Das Ergebnis der thüringischen Landtagswahl hat nicht nur viele Politiker etwas ratlos zurückgelassen — auch einige Journalisten haben den Überblick verloren:
Mit Althaus’ Wunschpartner FDP allein ist eine Koalition nicht möglich. Denkbar wäre ein Dreier-Bündnis mit den Grünen (“Jamaika”).
schreibt etwa Bild.de und übersieht dabei, dass die drei Parteien gemeinsam auf 43 Sitze im Erfurter Parlament kommen. Bei den 88 Sitzen dort bräuchte man aber mindestens 45, um die Mehrheit zu haben.
Genau diese 45 Sitze hätten Linkspartei und SPD zusammen, was Bild.de allerdings nicht davon abhält, mehrfach auf die Option eines rot-rot-grünen Bündnisses einzugehen. Das hätte zwar die komfortablere Mehrheit von 51 Abgeordneten, aber reichen täte eben auch rot-rot.
Die Möglichkeit einer Zweier-Koalition entging zudem nicht nur dem “Heute Journal” (ab 4:45 Min.), auch “Spiegel Online” hat sie übersehen:
Rot-Rot-Grün wird im neuen Parlament eine rechnerische Mehrheit haben, dann wäre die CDU in der Opposition.
Das ist ja nicht falsch, aber die “rechnerische Mehrheit” hätte eben schon Rot-Rot.
Bild.de berichtet heute (vier Tage nach “Welt Online” und fünf Tage nach “Spiegel Online”), dass die Auszahlung der Mittel aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung laut Bundesrechnungshof nur schleppend anläuft. Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Thüringen hätten bis Mitte August “keinen einzigen Cent” abgerufen.
Auch in Hessen ist bisher kaum Geld geflossen. Das Land und die Kommunen haben aus dem Konjunkturpaket bisher gerade einmal 60 000 Euro abgerufen. Das entspricht lediglich 0,02% der für 2009 zur Verfügung stehenden Mittel von 360 000 Euro.
Lassen Sie sich nicht irritieren: 60.000 Euro wären natürlich eher 16,67% von 360.000 Euro. Aber 360.000 Euro wären natürlich auch etwas wenig für ein Land wie Hessen. In Wirklichkeit erhält Hessen 720 Millionen Euro Konjunkturhilfen vom Bund — aber auch davon wären 60.000 Euro keine 0,02%. Dieses Zahlenchaos ist aber für den weiteren Verlauf der Geschichte unerheblich. *
FDP-Verkehrsexperte Patrick Döring darf bei Bild.de erklären, dass die Zahlen zeigten, dass die Konjunkturpakete “generell zu langsam und zu schleppend” wirkten.
Die Agenturen AFP, AP und dpa verbreiteten die Zahlen ungeprüft unter Berufung auf Bild.de, wo man sich ja auf den Bericht des Bundesrechnungshofs bezog, und Onlinemedien wie “Focus Online”, heute.de und stern.de bastelten aus den Agenturmeldungen eigene Artikel. Alle beriefen sich auf Bild.de, viele zitierten den FDP-Mann.
Am Vormittag veröffentlichte das hessische Finanzministerium eine Pressemitteilung, in der Finanz-Staatssekretär Thomas Schäfer erklärte:
Nicht 60.000 Euro wurden in Hessen aus dem Konjunkturpaket II des Bundes bislang abgerufen, sondern 4,5 Mio. Euro. Die unter Berufung auf den Bundesrechnungshof genannte Summe entspricht dem Auszahlungsstand vom 15. Juni 2009. […] Der von “bild.de” erweckte Eindruck, Hessen hinke bei der Umsetzung der Konjunkturpakete hinterher, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
Schäfer gibt den nicht ganz unwichtigen Hinweis, dass die Bundesmittel erst nach Vorlage der Handwerker-Rechnungen rückwirkend vergeben würden. So erklärten auch Vertreter anderer Bundesländer die bisher zögerlichen Auszahlungen: sueddeutsche.de zitiert einen Sprecher des thüringischen Innenministeriums damit, dass in seinem Land bereits ein großer Teil des Geldes verplant sei, und die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern stellte auf Anfrage von n-tv.de klar, dass mittlerweile bereits 2,55 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket abgerufen worden seien.
Der Bundesrechnungshof wollte sich auf unsere Anfrage zu keinen Zahlen aus dem nicht-öffentlichen Papier äußern, erklärte aber, dass man über den wahren Erfolg oder Misserfolg des Konjunkturpakets ohnehin erst befinden könne, wenn das Geld auch an die Handwerksbetriebe ausgezahlt sei.
Und auch der hessische Finanz-Staatssekretär Thomas Schäfer stört sich an dem Bericht des Bundesrechnungshof. “Dieser Bericht verzerrt die Umsetzung der Konjunkturpakete des Landes und des Bundes in Hessen völlig.”
Mit “Bericht” meinte Schäfer allerdings den bei Bild.de — nicht den des Rechnungshofs.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!
*) Nachtrag/Korrektur, 14:52 Uhr: Aus den “360.000 Euro” hat Bild.de inzwischen “360 Mio. Euro” gemacht — und das scheint auch tatsächlich die Zahl der für 2009 zur Verfügung stehenden Mittel zu sein. Die von uns genannten 720 Mio. Euro bezogen sich auf die Jahre 2009 und 2010. Und so ergeben natürlich auch die 0,02% einen Sinn.
Ernst Cramer, der 96-jährige Vorstandsvorsitzende der Axel-Springer-Stiftung, hat für “Bild” einen Artikel über den “Teufels-Pakt” zwischen Hitler und Stalin geschrieben. Die Zeitung hat ihn auch online veröffentlicht und, wie üblich bei Bild.de, einzelne Wörter im Text mit früheren Artikeln verlinkt, um auf diese Weise die Klick-Zahlen in die Höhe zu treiben.
Nach dem 5:0-Auswärtssieg des FC St. Pauli bei Alemannia Aachen am Montagabend ist ein St.-Pauli-Fan sechs Meter in die Tiefe gestürzt. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und ist offenbar noch nicht außer Lebensgefahr.
Weil man sich vielleicht nicht so gut vorstellen kann, wie es aussieht, wenn ein Mensch gerade sechs Meter tief aufs Betonpflaster gefallen ist, oder einfach, weil Fotos des Opfers auf dem Markt waren, veröffentlichten Bild.de und Express.de Bilder, die den Fan in einer Blutlache zeigten. Bei Bild.de war er auf dem Bauch liegend von der Seite zu sehen, auf dem Foto bei Express.de lag er auf der Seite, die Tätowierungen auf seinem der Kamera zugekehrten Rücken waren gut zu sehen.
Beide Bilder sind inzwischen aus den Artikeln verschwunden, was unmittelbar mit dem zusammenhängen dürfte, was die “Aachener Nachrichten” gestern schrieben:
Die Alemannia stellt der Familie [des Mannes] nach Angaben von Pressesprecher Thorsten Pracht “einen renommierten Hamburger Medienanwalt” auf Vereinskosten zur Verfügung, der zunächst auf Unterlassung der Veröffentlichung der Bilder des gestürzten Mannes klagen soll, die im Internetauftritt von zwei Boulevardzeitungen zu sehen sind.
Das rigorose Vorgehen gegen die Konkurrenz hielt die “Hamburger Morgenpost” aber offensichtlich nicht davon ab, heute ein Drittel ihrer Titelseite mit dem gleichen Foto zu füllen, das Express.de verwendet hatte. Direkt darüber: Ein Foto des Mannes vor dem Unfall, darunter sein Spitzname.
Im Innenteil der “Morgenpost” findet sich dann ein Foto des Fanblocks, in dem das Opfer als einzige von etwa 50 Personen notdürftig anonymisiert wurde — und gleich daneben eine unverpixelte Nahaufnahme, die den Fan beim Feiern zeigt.
Im Artikel unterhalb des Fotos erklärt die “Morgenpost”:
Gestern bat der Klub darum, die Profis nicht zu den Vorfällen zu befragen. Die MOPO kam dieser Bitte selbstverständlich nach.
Mit Dank an die vielen Hinweisgeber.
Nachtrag, 17:15 Uhr: Die Unterseite im Internetauftritt der “Hamburger Morgenpost”, auf der man sonst jeden Tag das aktuelle Titelbild in zweifacher Ausführung betrachten kann, sieht seit dem Nachmittag so aus:
2. Nachtrag, 20. August: Auf ihrer Internetseite veröffentlicht die “Morgenpost” heute mehrere erboste Leserbriefe, in denen die Veröffentlichung des Fotos vom Unfallort scharf kritisiert wird.
Darüber schreibt die Redaktion:
Liebe Leser, das Titelfoto vom verunglückten St. Pauli-Fan […] löste bei den Anhängern teilweise heftige Reaktionen aus. Es war nicht unsere Absicht, Gefühle zu verletzen. Wir wünschen […] gute Besserung und seiner Familie viel Kraft. DIE REDAKTION
Gefühle wollte man also nicht verletzen — mit den Persönlichkeitsrechten sah es da offenbar etwas anders aus.
Die Bezeichnung von Zahlen mit mehr als neun Stellen birgt bekanntlich gewisse Risiken, besonders wenn Englisch involviert ist. Eine amerikanische “billion” ist eben nur eine deutsche “Milliarde”, während eine deutsche “Billion” im Amerikanischen “trillion” heißt.
Dieses Wissen nützt einem allerdings wenig bis gar nichts, wenn man versucht zu verstehen, was Bild.de einem heute mitteilen will:
Nachtrag, 19. August: Bild.de hat noch mal nachgerechnet (und einen aktuelleren Wechselkurs benutzt) und spricht jetzt von “223 Millionen Dollar (etwa 158 Mio. Euro)”.
Aber worum geht’s? Der Autor Damon Lloyd Goffe behauptet, die US-Talkmasterin und Autorin Oprah Winfrey habe ihr Buch “Pieces of My Soul” bei ihm abgeschrieben. Da das Buch sich 650 Millionen Mal für je 20 Dollar verkauft habe, stünden ihm jetzt 1,2 Billionen Dollar zu.
Bild.de und Bunte.de haben die Geschichte aus dem eher mittel-vertrauenswürdigen Promiblog von Perez Hilton, der sich wiederum auf einen Artikel im “National Enquirer” beruft, wovon die beiden deutschen Portale aber schon nichts mehr schreiben.
Was noch jedem Fünftklässler hätte auffallen müssen: 650 Millionen mal 20 ergibt nie 1,2 Billionen, sondern eher 13 Milliarden.
Was einen hätte stutzig machen können: 650 Millionen Exemplare eines einzigen Buches wären verdammt viel — jeder US-Bürger müsste ungefähr zwei Ausgaben besitzen. Nur drei Bücher wurden in der Menschheitsgeschichte überhaupt mehr als 500 Millionen mal verkauft: Die Bibel, das kleine rote Buch von Mao Zedong und der Koran.
Was man schnell hätte ergoogeln können: Es finden sich (außer in Artikeln zum aktuellen Fall) im Internet keinerlei Hinweise auf ein Buch von Oprah Winfrey namens “Pieces of My Soul”. Winfreys offizielle Internetseite kennt den Titel nicht.
Jedenfalls: Das Gericht in Washington hat die bizarre Klage von Damon Lloyd Goffe schon am 21. Juli kurzerhand abgelehnt [PDF], wie der Lawblogger Michael Doyle schreibt. Sein Eintrag ist vom 3. August und damit einen Tag älter als der im “National Enquirer” und drei Tage älter als der Text von Perez Hilton, und Doyle legt darin den Schluss nahe, dass es um den Geisteszustand des Klägers nicht zum Besten steht: Damon Lloyd Goffe behauptet, dass sein Leben seit 2003 unter dem Titel “The Will Smith Show” und “Real World” (eine Art “Big Brother”-Vorläufer) im Fernsehen und Internet übertragen werde und hat gegen Will Smith und NBC/Universal ebenfalls Klagen angestrengt. Goffe hat Oprah bereits im vergangenen Jahr verklagt — damals nur auf 9,9 Millionen Dollar, aber ebenso erfolglos. (Winfrey habe ihr Buch übrigens unter http://www2.willsmithshow.bravo2.net/ verkauft, so Goffe originellerweise in den Gerichtsakten.)
In Deutschland hält sich die Berichterstattung zu dem Fall (wohl auch wegen der nicht ganz so großen Popularität Oprah Winfreys hierzulande) noch in Grenzen. In den USA dagegen wirdgroßflächigweiterverbreitet, was Perez Hilton und die Agentur WENN meinen, erfahren zu haben.
Wahnsinnig scheint jedenfalls nicht nur der Mann zu sein, der Oprah auf 1,2 Billionen Dollar verklagen wollte.
Mit Dank an Wolle.
Nachtrag, 9:15 Uhr: Bild.de hat offenbar nichts verstanden, aber sicherheitshalber in der Überschrift die “1,2 Billionen Dollar” durch das Wort “Megasumme” ersetzt. Im Text selbst wurden aus “1,2 Billionen US-Dollar” nun “mehrere Milliarden US-Dollar”.
2. Nachtrag, 11:50 Uhr: Eine ganz bezaubernde Formulierung hätten wir da auch noch bei promiflash.de gefunden:
ca. eine Billion Dollar (das sind umgerechnet etwa eine Milliarde Euro)
3. Nachtrag, 17:05 Uhr: Bunte.de hat den Artikel aus dem Onlineangebot entfernt.
4. Nachtrag, 8. August, 13:50 Uhr: promiflash.de hat die geforderte Summe ein bisschen richtiger und ein bisschen falscher gemacht:
ca. eine Milliarde Dollar (das sind umgerechnet etwa 700 Millionen Euro)
Vielleicht sollten wir einfach dazu übergehen, Lösungsvorschläge zu unterbreiten: “ca. eine Billion Dollar (etwa 700 Milliarden Euro)” würde die Forderungen richtig wiedergeben. Und über den Rest der Meldung sprechen wir dann ein anderes Mal.
Die Chancen standen gar nicht so schlecht für Bild.de: Bei gerade mal zwei Gallagher-Brüdern, die in der Band Oasis spielen, lag die Möglichkeit bei 50%, in einem Artikel über Liam Gallagher und Lily Allen auch den Richtigen zu zeigen.
Sie können dieser Einleitung schon entnehmen, wer schließlich Artikel und Startseite zierte:
Man hört ja in der letzten Zeit oft, dass Verleger über die “Alles kostenlos”-Mentalität im Internet klagen.
Die “Bild am Sonntag” hat sich offenbar eine neue Taktik zu dem Thema überlegt. Während Leser (also Käufer) der Print-Ausgabe eine fehlerfrei beschriftete Grafik zum Thema Parkinson zu Gesicht kriegen, müssen Besucher von Bild.de mit sowas hier Vorlieb nehmen:
Mit Dank an Diana S.
Nachtrag, 28. Juli: Vermutlich wurden ausreichend Print-Ausgaben abgesetzt, denn nun dürfen auch die Online-Leser die korrekte Version sehen.
Wie muss man es sich eigentlich vorstellen, wenn man “fast” von einem Alligator gefressen wird? Im Falle des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein ist es so, dass der sich das offensichtlich als ein lustiges Abenteuer vorstellt. Im Interview mit der “Augsburger Allgemeinen” jedenfalls erzählt er ziemlich gut gelaunt und entspannt von einem aktuellen Urlaubserlebnis:
Haben Sie die neue Freizeit heuer schon einmal für Urlaub genutzt?
Beckstein: Ich war in den USA.
Wo?
Beckstein: In Florida.
Wie war’s?
Beckstein: Spannend. Um ein Haar wäre ich von einem Alligator gefressen worden!
Wie bitte?
Das “spannende” Erlebnis, beinahe gefressen zu werden, ist der “Augsburger Allgemeinen” gleich mal eine Überschrift wert — und auch Bild.de und der “Münchner Merkur” in seiner Online-Ausgabe haben schon eine weitgehend klare Vorstellung davon, wie das sein muss, wenn man in den amerikanischen Everglades mit einem Boot kentert und als leckere, exotische Hauptmahlzeit ausgemacht wird:
Schließlich schildert Beckstein den dramatischen Moment, als er den schwimmenden Monstern gerade eben nochmal entkam. Nämlich so:
“Meine Frau und ich fuhren in einem Kanu durch die Everglades und beobachteten Schildkröten und riesige Alligatoren – plötzlich kenterten wir”, sagte Beckstein. “Doch Gott sei Dank griff uns kein Alligator an.”
Das — so befand man bei dpa — darf man einer guten Nachrichtenagenda keineswegs vorenthalten. Der Leadsatz ihrer Vorab-Meldung vom Freitag liest sich demenstprechend trocken und seriös:
Bayerns ehemaliger Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) wäre bei seinem jüngsten USA-Urlaub beinahe von einem Alligator gefressen worden.
Gestern wurden alle Profis sowie die Geschäftsführung nach nur einem Jahr schon wieder mit neuen Dienstfahrzeugen von Sponsor Volkswagen ausgerüstet.
Ach so.
Betrachtet man die Bildergalerie aber genauer, in der Bild.de gleich 37 Dienstwagen der Spieler und Funktionäre von Werder Bremen präsentiert, dürfte sich der Neid in Grenzen halten.
Man muss sich nur mal ansehen, wie viele Personen sich offenbar ein und denselben Wagen teilen müssen:
Und damit nicht genug — für manche Kollegen muss das Fahrzeug auch noch jedes Mal umlackiert werden:
Aber auch, wer sich gegen einen Touareg entschied, hatte irgendwie Pech: