales Angebot besuchen. Bild.de hatte im Juli laut “Arbeitsgemeinschaft Online Forschung” (“AGOF”) 21,87 Millionen Unique User, die einzige gemessene Website der Ankläger, “Tichys Einblick”, 410.000.

Mit einem Blick auf die Online-Zahlen lässt sich nicht argumentieren, dass es den großen Medienmarken generell an Aufmerksamkeit mangele. Genauso sind die Publikationen vom rechten Rand zahlenmäßig noch lange keine große Konkurrenz für sie.

“Compact”, die “Achse des Guten” und “RT Deutsch” tauchen übrigens weder in der “IVW”-Ausweisung für digitale Medien noch bei den “AGOF”-Zahlen auf. Auch hier wird nur gezählt, wer sich anmeldet.

“Compact” behauptete in einer Broschüre aus dem Jahr 2014, “5.000 User vertrauen tagtäglich der unabhängige [sic] Berichterstattung” der Redaktion. Diese Zahl lässt sich nicht überprüfen. Genauso wenig kann man die Gedanken der angeblichen User lesen, um zu verifizieren, ob sie “Compact” tatsächlich “vertrauen” oder nur aus Versehen auf der Seite gelandet sind.

Die These, den etablierten Medien laufe das Publikum davon, weil es deren vermeintliche Lügen durchschaue, ist anhand von Auflagenzahlen und Reichweitenmessungen nicht belegbar. Sie ist eine PR-Behauptung der neuen rechten Medien, sicher auch an die eigene Leserschaft gerichtet, damit diese sich auf der Gewinnerseite wähnen darf. Wer diesen Parolen trotz widersprüchlicher Faktenlage glaubt, folgt Scheinriesen. Obwohl sie selbst so gerne mit den Zahlen argumentieren, nehmen die meisten dieser Blogs, Websites und Magazine nicht an den unabhängigen Erhebungen teil. Gerade denen, die häufig über die angebliche Unaufrichtigkeit der “Systempresse” poltern, mangelt es hier an Transparenz.

Weihnachtsmärchen von den “Lügenpresse”-Rufern

Wenn “Bild”, wie vor einigen Tagen, 32 Zeilen darüber schreibt, dass in Deutschland “aus Rücksicht auf Muslime die christlichen Wurzeln des Weihnachtsfestes unterschlagen” würden, ist das keinesfalls nur in der Theorie Futter für rechte Hetze.

Das “Compact”-Magazin hat in seiner Dezember-Ausgabe auf drei Seiten eine ganz ähnliche Geschichte zum Thema veröffentlicht. Weil der Grundton von “Compact” aber noch ein bisschen hysterischer ist als der von “Bild”, schreibt man dort über einen angeblichen “Krieg gegen Weihnachten”:

Martin Müller-Mertens, Chef vom Dienst bei “Compact”, probiert sich als Science-Fiction-Autor und denkt sich für seinen Artikeleinstieg folgende Weihnachtsgeschichte im Berlin des Jahres 2030 aus:

Leise rieselt der Schnee auf die dunklen Straßen. Eilig hasten Menschen nach Hause. Die Zeit der Weihnachtsbescherung ist längst angebrochen. Doch seit die Bundesregierung den Heiligen Abend im Austausch für das islamische Zuckerfest zum vollen Arbeitstag erklärte, bleibt kaum mehr Muße für die einst besinnlichen Stunden. Nur die allgegenwärtigen Wintermärkte lassen erahnen, was der Tag früher bedeutete. Doch an diesem Abend kommen kaum Besucher zu den Buden mit türkischem Tee und Halal-Speisen. Der Schein des Mondes wirft den Schatten eines Minaretts auf einsam wachende Märchenfiguren aus Tausendundeiner Nacht.

Er findet das wohl selbst etwas übertrieben und schreibt, seine Geschichte lese sich “heute noch wie eine Dystopie pessimistischer Untergangspropheten”. Ein seltener Moment der Selbsterkenntnis des “Compact”-Autoren, der ihn aber nicht daran hindert, gleich prophetisch weiterzumachen: In einigen Jahren könne sein Szenario ernsthaft diskutiert werden, es laufe schließlich ein “Feldzug gegen das Christuskind”. Und das auch noch im Verborgenen. Bei “Compact” mag man Verschwörungstheorien.

Die vermeintliche Heimlichtuerei der politisch Korrekten, die “per Salamitaktik” Weihnachten “aus den Kinderherzen vertreiben” wollten, hindert den Autoren nicht daran, lauter Fälle zur Unterstützung seiner These zu finden, die in der Presse öffentlich geworden sind. Da wären:

  • Die Wiener Kindergärtnerin

Eine Kindergärtnerin aus Wien soll entlassen worden sein, weil sie Kinder über “die Bedeutung des christlichen Weihnachtsfests aufgeklärt” habe. Die Geschichte geht auf einen Bericht der “Kronen Zeitung” zurück, des größten österreichischen Boulevardblatts.

“Kobuk”, das lesenswerte Medienwatchblog des Publizistikinstituts der Uni Wien, hat die Geschichte bereits vor über einem Jahr nachrecherchiert. Ergebnis: Die “Kronen Zeitung” zeige ein verzerrtes Bild, indem sie nur einen kleinen Ausschnitt eines Protokolls zitiere, das insgesamt nahelege, dass die Frau eine allgemein unkooperativ arbeitende Missionarin gewesen sei.

  • Hausverbot für den Nikolaus

Da Wien nun als garstiger Grinch etabliert ist, behauptet “Compact”, dass es dort auch noch ein Besuchsverbot für den Nikolaus in Kindergärten gebe.

Richtig ist, dass 2006 der damalige Vizebürgermeister keine Nikolaus-Agenturen mehr beauftragen wollte, da diese die Kinder teils erschreckt haben sollen. Stattdessen sollten die Pädagogen oder die Kindergartenkinder selbst in die Rolle des Nikolaus’ schlüpfen. News.at hat bereits 2013 darauf hingewiesen, dass seit einiger Zeit alle Jahre wieder das gleiche Weihnachtsspiel in Wien aufgeführt werde: Die FPÖ behauptet, die Stadtregierung wolle Weihnachten verbieten; die regierende SPÖ antwortet, dass es kein Verbot der Nikolausfeiern gebe. Das geht bis heute so. Hier die aktuelle Antwort im Blog des SPÖ-Parlamentsklubs.

  • Kita in Kassel

Irgendwie muss Martin Müller-Mertens ja noch die Brücke zu seiner Wahnidee eines weihnachtslosen Deutschlands schlagen. Darum ein Ortswechsel von Wien zur städtischen Kindertagesstätte Sara-Nussbaum-Haus in Kassel.

Dort solle es laut Müller-Mertens kein Weihnachtsfest geben, der Grund sei “offensichtlich vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Islam.” Allerdings stimmt die Meldung, die auch “Bild” verbreitet, so nicht. An Weihnachten hat die Kita immer geschlossen, Nikolaus wurde gefeiert.

  • Schulen in Breisgau-Hochschwarzwald

Der “Compact”-Autor zieht auch andere Kleinigkeiten für seine falsche Beweisführung heran: Etwa dass das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald 2014 aus Brandschutzgründen seinen Schulen verboten hatte, Weihnachtsbäume aufzustellen.

Ein kurzer Anruf bei der Pressestelle des Landratsamts genügt, um zu erfahren, dass man in den entsprechenden Schulen nach wie vor Weihnachten feiere und es auch keine weiteren Verbote von weihnachtlicher Dekoration gebe, etwa von Adventskränzen. Den ziemlich harmlosen Kontext hätte Martin Müller-Mertens aber auch einfach nachlesen können: Lokale Medien berichteten sehr ausführlich über die Provinzposse.

  • Wintermarkt in Berlin-Kreuzberg

Der “Compact”-CvD erzählt dann noch das alte Weihnachtsmärchen, das BILDBlog-Leser schon lange kennen:

Auch aus dem öffentlichen Raum soll die Feier von Christi Geburt verdrängt werden — selbst dort, wo sie weitgehend zum säkularen Freizeitspaß geworden ist. Den Vorreiter gab der Berliner Multikulti-Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Auf öffentlichem Raum untersagte eine Mehrheit aus Grünen, Linken und Piraten 2013 Feste mit christlichem Bezug.

Nein, das haben die Parteien nicht. “Compact” ist auf eine drei Jahre alte falsche Schlagzeile aus der “B.Z.” reingefallen, die das Magazin selbst auch noch einmal abdruckt:

Wir haben über die Geschichte bereits gebloggt, als sie vor zwei Jahren erneut von “Bild am Sonntag” aufgegriffen wurde: Dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg war schon damals völlig egal, wie die Veranstalter ihre Weihnachts-, Winter- oder Wasauchimmermärkte nennen. Auf eine erneute Nachfrage von uns antwortete der zuständige Stadtrat, dass “das Bezirksamt stets offen für alle Religionen” sei. Es habe auch keine Anweisung seitens des Amtes gegeben, “die Weihnachtsmärkte im Bezirk in ‘Wintermärkte’ umzubenennen”.

“Bild” hatte diese Ente ebenfalls kürzlich wieder aufgegriffen. Wie schon bei der falschen Meldung der “Kronen Zeitung” kehrt der Unsinn, den Boulevardmedien irgendwann mal in aufregende Schlagzeilen umwandelten, nun bei “Compact” als faktenresistenter Zombie zurück. “Compact” widmet dieser Stimmungsmache gegen “Islamisierer und linksgrüne Kirchenhasser” allerdings nicht, wie die Boulevardblätter, nur ein paar Zeilen und eine große Überschrift, sondern steigert sich auf drei Seiten in eine Verschwörungstheorie hinein.

Das Magazin liefert auch gleich die Bilder und Bräuche mit, die es zu erhalten gelte. In der Rubrik “Leben”, in der “Compact” regelmäßig rechte Lifestyle-Geschichten präsentiert, schreibt Klaus Faißner romantisch verklärt über den Krampus im ländlichen Österreich. Dort könne man “noch richtig deutsche Bräuche” erleben, “leichter als bei uns” sogar:

Von wem angeblich Gefahr ausgehe, sagt “Compact” auch hier:

Probleme hat der Nikolaus nur in Städten mit hohem Ausländeranteil und sozialistischen Bürgermeistern.

Dass es innerhalb des Christentums durchaus unterschiedliche Traditionen zur Weihnachtszeit gibt, die sich im Lauf der langen Geschichte auch schon verändert haben, kann für das Magazin jedenfalls keine Erklärung sein. Das ganze Geschreibe vom Nikolaus und von der Christlichkeit ist für “Compact” aber ohnehin nur ein Feigenblatt. Im nächsten Artikel geht es nämlich schon um eine “Germanische Weihnacht”:

Pia Lobmeyer schlägt den Bogen von heidnischen Wintersonnenwende-Ritualen zu Weihnachtsbräuchen, die erst viel später entstanden sind. Vor allem hat es ihr der Weihnachtsbaum angetan, der erst im 18. Jahrhundert richtig populär wurde, als sich der christliche Glaube im Gebiet des heutigen Deutschlands schon längst ausgebreitet hatte.

Aber noch einmal zurück zu Martin Müller-Mertens’ Märchen über den angeblichen “Krieg gegen Weihnachten”. Der Artikel wird unter anderem mit dem Nürnberger Christkind bebildert, das in einem Kindergarten Geschichten vorliest:

Bildunterschrift: “Immer mehr Kindergärten verzichten im Advent auf christliche Lieder und Bräuche.”

Das sieht zunächst nur nach einer widersprüchlichen Text-Bild-Schere aus, weil das Christkind auf dem Foto ja genau das tut, was es laut Bildzeile nicht mehr geben soll. Die Fotowahl ist aber, wohl eher unfreiwillig, aus noch einem anderen Grund interessant: Das Christkind an sich ist ursprünglich eine protestantische Erfindung. Das Nürnberger Christkind gibt es aber erst seit 1933. Es ist keine alte christliche Tradition — es ist eine Erfindung der Nazis. Und ein gutes Beispiel dafür, wie völkische Erzählungen einer Bedrohung des Weihnachtsfestes damals wie heute funktionieren.

In einem Prolog, den in der Zeit des Nationalsozialismus eine Schauspielerin im Engelskostüm bei einer auf sakral aufgemachten Inszenierung vortrug, behauptet das Christkind, es sei aus der Stadt vertrieben worden. Aber jetzt, da Deutschland “erwacht” sei — gemeint ist: jetzt, nachdem Hitler an der Macht ist –, da sei der alte Brauch wieder zurückgekehrt und die Kinder könnten sich wieder freuen, wie sie sich früher einmal gefreut hätten.

Später wurde dieser Prolog politisch entschärft. Enthalten sind aber bereits die Elemente, mit denen Boulevardzeitungen heute reißerische Schlagzeilen machen, und mit denen die Neue Rechte auch heute wieder Weihnachten in ihrem Sinne politisieren will.

“Compact” begeht Asylbetrug

Asylthemen haben eigentlich einen Stammplatz auf dem Cover des “Compact”-Magazins. Im Oktober verkündete das Rechtsaußen-Blatt auf seiner Titelseite beispielsweise eine “Invasion aus Afrika”. In der aktuellen November-Ausgabe kommt Asyl im Vergleich zu den Vormonaten hingegen nur am Rande vor. Vorne auf dem Titel geht es um einen angeblichen “Angriff auf deutsche Sparer”, den Kampf der “Presstituierten (sic) gegen Trump” und Andreas Gabalier (“Alpen-Elvis” — “Der Heimat-Rocker”). Erst im Heftinnern findet man die übliche Hetze gegen Flüchtlinge. Ein genauerer Blick auf Martin Müller-Mertens’ Artikel zur “heimlichen Kolonisierung” lohnt sich aber.

Die amtliche Asylstatistik sei falsch, so Müller-Mertens’ These, weil sie den Familiennachzug verschweige. “Unter diesem Schwindeletikett werden in den nächsten Jahren Millionen Muslime zu uns geholt — auch auf Druck der EU”, heißt es im Teaser. Ob damit zwei Millionen Muslime in den nächsten zehn Jahren oder zehn Millionen in zwei Jahren gemeint sind, verrät Müller-Mertens nicht. Stattdessen peitscht er sein Publikum mit Schlagworten der extremen Rechten auf:

Rund zwei Jahre nach Beginn der Siedlerinvasion staut sich die nächste Welle von Fremden gerade auf. Nach Abschluss ihrer Aufnahmeverfahren dürfen sogenannte Flüchtlinge Teile ihrer Familien legal nach Deutschland holen — und zwar auf direktem Weg. Quasi unbemerkt, vorbei an jeder Asylstatistik, führt sie ihr Weg in Angela Merkels gelobtes Land.

Er stütz seine Argumentation auf eine Kleine Anfrage der Grünen an die Bundesregierung (PDF). Den politischen Hintergrund der Anfrage nennt der “Compact”-Autor nicht: Die Grünen fragten nach der Datengrundlage für die Behauptung von Teilen der Bundesregierung, es würden demnächst besonders viele Flüchtlinge über den Familiennachzug nach Deutschland kommen.

Zu Teilaspekten der Anfrage lieferte die Bundesregierung keine Daten, “da für § 29 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) kein separater Speichersachverhalt zur Verfügung steht” — die einzige Passage des langen, 20-seitigen Antwortschreibens, die “Compact” zitiert. Übersetzt heißt das: Beamte können im Datensatz des Ausländerzentralregisters kein Häkchen für einen Aufenthaltstitel nach diesem speziellen Paragraphen 29 setzen, er wird statistisch also nicht erfasst.

Martin Müller-Mertens fragt: “Kennen die Behörden tatsächlich keine Zahlen — oder sollen diese vor der Öffentlichkeit verschleiert werden?” Eine Antwort auf die Frage spart sich der Autor, suggeriert doch allein die Überschrift des Artikels (“Die heimliche Kolonisierung”), dass Letzteres stimme.

Wer unsere Serie “Mut zur Wirrheit” kennt, kann ahnen, was jetzt kommt. Die Antwort auf die Frage von “Compact” lautet: Natürlich kennen die Behörden entsprechende Zahlen. Sie machen sie auch regelmäßig öffentlich.

Was stimmt: Fälle nach Paragraph 29 des Aufenthaltsgesetztes sind im Ausländerzentralregister tatsächlich nicht eigens aufgeführt. Der Paragraph regelt die allgemeinen Grundsätze des “Familiennachzugs zu Ausländern”. Die Beamten der Ausländerbehörden haben trotzdem einige Felder, bei denen sie Häkchen zum Familiennachzug im Sinne des Aufenthaltsgesetzes setzen können: der Ehegattennachzug nach Paragraph 30, der Kindesnachzug nach Paragraph 32 sowie der Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger nach Paragraph 36 wird im Ausländerzentralregister einzeln erfasst (PDF, ab Seite 33).

“Compact” ist das nicht aufgefallen oder egal, weil es nicht zur Linie des Blattes passt. Dabei nennt Autor Martin Müller-Mertens sogar selbst Zahlen, die es laut ihm ja eigentlich gar nicht geben dürfte:

Stellten deutsche Botschaften im Jahre 2005 insgesamt noch 80.000 Visa für Familienangehörige aus, waren es von Januar bis Oktober 2015 nur 49.000.

Sein Artikel basiert zu großer Wahrscheinlichkeit auf dem “Wikipedia”-Eintrag zur Familienzusammenführung. Dort findet man jedenfalls die von ihm genannten Zahlen, mit Verweis auf zwei Texte der “Zeit” beziehungsweise von “Zeit Online”. Die erste Zahl, die “Wikipedia” als Fakt präsentiert, ist eine vorläufige Schätzung aus dem Jahr 2006 — und somit nicht, wie von “Compact” behauptet, die Zahl der tatsächlich ausgestellten Visa.

Diese findet man im Migrationsbericht von 2014 (PDF, Seite 37): Für 2005 sind dort genau 53.213 Visa zum Zweck des Ehegatten- und Familiennachzugs ausgewiesen. Auch die 49.000 Visa für die ersten neun Monate des Jahres 2015 findet man im Migrationsbericht (Seite 10). Und noch mehr:

Auch das Ausländerzentralregister (AZR) bestätigt einen Anstieg des Familiennachzugs für das erste Halbjahr 2015 um 22% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Es gibt also sehr wohl Zahlen zum Familiennachzug, sogar im Ausländerzentralregister. Mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das das Zentralregister betreibt, und dem Auswärtigen Amt, das die Visastatistik erstellt, gibt es somit zwei Institutionen, die jeweils eigene Zahlen zum Familiennachzug kennen — zwei mehr, als “Compact” seinen Lesern nennt.

Und was ist nun mit der “Compact”-Prognose, nach der “in den nächsten Jahren Millionen Muslime zu uns geholt” würden? An dieser Stelle bietet sich ein Rückblick an: Addiert man die Zahlen des Migrationsberichts zum Familiennachzug von 2005 bis 2014, kommt man nicht mal auf eine halbe Million Menschen in den vergangenen zehn Jahren. Wohlgemerkt: Menschen insgesamt, also nicht nur die Familien von muslimischen Flüchtlingen, sondern etwa auch die ausländischen Familien deutscher Staatsbürger, Menschen aus vielen Ursprungsländern und aller Religionen.

Wenn, wie “Compact” behauptet, demnächst tatsächlich “Millionen Muslime” so nach Deutschland kommen sollten, müsste sich also die Zahl der Familiennachzügler vervielfachen und nicht nur um 22 Prozent steigen. Martin Müller-Mertens glaubt auch schon zu wissen, wie es zu so einem Anstieg kommen werde:

Dank einer weitgehend unbekannten Neuregelung vom August 2015 können Asylanten “einen Antrag auf Familiennachzug stellen, auch wenn sie nicht ausreichend Wohnraum und einen gesicherten Lebensunterhalt vorweisen können”, freute sich seinerzeit der Flüchtlingsrat Bayern in einem Merkblatt.

Die Regelung ist so “unbekannt”, dass sie nur im gleichen “Wikipedia”-Artikel zu finden ist, aus dem der Autor vermutlich seine Zahlen zieht. Als Quelle dient dort das von ihm genannte Merkblatt des Bayerischen Flüchtlingsrats (PDF). Dass sich dieser darin freue, ist Müller-Mertens Interpretation einer nüchternen Erklärung in Form einer kurzen FAQ.

Anders als von “Compact” behauptet, bestand die Neuregelung auch nicht darin, dass alle “Asylanten” ohne gesicherten Lebensunterhalt den Antrag auf Familiennachzug stellen können. Anerkannte Flüchtlinge konnten das beispielsweise auch schon vorher. Die genannte Neuerung bezog sich nur auf die sogenannten “subsidiär Schutzberechtigten”, die nicht als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt werden, aber auch nicht abgeschoben werden, weil ihnen in ihren Heimatländern Schaden droht. Sie konnten den Antrag auf Familiennachzug zudem nur für kurze Zeit stellen: Zum 1. August 2015 wurde der Familiennachzug für sie erleichtert, bis er im Januar 2016 für zwei Jahre ausgesetzt wurde.

“Compact”-Autor Müller-Mertens meint wohl diese Verschärfung des Asylrechts Anfang des Jahres, wenn er in seinem Artikel von einer “nur für eine Minderheit relevanten Zwei-Jahres-Sperre” schreibt. “Minderheit” trifft es nun auch nicht mehr ganz, denn im Juli 2016 wurde bei fast jedem dritten Asylantrag nur noch der subsidiäre Schutz bewilligt, berichtet etwa “Spiegel Online”.

Die Redaktion von “Compact” stellt nicht nur falsche Behauptungen auf, sondern berichtet treffsicher das genaue Gegenteil der Faktenlage. Dahinter dürften keine Fehler oder einfach nur schlampige Recherche stecken. Die “Lügenpresse”-Rufer von “Compact” treiben so ihre politische Agenda voran, sie machen Propaganda.

Allein die Synonyme, die das Magazin für geflohene Menschen verwendet, zeigen, wo es politisch zu verorten ist. Es nannte Flüchtlinge in den letzten Ausgaben etwa “Asylforderer”, “Invasoren”, “Siedler”, “Vaterlandsverräter” oder “Rapefugees”. Es finde eine “Islamisierung” statt, eine “Siedlerinvasion”, es herrsche “Kolonialismus”, bei dem Deutschland die Kolonie sei, es gebe eine “schwarze Flut” oder gleich einen “Asyl-Tsunami”. Es fällt auch das alte NPD-Schlagwort der “Völkervermischung”. Wer nicht in diesem Stil gegen Flüchtlinge hetzt, ist laut “Compact” Teil eines “Gutmenschenclubs”, der “Multikulti-Religion”, der “Vielfaltlobby” oder gleich der “Refugee-welcome-Sturmtruppen” und betreibe wahlweise “linksgrünen Tugendterror” oder “Gesinnungsterror”.

Bei der Bebilderung des Magazins gehört die Agitation ebenfalls zum festen Programm. Nur ein besonders dreistes Beispiel aus der April-Ausgabe, das neben einem Artikel zu finden ist, der sexuelle Übergriffe von Asylbewerbern auf junge Mädchen zum “Alltag in Deutschland” erklärt:

Die Illustration ist natürlich keine Anleitung zur Vergewaltigung. Sie stammt aus einer internationalen Kampagne zur sexuellen Aufklärung, die sich an alle richtet, die diese nötig haben, und die sich auch gegen jegliche Form des sexuellen Missbrauchs ausspricht.

“Compact” behauptet von sich selbst, weder rechtsradikal noch ausländerfeindlich zu sein. Die Redaktion sieht sich als Opfer von Verleumdungskampagnen und Zensurbemühungen. Ihre Zeitschrift befindet sich weiterhin deutschlandweit im Vertrieb und verkauft — nach eigenen Angaben — monatlich 41.000 Exemplare.

“Compact” könnte es besser wissen

Für seine Oktoberausgabe hat sich das “Compact”-Magazin mal wieder redlich Mühe gegeben, die Spitzenposition unter den Hetz- und Angstmacherblättern zu verteidigen:

Es gibt das volle Programm: Drohkulisse, AfD-Interviews und als Gastautor Martin Luther. Interessant ist vor allem aber das zwölfseitige Dossier, das “Compact” einem Teilbereich seines Lieblingsthemas widmet, den “Frauen in den Lügenmedien”. Eingeleitet wird es mit einer Fotomontage, die die “NDR”-Journalistin Anja Reschke als auf der Kanonenkugel reitenden Baron Münchhausen zeigt. Der Titel des Aufmachers: “Anja Reschke weiß alles besser”.

Außerdem bietet das Dossier:

  • “Wenn Journalistinnen baden gehen” (über die zahlreichen Burkini-Reportagen)
  • “Das Schweigen der Emanzen” (seichte Frauenmagazine wie “Brigitte” äußerten sich überraschenderweise weniger polarisierend zur Kölner Silvesternacht als die Feministin Alice Schwarzer)
  • “Das ist Genickschuss-Journalismus” (Ex-“Bild”-Chef Peter Bartels erzählt den gleichen Unsinn, den er schon in seinem beim “Kopp”-Verlag erschienenen Buch erzählt hat, dieses Mal aber am Beispiel von “Bild”-Chefin Tanit Koch)
  • “Ideologie knallt auf Realität” (die “Bundeszentrale für politische Bildung” wollte den Text einer Journalistin zur Kölner Silvesternacht nicht, die “Emma” hat ihn dann gedruckt)

Über Anja Reschke hat Hans-Hermann Gockel geschrieben. Der 62-Jährige hat mal beim Privatfernsehen gearbeitet, jetzt schreibt er für “Compact” und “Junge Freiheit”, spricht auf AfD-Veranstaltungen und gibt in seinem eigenen Verlag seine eigenen Bücher raus, in denen er den politischen Eliten “Gedankenfeigheit” vorwirft. In “Compact” findet er nun den Gedankenmut zu solchen Worten:

Das Wort “Lügenpresse” kommt nicht von ungefähr. Der Begriff “Lückenpresse” würde es vielleicht noch besser treffen. Man verschweigt. Man verharmlost. Man verdreht, ganz im Sinne der Willkommens-Politik.

Die Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim “NDR”, Anja Reschke, habe in “dieser elitären Welt der selbstherrlichen Besserwisser ihren festen Platz”:

Reschke ist eine Kollegin, die man schnell durchschaut. Flüchtlinge sind traditionell die Guten. Und die Rechten sind die Bösen. Deshalb weiß man bei ihren Sendungen vorher schon, was am Ende herauskommt. Bedauerlich jedoch, dass dafür immer öfter das Motto der Maurer und Zimmerleute herhalten muss: Was nicht passt, wird passend gemacht.

Für seine These zimmert sich Gockel zurecht, warum das von Reschke moderierte Magazin “Panorama” ein manipulatives Machwerk sein soll. Vor allem stört er sich an einem Beitrag vom 28. Juli, der der Frage nachgeht, ob es in deutschen Freibädern vermehrt zu sexuellen Belästigungen durch Flüchtlinge komme. Er wirft der Sendung vor, wichtige Fakten zu unterschlagen.

Gockels erstes Beispiel ist eine Mail der Düsseldorfer Polizei, in der es um einen “enormen Anstieg” der Sexualstraftaten gehe. Dass es sich dabei letztendlich nur um eine ziemlich aufgebauschte Geschichte der “Bild”-Zeitung handelt, ist Gockel keine Erwähnung wert. Wir hatten über den “Sex-Mob”-Artikel berichtet, und selbst “Bild” lieferte Zahlen nach, die die Geschichte wieder erdeten. Hans-Hermann Gockel unterschlägt, dass es im laufenden Jahr bis Anfang Juli in ganz Düsseldorf — nicht nur in Schwimm- und Freibädern — gerade mal acht Anzeigen in Bezug auf sexuelle Belästigung oder Übergriffe gab. Stattdessen behauptet er, “Panorama” erwähne die Fakten “mit keiner Silbe”.

Doch nicht mal das stimmt. Im Beitrag werden Zeitungsausrisse zu Meldungen über sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen in Schwimmbädern gezeigt, unter anderem auch die “Bild”-Schlagzeile zum “Sex-Mob-Alarm”:

Was “Panorama” zurecht nicht macht: die falsche Panik-Berichterstattung von “Bild” einfach zu übernehmen. Stattdessen fragt der Beitragssprecher nur: “Gibt es Anlass für den von ‘Bild’ so reißerisch ausgerufenen ‘Sex-Mob-Alarm im Schwimmbad’ oder ist eigentlich alles ganz normal?” Die “Panorama”-Redaktion bezeichnet ihren Beitrag selbst vorsichtig als “Versuch einer Bestandsaufnahme.”

Hans-Hermann Gockel zählt im Artikel einzelne Fälle von sexueller Belästigung auf, bei denen Asylbewerber tatverdächtig seien. “Die Liste der Übergriffe in NRW ist lang. Sehr lang”, schreibt Gockel, verrät aber nicht, wie lang sie nun genau ist, sondern nur: “In Panorama davon kein Wort …” Er selbst verliert dabei kein Wort darüber, dass in dem “Panorama”-Beitrag eine Mutter davon erzählt, dass ihre elfjährigen Töchter von einem Flüchtling sexuell belästigt worden seien.

Um weiter zu suggerieren, dass sexuelle Übergriffe besonders durch Flüchtlinge begangen würden, druckt “Compact” diese Grafik neben dem Artikel:

Wir haben keine Ahnung, woher diese Statistik stammt.* Ganz sicher stammt sie aber nicht, wie von “Compact” angegeben, vom “Pew Reserch Center” (was ein Schreibfehler ist, denn eigentlich heißt das Forschungszentrum “Pew Research Center”). Für das amerikanische Meinungsforschungsinstitut wäre es ein völlig neues Feld, wenn es auf einmal deutsche Kriminalitätsstatistiken anfertigte. Diese erstellt hierzulande in der Regel das Bundeskriminalamt. Die Tatverdächtigen der “Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung” sind in einer Statistik (PDF, Seite 70) aufgeführt, allerdings nur in den Unterkategorien “Tatverdächtige insgesamt”, “nichtdeutsche” und “Zuwanderer”.

Wie “Compact” auf die Unterteilung nach “Volksgruppen” kommt, ist nicht nachvollziehbar. “Volksgruppe” ist kein Unterscheidungskriterium offizieller Statistiken. Wenn überhaupt, würden diese von Staatsangehörigkeiten sprechen.

Von der fragwürdigen Quellenangabe mal abgesehen, präsentiert “Compact” die Zahlen auf spezielle Art und Weise und ohne jeglichen Zusammenhang. Gezeigt werden Tatverdächtige pro 10.000 Mitglieder einer Nationalität. Es handelt sich also um Promillewerte, die “Compact” allerdings deutlich größer wirken lässt. Auf die 36 tatverdächtigen — also nicht verurteilten — Algerier kommen 9964, die nicht verdächtigt werden. Was außerdem unter den Tisch fällt: In Deutschland lebten 2015 laut “Statistischem Bundesamt” (PDF, Seite 39) nur 20.505 Algerier. Das sind weniger als die absolute Zahl deutscher Tatverdächtiger bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, von denen es laut BKA vergangenes Jahr 25.487 gab. Für eine “Multikulti-Vergewaltigungswelle”, die “Compact” herbeischreiben will, würden die Zahlen also noch nicht einmal dann genügen, wenn sie denn aus einer seriösen Quelle stammten.

Zurück zu Hans-Hermann Gockel. Der behauptet, dass “Panorama” auch “die Tatsache, dass die Bäder an Rhein und Ruhr ihr Sicherheitspersonal in diesem Jahr verstärken mussten”, verschweige. Das stimmt sogar. Die Bäder an diesen beiden Flüssen kommen nicht vor. Mitglieder des “Panorama”-Teams haben nämlich stattdessen ein Freibad besucht, das an einem etwas weniger prominenten Fluss liegt, an der Hunte bei Oldenburg. Sie finden auch dort einen Zeugen dafür, dass es inzwischen mehr Sicherheitsleute in Schwimmbädern gibt. Das wiederum verschweigt nun Gockel, vielleicht auch deshalb, weil der Zeuge von “Panorama” der “Compact”-These von der Vergewaltigungswelle widerspricht.

Abgesehen von dem konkreten “Panorama”-Beitrag wirft Hans-Hermann Gockel Anja Reschke ihre grundsätzliche persönliche Haltung vor:

Schon am 5. August 2015 hatte Reschke in einem Tagesthemen-Kommentar einen neuen “Aufstand der Anständigen” gegen rechts propagiert: “dagegen halten, Mund aufmachen. Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.”

Seine eigene Haltung versteckt Gockel lieber hinter anderen:

Wer diesen Kommentar heute im Internet aufruft, gewinnt schnell den Eindruck, dass er mit heißer Nadel gestrickt ist. Mancher nennt die Art des Vortrags sogar hysterisch.

Wer diesen Kommentar heute tatsächlich im Internet aufruft, wird schnell merken, dass Gockel das Zitat von Reschke verkürzt wiedergibt; möglicherweise, um zu suggerieren, Reschke rufe zum Vorgehen gegen sämtliche Meinungsäußerungen rechts der Mitte auf. Ihr volles Zitat lautet:

Wenn man also nicht der Meinung, ist, dass alle Flüchtlinge Schmarotzer sind, die verjagt, verbrannt oder vergast werden sollten, dann sollte man das ganz deutlich kundtun, dagegen halten, Mund aufmachen, Haltung zeigen, öffentlich an den Pranger stellen.

Anja Reschke spricht also nicht einfach nur von “rechts”, sondern von strafbaren rechtsextremen Äußerungen und Handlungen.

Und so scheint es, als würde Hans-Hermann Gockel nichts finden, das er Anja Reschke vorwerfen könnte, ohne seinerseits die Tatsachen zu verdrehen. Am Ende kommt er nur auf die dünne Anklage, dass Reschke bei einem Auftritt in der Sendung “Hart aber fair” Moderator Frank Plasberg spontan nicht genau sagen konnte, woher ein paar Sekunden Bildmaterials eines “Panorama”-Beitrags über Flüchtlinge stammen:

Die Leiterin einer Redaktion weiß nicht, wie ein Bilder-Teppich in ihrer Sendung zustande kommt? So viel Ahnungslosigkeit dürfte einmalig sein im deutschen Fernsehgeschäft!

Was Hans-Hermann Gockel offenbar nicht merkt: Mit diesem Urteil nimmt ausgerechnet er, der “Lügenpresse”-Rufer, das gesamte deutsche Fernsehen in Schutz. Eine solch positive Meinung übers deutsche TV dürfte einmalig sein unter “Compacts” Medienkritikern.

*Nachtrag, 19. Oktober: Inzwischen sind wir uns ziemlich sicher, woher die “Compact”-Redaktion die Zahlen aus der “Frau, komm!”-Grafik hat: vom Bundeskriminalamt (Tabelle 62). Dort findet man jedenfalls die Rohdaten, noch nicht “auf je 10.000 Mitglieder folgender Volksgruppen” heruntergerechnet. Diese Zahlen findet man in einer Grafik, die beim Hoster “Imgur” hochgeladen wurde und die sich auf die BKA-Zahlen beruft.

Die Zahlen, die “Compact” verwendet, beziehen sich also auf 2014 und nicht, wie von der Redaktion behauptet, auf 2015. Und sie stammen eben nicht vom “Pew Reserch Center” beziehungsweise vom “Pew Research Center”. Von den amerikanischen Forschern haben wir inzwischen ebenfalls eine Bestätigung bekommen, dass die Zahlen nicht von ihnen veröffentlicht wurden:

Dass wir fälschlicherweise als Quelle angegeben werden, oder bei vagen Aussagen als Quelle herhalten müssen, ist für uns inzwischen fast schon zur Gewohnheit geworden. Dass dieses Phänomen nun auch jenseits des Atlantiks auftritt, ist allerdings eine neue Erfahrung für uns.

Mit Dank an Hauke H. und @griboe für die Hinweise!

Sechs Fäuste für ein Halleluja

Die neue Ausgabe von “Compact” ist da. Und wie jeden Monat beglückwünschen sich “Compact”-Chef Jürgen Elsässer, Redakteur Marc Dassen und CvD Martin-Müller Mertens auf Youtube gegenseitig zum neuen Heft.

Traditionell geht es dabei zuerst um das wahnsinnig originelle Titelblatt. Dassen meint, das Cover der Mai-Ausgabe zeige “sozusagen eine Christin und ihr sanftes Antlitz sozusagen, ihre Frömmigkeit”, worauf sein Chef Elsässer ergänzt: “Ihre Wehrlosigkeit auch.”

Eine sanfte, fromme, wehrlose Christin also:

Gut, ganz so sanft und wehrlos scheint die Dame allerdings doch nicht zu sein, wenn man sich mal dieses Foto von ihr anschaut:

Und fromm? Nun ja:

Wir wissen nicht, ob die Coverfrau tatsächlich gläubige Christin ist, wie die Redakteure suggerieren. Zweifelsohne aber ist sie ein Modell für Stockfotos, also für relativ günstig zu lizenzierende Fotografien, die auf Vorrat produziert werden. In besonderem Maße authentisch, wie man das von einem Magazin mit dem Slogan “Mut zur Wahrheit” vielleicht annehmen könnte, ist das Bild jedenfalls nicht.

Aber schlechte Titelbilder sind kein Alleinstellungsmerkmal, also genug der Oberflächlichkeiten. Was liefert die Mai-Ausgabe von “Compact” inhaltlich?

Es geht um Christenverfolgung. Genauer gesagt: um die “neue” Christenverfolgung. Wir hatten schon vor zwei Monaten darauf hingewiesen, dass das Thema keineswegs so neu ist, wie “Compact”-Lesern glauben gemacht wird, und eher zu den Dauerbrennern der von dem Magazin so betitelten “Lügenmedien” gehört.

Nun meint Marc Dassen, Christen würden nicht mehr nur in Syrien verfolgt werden, denn:

Das gleiche sehen wir jetzt auch immer wieder, wenn wir die Medien verfolgen, zum Beispiel in den Flüchtlingsunterkünften, wo also Christen eine Minderheit sind, die sehr stark unter Beschuss ist.

Dass er das Thema selbst aus den Medien kennt, hindert ihn nicht daran, einige Sätze später zu behaupten, man habe “in den Massenmedien nicht so richtig viel darüber gelesen und gehört.” Ein außerordentlicher Fall von selektiver Wahrnehmung.

Die Wortwahl seines Chefredakteurs Jürgen Elsässer ist eindeutiger:

Die Monopolpresse spricht ja immer über die Islamophobie, dass die Muslime verfolgt werden, aber dass unsere hauptsächliche Glaubensrichtung, das Christentum, auch so stark unter Druck steht, wie wahrscheinlich noch nie in der Geschichte seit dem Mittelalter, das wird natürlich ausgeblendet vom Mainstream.

Was Elsässer ausblendet, wird klar, wenn man sich noch einmal sein offenbar etwas angestaubtes Schulwissen bewusst macht: Das Ende des Mittelalters markiert Luthers Reformation, in Folge derer sich Christen unterschiedlicher Konfession in Europa etwa 200 Jahre lang gegenseitig verfolgten und ermordeten, bis sich mit der Aufklärung langsam die Idee religiöser Toleranz durchsetzte. Elsässer setzt die heutige Situation mit dem Dreißigjährigen Krieg gleich, der verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen drei und elf Millionen Todesopfer forderte.

Die Zahlen für eine solche irre Behauptung soll Martin Müller-Mertens und Federico Bischoffs Titelgeschichte liefern. Darin zählen sie zunächst islamistische Terrorakte rund um Ostern auf, darunter die Falschmeldung, dass ein katholischer Priester im Jemen am Karfreitag gekreuzigt worden sei.

Dann sollen Daten den Ernst der Lage untermauern. Jeder zehnte Christ lebe “in Angst vor Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung” soll der Wiener Präsident der katholischen Organisation “Pro Oriente” “offenbart” haben. Mal abgesehen davon, dass nicht nachvollziehbar ist, wie er zu dieser Zahl kommt: Diskriminierung und Ermordung sind derart unterschiedliche Dinge, dass sie getrennt gezählt werden müssten. Wenn Menschen in Angst vor etwas leben, sagt das auch wenig über die reale Bedrohung aus — man könnte sich etwa fürchten, weil man den “Compact”-Artikel zu ernst nimmt, deshalb wird man noch lange nicht tatsächlich verfolgt.

Weiter werden Zahlen des evangelikalen Hilfswerks “Open Doors” genannt — die sowohl von der evangelischen als auch der katholischen Kirche als unseriös abgelehnt werden, weil sie nicht überprüfbar sind. Der hinsichtlich heimlichen Sympathien mit Islamisten eher unverdächtige Leiter der Auslandsredaktion der Katholischen Nachrichtenagentur, Alexander Brüggemann, hat vor einem halben Jahr in einem Gastbeitrag für die “Zeit” erklärt, was die Zahlen bedeuten, und kam zu folgendem Schluss:

Die statistische Erfassung des Phänomens ist extrem schwierig.

Selbst die “Compact”-Autoren landen schließlich selbst bei viel kleineren Opferzahlen. 130.000 bis 170.000 christliche “Märtyrer” sollen es laut der Studie “The Price of Freedom Denied” pro Jahr sein. “Zahlen, die kein Gehör in der Öffentlichkeit finden”, meinen Müller-Mertens und Bischoff. Zahlen, die sie vermutlich aus der Wikipedia oder dem dort zitierten Artikel aus der “Weltwoche” haben.

Diese letztgenannten Daten kursieren tatsächlich relativ weit. Problematisch sind sie trotzdem. Der Vorsitzende der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz, Thomas Schirrmacher, hat sich für die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte mit der Zahl beschäftigt:

Es fällt mir schwer, diese Zahl wegen ihrer weiten Verbreitung zu kritisieren, zumal sie von seriösen Forschern und guten Freunden kommt. Aber als Wissenschaftler habe ich solche Zahlen zu oft vor säkularen Kollegen, Politikern weltweit, dem Deutschen Bundestag oder dem Europäischen Parlament und natürlich Journalisten zu verantworten, als dass unser Institut (das International Institute for Religious Freedom) sie einfach nur übernehmen könnte.

Außerdem wurden sie aus dem Kontext gerissen. Die Autoren von “The Price of Freedom Denied”, die sich das aufgeladene Wort “Märtyrer” nicht zueigen machen, zitieren nämlich wiederum selbst nur ihre Quelle, das päpstliche Missionswerk “Kirche in Not”. Zudem argumentieren sie in ihrer Studie genau umgekehrt zu Compact:

Grim and Finke argue that it is not religious identity itself that is the force behind much religious conflict, but legal and social restriction of religious freedom. They argue that it is in the most pluralistic and religiously liberal societies that levels of persecution are at their lowest, not in the cultural monopolies of Huntington’s theory.

Die Einschränkung der Religionsfreiheit stehe hinter religiösen Konflikten. Ein Ergebnis, das bei Compact kein Gehör findet.

Dort suggeriert man lieber, dass einzelne Vorfälle der letzten fünf Jahre, über die beispielsweise in der “Welt” berichtet wurde, Zeichen für eine breite Christenverfolgung seien. Bald könnte es in Europa zugehen wie im Islamischen Staat, so der Tenor.

Ein weiterer Artikel in der aktuellen “Compact”-Ausgabe beschuldigt Papst Franziskus, sich den “Terroristen und Islamisten” zu unterwerfen. Denn:

So ergriff Papst Franziskus – ausgerechnet am Gründonnerstag, ausgerechnet zwei Tage nach dem Blutbad in Brüssel – die Gelegenheit, in einem Asylheim bei Castelnuovo di Porto einem Dutzend Asylbewerbern in einer pompösen Zeremonie zuerst die Füße zu waschen und diese dann zu küssen.

Es seien “solche Unterwerfungsgesten”, schreibt der Autor, “die das Christentum wehrlos machen. Wenn die eigenen Werte für wichtig und richtig gehalten werden, dürfen sie nicht auf dem Altar einer falsch verstandenen Liberalität geopfert werden.” In der Bildunterschrift heißt es:

Unterwerfungsgeste: Papst Franziskus wäscht und küsst muslimischen Flüchtlingen die Füße

Dass es durchaus christliche Flüchtlinge sein könnten — an der Fußwaschung nahmen nämlich auch Katholiken aus Nigeria teil — erwähnt “Compact” freilich nicht (deutet aber immerhin im Artikel an, dass es nicht ausschließlich Muslime waren: “Unter den auf diese Weise verwöhnten waren auch vier Muslime”).

Denn, so viel sollte klar geworden sein, für “Compact” ist die von den Mainstreammedien angeblich verschwiegene Christenverfolgung bloß ein weiterer Vorwand, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren.

Der Rest des Titelthema-Abschnitts besteht dementsprechend aus Warnungen vor dem Islamismus, stets unter der Prämisse, vor diesem würde noch nicht genug gewarnt oder er sei sogar insgeheim gewollt. Auch ein Vorabdruck von Akif Pirinçcis neuesten Ausfällen soll etwas zum Thema beitragen.

Wir wissen nicht, wie es die “Compact”-Redakteure selbst mit der Religion halten. Sollte jedoch im Paradies eine ähnlich strenge Grenzpolitik herrschen, wie das Blatt sie für Europa propagiert, könnte sich die Einreise der Redaktion aufgrund von Verstößen gegen das achte Gebot erheblich verzögern.

“Compact”: Lesen, was andere schon geschrieben haben

Am 7. März schrieb der Brüsseler Korrespondent Michael Stabenow in der “FAZ”:

Ahmet Davutoglu kam, lächelte und gab sich siegesgewiss. Als der türkische Ministerpräsident am Montagvormittag am Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude einer schwarzen Limousine aus deutscher Produktion entstieg, wirkte er entspannt.

In der aktuellen Ausgabe des Magazins “Compact” schreibt Chefredakteur Jürgen Elsässers in seinem Leitartikel:

Der türkische Ministerpräsident war bester Stimmung, als er am 7. März in einer schwarzen Luxuslimousine eines deutschen Autobauers vor dem Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel vorfuhr.

Klingt sehr ähnlich? Steht auch an der gleichen Position, ganz oben im ersten Absatz. So geht es weiter:

“FAZ”, 7. März:
“Zu diesem Zeitpunkt ahnten wohl nur wenige, dass es nicht beim Mittagessen — Selleriesuppe mit Karottenstückchen, Seezunge in Basilikumöl und Kleingemüse sowie Mango- und Himbeerdessert — bleiben werde.”
“Compact”, 1. April:
“Als sich die große Runde an die Mittagstafel setzte — es gab Selleriesuppe mit Karottenraspeln, Seezunge mit glaciertem Gemüse und zum Abschluss Mango- und Himbeerdessert –, ließ Ahmet Davutoglu die Katze aus dem Sack:”

Das muss noch kein bewusstes Plagiat sein, auch wenn sonst nur ein Liveticker der österreichischen Gratiszeitung “Heute” über das Menü berichtet. Manchmal schnappt man eben etwas auf und vergisst dann, dass es keine eigene Idee war. Kann passieren.

Bemerkenswert ist aber, dass ausgerechnet “Compact” einen Leitartikel fast wortgleich mit der “FAZ” beginnt. Gehört diese Zeitung doch zur “Mainstreampresse”, auf die das Magazin sonst nur verächtlich herabblickt. Schließlich wirbt “Compact” mit der Parole “Lesen, was andere nicht schreiben dürfen”.

Nun. Der Artikel ist 185 Zeilen lang. Die ersten 100 davon sind eine Nacherzählung der bisherigen Verhandlungen der EU mit der Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen, mit einem kleinen Exkurs zum Krieg der Türkei gegen die Kurden. Alles, was dort beschrieben wird, stand fast genauso auch in den verhassten “Systemmedien”.

Es wird auch fleißig zitiert in diesen ersten 100 Zeilen. Die O-Töne stammen ursprünglich unter anderem aus der “FAZ”, aus einer dpa-Meldung (allerdings wird dieses Zitat von Elsässer als Reaktion auf eine Regierungserklärung ausgegeben, obwohl es schon etwa eine Woche vorher erschienen war), ein weiteres stammt aus einem Interview der “Passauer Neuen Presse”, eines stammt aus einem Interview der “Bild”-Zeitung, der letzte Absatz paraphrasiert eine Reuters-Meldung.

Wir haben mal hervorgehoben, was schon an anderer Stelle geschrieben wurde:

Nur beim letzten Zitat gibt Elsässer die Quelle an.

Im Rest des Artikels geht es dann um die Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei. Es gab eine Zeit vor den Diskussionen um “Extra 3” und Jan Böhmermann, die älteren Leser erinnern sich vielleicht. Die April-Ausgabe von “Compact” wurde vor dieser aktuellen Diskussion um Erdoğans Verhältnis zur Presse produziert. Kritik an der Türkei war aber schon damals und lange davor mitnichten ein Alleinstellungsmerkmal der “Compact”.

Zum Beispiel kann man aus den “Konformisten-Medien” wissen, dass die Korrespondenten von “Spiegel” (Hasnain Kazim) und “Welt” (Deniz Yücel) im März zu ihrem eigenen Schutz das Land verließen. Auch die Schließung der Zeitung “Zaman”, die “Compact” aufgreift, war in vielen deutschen (und internationalen) Medien bis hin zur “Tagesschau” ein großes Thema.

Vom “Mut zur Wahrheit”, den “Compact” für sich beansprucht, ist in diesem Leitartikel wenig zu finden. Denn Mut würde ja voraussetzen, dass da etwas ausgesprochen wird, was nicht ohnehin schon jeder sagt. Elsässer aber fasst nur einen breiten Konsens der Presse gegen Erdoğan zusammen, und tut derweil weiterhin so, als verkünde er subversive, verbotene Wahrheiten.

Dennoch trifft er den typisch hysterischen “Compact”-Stil. Dazu braucht er allerdings nicht viel. Die eigenartige Hauptthese des Artikels ist, dass durch den Türkei-Deal nun erst recht Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden. Elsässer lobt darum den ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán für dessen Grenzpolitik (alles einzäunen).

Und dann sind da noch einige Vokabeln, die Jürgen Elsässer wie Zuckerstreusel über seinen Fertigbacktext streut. So spricht er gleich im Teaser von einer “Asylanten-Invasion”, die durch das Abkommen mit der Türkei erst recht angeheizt werde und später von “Osmanen” die in Berlin Privilegien genössen. Flüchtlinge nennt er “Neusiedler” auf dem Weg ins “gelobte Deutschland”. Merkel bezeichnet er als “die autistische Kanzlerin”. Eine Bildunterschrift lautet: “Im Harem des Sultans hat Angela Ayse Merkel nicht viel zu lachen”. Der Titel: Merkel im Erdowahn. Das Cover: Merkel mit Fes.

In einem weiteren Artikel zum Titelthema kommt Elsässer auch auf die Morde des NSU zu sprechen. Er nennt sie immer noch konsequent “Döner-Morde” und behauptet, dass nicht etwa Neonazis, sondern “Erdogans Geheimdienste etwas mit den Verbrechen zu tun haben könnten”. Dafür gebe es “etliche Hinweise”.

Was dann folgt, sind aber keine neuen Belege, sondern alte Gerüchte, die größtenteils aus der Zeit stammen, in der noch wenig über den NSU bekannt war. Elsässer hat sie in 15 Jahre alten Artikeln gefunden — genauer: im “Spiegel”, im “Stern”, beim WDR und in “osmanischen Zeitungen”.

Wer “Compact” also im Glauben kauft, dass da endlich mal einer die Fakten auf den Tisch legt, die sonst keiner bringt, der wird getäuscht. Lässt man die heiße Luft raus und streicht das fremdenfeindliche Vokabular, bleibt bloß: eine sehr selektive Zusammenfassung der “Lügenpresse”.

“Compact”: Lesen, was andere sich nicht zu schreiben erdreisten

Es wäre zu kurz gegriffen, zu behaupten, “Compact” betreibe ausschließlich Hofberichterstattung für die AfD. Diese ist zwar ein wichtiges Standbein des Magazins. Das zeigte sich auch am Wahlabend in Sachsen-Anhalt, als der AfD-Spitzenkandidat André Poggenburg, bevor er sich anderen Journalisten stellte, zuerst mit “Compact”-Chefredakteur Jürgen Elsässer sprach, der ihn im eigenen Studio freundlich duzte und unterwürfigst Vorlagen lieferte. Aber “Compact” berichtet auch über andere Themen.

“Lesen, was andere nicht schreiben dürfen”, lautet eine der vielen Parolen, mit denen das Magazin für sich wirbt. Wie rebellisch. Und tatsächlich finden sich in “Compact” Geschichten, die man in der seriösen “Mainstreampresse” eher nicht finden wird. Allerdings nicht, weil das verboten wäre, wie “Compact” verschwörerisch mitklingen lässt. Vielmehr serviert “Compact” seinem Publikum Geschichten, für die andere sich in Grund und Boden schämen müssten.

Zum Beispiel die Story über das Zika-Virus. Laut “Compact”-Autor Michael Morris ist dieses nämlich Teil eines geheimen Plans zur Bevölkerungsreduzierung.

Michael Morris kennt sich mit den ganz großen Intrigen aus. Er veröffentlicht sonst im Amadeus Verlag Verschwörungsliteratur. Sein Herausgeber ist Jan Udo Holey, der es unter dem Pseudonym Jan van Helsing zu einiger Prominenz als rechter Esoteriker gebracht hat. Unter der großen Weltverschwörung machen es die beiden nicht.

Dabei schwadroniert Holey gern von Hitlers UFOs, deren Rückzug ins antarktische Neuschwabenland und arischen Außerdischen. Das klingt noch eher lustig, doch er zitiert auch ausgiebig aus richtig üblen, antisemitischen Pamphleten wie den “Protokollen der Weisen von Zion”. Holeys erste Schriften wurden indiziert.

Sein Schützling Michael Morris hat daher gelernt, sich in weniger angreifbaren Chiffren auszulassen, zum Beispiel über angebliche Machenschaften der Rothschild-Familie oder darüber, wie ein “westliches Bankenkartell den Goldhandel kontrolliert”. Seine Bücher tragen Titel wie “Was Sie nicht wissen sollen” und führen, wie der Verlag schreibt, “anschaulich aus, wie eine kleine Gruppe von Bankiers dabei ist, durch Wirtschafts- und Währungskriege die totale Herrschaft über die Welt zu erlangen”.

In seinem Artikel über das Zika-Virus vermischt Morris nun eine Geschichte, die ursprünglich in einem Sub-Reddit für Verschwörungstheorien auftauchte, mit schon länger kursierender Panikmache mancher Impfgegner. Das Virus soll mit genveränderten Mücken aufgekommen sein — Überschrift:

Der Artikel steht übrigens im Politikteil, nicht in irgendeinem Aluhut-Ressort, wie es etwa Bild.de mit “Bild Mystery” betreibt.

“Compact” muss sich für sein Schauermärchen nicht direkt bei Reddit bedient haben, sondern könnte auch von Krawallmedien wie der Daily Mail, Russia Today oder Fox News inspiriert worden sein. Auch dort wird die These verbreitet, gentechnisch veränderte Stechmücken seien für den Zika-Ausbruch verantwortlich.

Die veränderten Mücken gibt es tatsächlich. Ziel der Technik ist es, dass transgene männliche Mücken Nachkommen zeugen, die in freier Natur nicht überleben können, und so die Population reduziert wird. Michael Morris setzt ganz auf die alarmierende Wirkung, die das Thema Gentechnik bei vielen Lesern auslöst. Einmal gesetzt, scheint er zu glauben, mit allem durchzukommen.

Denn interessanterweise prüft das Magazin, das sich ganz dem Kampf gegen die “Lügenpresse” verschrieben hat, die Behauptungen offenbar nicht besonders kritisch. Sie passen eben zu gut ins paranoide Weltbild.

Gut, dass sich statt ihnen andere diese Arbeit machen. Die Fact-Checking-Plattform der Tampa Bay Times “Politifact” lässt schnell die heiße Luft aus der Geschichte:

We wondered if there is any truth to the notion that Zika is being spread by transgenic mosquitoes.

In a word, no. Epidemiologists told us the rumor is baseless. The mosquitoes in question wouldn’t have been capable of starting the outbreak in 2015, and the geographic correlation offered doesn’t hold up.

Zeit und Ort des Zika-Ausbruchs passen, anders als behauptet, nicht zu den Feldtests, die bisher mit transgenen Gelbfiebermücken stattfanden. Diese wurden viele Moskitoleben vorher in weiter Entfernung durchgeführt. Auch sonst gibt es keine Belege für einen Zusammenhang zwischen dem Virus und der Gentechnik. Das Zika-Virus ist auch nicht neu, sondern seit etwa 70 Jahren bekannt, die Bausteine der DNS wurden erst 20 Jahre später entschlüsselt.

Michael Morris ist die ursprüngliche Verschwörungstheorie aber noch nicht genug. So fragt er etwa:

Wieso überträgt er [der Moskito] nun statt dem Dengue-Virus vorwiegend das Zika- und das Guillain-Barré-Virus (…)?

Die richtige Antwort lautet: Die Mücke überträgt nach wie vor das Dengue-Virus, über 1,5-Millionen Fälle zählten die brasilianischen Behörden 2015 (pdf der Pan American Health Organization). Das eine Guillain-Barré-Virus gibt es außerdem nicht, bekannt ist nur das Guillain-Barré-Syndrom, für das verschiedene Viren als Auslöser infrage kommen.

Das könnte man noch als schlampige Recherche abtun. Wirklich kreativ wird Morris aber mit folgender Wendung, die für ihn auf der Hand liegt, weil die Bill & Melinda Gates Foundation auch Versuche der Firma Oxitec mit transgenen Gelbfiebermücken unterstützte:

Bill Gates hatte bereits 2009 während eines Vortrags im Rahmen der TED-Konferenz scherzhaft Malaria-Mücken im Publikum freigesetzt, was alle Anwesenden noch für einen Spaß hielten. Doch mit dem Mann ist nicht zu spaßen. Er und seine Freunde, wie Rupert Murdoch, Zbigniew Brzezinski und Ted Turner, sind bekannt dafür, die Weltbevölkerung drastisch reduzieren zu wollen, und Gates betonte immer wieder, dass Impfstoffe dafür am besten geeignet wären.

Dem Monster, das Clippy die Büroklammer auf die Menschheit losgelassen hat, ist eben alles zuzutrauen.

Und seinen Geschäftssinn hat Bill Gates wohl auch verloren. Er soll also im Besitz eines ominösen Verhütungsmittels sein, das er aber nicht vermarktet, um dadurch noch reicher werden, obwohl es scheinbar bequemer als Pille, Spirale und Kondom anzuwenden ist. Außerdem verbreitet er für diesen genial-gemeinen Plan erst das Zika-Virus, für das es noch gar keinen Impfstoff gibt, statt sein Zaubermittel gängigen Schutzimpfungen beizumischen.

Und dann gibt er auch noch selbst zu, dass Impfungen beitragen sollen, das Bevölkerungswachstum zu verlangsamen:

Bei der TED-Konferenz im Jahr 2010 führte er [Bill Gates] aus: “Auf der Erde leben heute 6,8 Milliarden Menschen (…), diese Zahl wird auf ungefähr neun Milliarden anwachsen. Wenn wir nun bezüglich neuer Impfstoffe, im Gesundheitswesen und in der Fortpflanzungsmedizin wirklich gute Arbeit leisten, können wir diese um ungefähr 10 bis 15 Prozent verringern.”

Potzblitz! Jetzt hat die Spürnase Michael Morris den Multimillionär aber überführt, oder?

Damit das Zitat zum Geständnis wird, muss Morris den Kontext weglassen. Bill Gates spricht sich hier nicht dafür aus, Menschen per Impfung ohne deren Wissen unfruchtbar zu machen. Er wirbt vielmehr dafür, die medizinische Versorgung zu verbessern. Denn dann, so seine Hoffnung, könnten Entwicklungsländer sich ähnlich wie die Erste Welt verhalten. Dort hat sich gezeigt, dass die besseren Gesundheitssysteme dazu führen, dass weniger Kinder sterben und alte Menschen nicht ausschließlich auf die Fürsorge ihres Nachwuchs angewiesen sind. Kinder zu zeugen ist dann keine Notwendigkeit mehr und Familien werden planbar, weshalb sich mehr Leute gegen Kinder entscheiden. Auch rechnet sich die Gates Foundation dadurch keinen Reduktion der Weltbevölkerung aus, wie die Verschwörungstheoretiker behaupten, weil in der Formulierung auch ein bisschen Völkermord mitschwingt. Sie erwartet nur ein langsameres Wachstum.

So zerfällt die Geschichte von “Frankensteins Killer-Moskito” bei näherer Betrachtung in das, was auch von den meisten anderen “Compact”-Geschichten bleibt, wenn man sich etwas genauer mit ihnen befasst: ein paar Krümel Wahrheit und ein riesiger Haufen Bullshit.

Die Qualen der Wahlen

Liebende haben es schwer. Kaum schweben sie im Glückshormonrausch, droht ihr Gemüt ins Negative zu kippen. Eifersucht mischt sich mit der Angst, der oder dem Auserwählten könnte Böses widerfahren. Nachdem wir uns im ersten Teil unserer Reihe “Mut zur Wirrheit” den Minnesang des “Compact”-Chefredakteurs Jürgen Elsässer auf AfD-Politikerin Frauke Petry angeschaut haben, nun zur unheimlichen Seite der Romantik.

Für den Fall, dass die AfD bei den morgigen Landtagswahlen nun doch nicht so gut abschneidet, wie von Jürgen Elsässer erhofft, hat “Compact” bereits vorgesorgt: Es könnte umfangreiche Wahlfälschungen gegeben haben! “Geisterwähler aller Orten” heißt der Artikel, der belegen soll, dass solche auch hierzulande allgemein üblich seien.

Tatsächlich geht es nicht um “aller Orten”, sondern um Bremerhaven, Stendal, Köln, Hamburg und Halle. Auch sonst hängt der Autor alles etwas höher und vermischt grundsätzlich unterschiedliche Dinge, damit sich ein Bild allgemein üblichen, schwerwiegenden Wahlbetrugs ergibt.

Auf Verhältnismäßigkeit legt die “Compact” dabei keinen großen Wert. So setzt sie eine teilweise Wahlwiederholung (nicht nur eine Neuauszählung, wie im Artikel behauptet), die der rechtspopulistischen Wählervereinigung “Bürger in Wut” bei der Wahl 2007 einen Sitz in der Bremer Bürgerschaft sicherte, auf eine Stufe mit der Kommunalwahl im deutlich kleineren Stendal 2014. Bei dieser gab es tatsächlich nicht nur Fehler, sondern einen handfesten Betrugsskandal, infolgedessen der CDU-Politiker Holger Gebhardt zurücktrat und die Staatsanwaltschaft gegen ihn und mutmaßliche Helfer bis heute ermittelt.

Den nächsten großen Sprung macht der Artikel von den Wahlen im 40.000-Einwohner-Städtchen nach Hamburg zur Bundestagswahl 2013:

In Hamburg verschwanden 103.000 Briefwähler-Stimmen – im statistischen Durchschnitt hätten es höchstens 30.000 sein dürfen. Trotz 301.884 angeforderter Wahlscheine waren angeblich nur 198.739 zurückgekommen. Nach massiver Kritik und widersprüchlichen Erklärungen des Wahlleiters tauchten auf wundersame Art und Weise 70.000 Briefe wieder auf. Die Ausfallquote war zurecht gebogen.

Das klingt, als könnten diese fiesen Wahlbetrüger einfach Stimmzettel vernichten und wieder auftauchen lassen, wie es ihnen passt. Dabei deutet der Autor schon selbst an, wo der Haken ist: Von den Wahlscheinen sind lediglich “angeblich” nur 198.739 im Briefwahlbüro angekommen. Nicht die Wahl war gefälscht — die Angabe der erhaltenen Stimmen war verkehrt. Die Lücke zu den zu erwartenden Stimmen ergab sich, weil eine Datenbankabfrage des Statistischen Landesamtes einige Briefwahlbezirke ignoriert hatte. Drei Tage nach der Verkündung des vorläufigen Ergebnisses gab die Behörde bekannt (PDF), dass die Abfrage der Datenbank falsch programmiert gewesen sei. Anders als von “Compact” suggeriert, ging es nie um verschwundene physische Briefe. Nichts musste “auf wundersames Art und Weise” geschehen, sondern nur ganz banal nachgerechnet werden.

Eine weitere Halbwahrheit rundet den Artikel ab. Im beigefügten Infokasten steht, dass die Politikwissenschaftler Christian Breunig und Achim Goerres die Ergebnisse der Bundestagswahlen zwischen 1990 und 2005 untersucht und Verstöße gegen das Benfordsche Gesetz festgestellt hätten, einer mathematisch-statistischen Regel über die Häufigkeit von Zahlen in großen Datenmengen. Das ist wahr. Die Studie erschien bereits 2011. Unwahr ist alles nach dem Gedankenstrich:

Während die Erststimmen bei Bundestagswahlen dem Muster entsprachen, wichen die wichtigeren Zweitstimmen-Ergebnisse signifikant davon ab — und zwar jeweils zum Vorteil der in dem jeweiligen Bundesland dominanten Partei. Dies deutet darauf hin, dass deren Wahlhelfer bei der Auszählung geschummelt haben.

Die Methode der beiden Wissenschaftler lässt weder eine Aussage darüber zu, in welche Richtung manipuliert wurde, noch in welchem Umfang und erst recht nicht von wem. Das hätte man einfach nachlesen können, etwa beim “Cicero”. Oder bei den Forschern direkt, die ihre Studie so deuten:

Insgesamt offenbaren die Ergebnisse dieser Tests, dass es wenig Grund zur Beunruhigung gibt. Dafür, dass der Wahlprozess in Deutschland sehr komplex und vielschichtig ist, gab es erstaunlich wenige Verletzungen des Benfordschen Gesetzes. Kurz: dieses Fieberthermometer bescheinigt der deutschen Demokratie höchstens eine leicht erhöhte Temperatur, die sicherlich erforscht werden, aber nicht Anlass zum Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlauszählung geben sollte.

Auf Anfrage bestätigte Achim Goerres gegenüber BILDblog, dass die Studie falsch wiedergegeben wurde und sie gerne von extremen Parteien für Verschwörungstheorien herangezogen werde. “Compact” schaut auf das “Fieberthermometer” der Forscher und behauptet, damit ein Erdbeben vorhersagen zu können.

Doch selbst das ist noch nicht annähernd so manipulativ wie das Artikelbild: Es zeigt Demonstranten gegen die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen in der DDR 1989. Offizielles Ergebnis damals: 98,85 Prozent aller Stimmen für den Wahlvorschlag — nachdem es viel aufwändiger gewesen war, gegen diesen Vorschlag zu stimmen, und Wahlbeobachter häufig an ihrer Arbeit gehindert worden waren. Eine völlig andere Größenordnung in einem ganz anderen politischen System als die Ereignisse, die der Artikel beschreibt. Denn in diesen geht es abgesehen vom Hamburger Rechenfehler nur um einzelne Sitze und relativ wenige Stimmen.

“Compact” hat sich dennoch dafür entschieden, alles als Beleg massenhafter Wahlfälschung darzustellen. Dabei könnte man aus den Beispielen genauso gut schließen, dass selbst kleinere Unregelmäßigkeiten und Fehler immer wieder an die Öffentlichkeit gelangen und untersucht werden.

Jürgen Elsässer und sein Blatt wollen auf Teufel komm raus den Eindruck erwecken, dass es morgen Wahlbetrug geben wird, um der AfD ihre Stimmen zu klauen. Wer ihnen glaubt, sollte sich Elsässers fremdenfeindlichem Bündnis “Ein Prozent” als Wahlbeobachter anschließen (“Merkel auf die Finger schauen – Wahlbetrug verhindern!”). Dort werden die Freiwilligen explizit angewiesen, die Stimmen für die AfD morgen noch mal separat zu zählen — die der anderen Parteien scheinen weniger wichtig zu sein.

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