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Alle fünf mal grade weglassen

Der Lissabon-Vertrag, über dessen Rechtmäßigkeit heute das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, hatte bei der Abstimmung im Bundestag im vergangenen Jahr eine breite Mehrheit gefunden. Aber ganz so dramatisch, wie es “Spiegel Online” heute darstellt, ist es dann doch nicht. Dort hieß es zunächst:

Die CSU-Abgeordneten Gauweiler und Willy Wimmer hatten als einzige gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt.

Dabei hat die Fraktion der “Linken”, die auch gegen den Vertrag geklagt hat, schon damals fast geschlossen gegen den Gesetzesentwurf der Bundesregierung gestimmt. Offenbar hat das irgendwann auch jemand bei “Spiegel Online” gemerkt und nebenbei die Parteimitgliedschaft von Willy Wimmer korrigiert. Nun lautet die Passage:

Die Unions-Abgeordneten Gauweiler (CSU) und Willy Wimmer (CDU) hatten als einzige aus ihrer Fraktion im April 2008 im Bundestag gegen den Lissabon-Vertrag gestimmt.

Doch auch das stimmt nicht. Übersehen hat “Spiegel Online” noch fünf weitere Unionsabgeordnete, darunter auch den heutigen CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, die gegen den Vertrag stimmten. Was übrigens gar nicht schwer herauszufinden gewesen wäre, schließlich sind alle namentlichen Abstimmungen auf der Webseite des Bundestags fein säuberlich dokumentiert.

Als die Nachrichtenagentur AFP dann aber um 11.35 Uhr eine Meldung absetzte, die sich weitgehend auf “Spiegel Online” beruft, kam es (womöglich beim Kopieren) zu einer nicht nur faktisch, sondern auch grammatisch unglücklichen Formulierung:

Wimmer hatte zusammen mit Gauweiler als einzige Abgeordnete der Unionsfraktion im April 2008 gegen den EU-Verfassungsvertrag im Bundestag gestimmt.

Mit Dank an Fabian L.

Nachtrag, 20:30 Uhr. “Spiegel Online” hat sich korrigiert.

AFP, heise.de  etc.

Schüler entdeckt Formel für Welt-Schlagzeilen

Versuchen wir lieber gar nicht erst zu erklären, was die Bernoulli-Zahlen sind. Belassen wir es bei dem Satz: Sie sind der Stoff, aus dem Märchen sind.

Diese Geschichte beginnt in der Kleinstadt Falun in Mittelschweden. Ein 16-jähriger Einwanderer aus dem Irak schaffte es dort anscheinend auf eigene Faust, eine Formel für die Bernoulli-Zahlen zu finden — eine Aufgabe, die sonst eine Herausforderung für gestandene Mathematiker ist. Es war kein Durchbruch für die Mathematik, aber für den jungen Mann. Ein Mathematikprofessor der Universität Uppsala sagte der schwedischen Nachrichtenagentur TT, der 16-Jährige habe nichts herausgefunden, was bislang unbekannt war. Aber wenn er allein auf die Lösung gekommen sei, wofür vieles spräche, sei das eine erstaunliche Leistung für einen Oberschüler — und man würde sich freuen, wenn er einmal bei ihnen an der Uni studieren würde.

Eine kleine, regionale Geschichte aus dem Vermischten.

Allerdings machte die örtliche Zeitung “Falu Kuriren” aus der Entdeckung eines möglichen Mathe-Genies eine naturwissenschaftliche Sensation und behauptete, dass zuvor niemand eine entsprechende Formel gefunden habe. Und so ging die Meldung auf Weltreise. Die Nachrichtenagentur AFP meldete am Donnerstag:

Junger Iraker knackt Jahrhunderte altes Mathe-Rätsel

Wie die schwedische Zeitung “Dagens Nyheter” am Donnerstag berichtete, entwickelte der 16-jährige Mohamed Altoumaimi in nur vier Monaten eine Formel, um die sogenannten Bernoulli-Zahlen zu erklären und zu vereinfachen — Zahlenreihen, die nach dem Schweizer Mathematiker Jacob Bernoulli benannt sind und über die Mathematiker sich seit über dreihundert Jahren die Köpfe zerbrechen. (…)

(Ursprünglich hatte die Agentur den Mann noch “Bernouilli” genannt.)

Nun war die Geschichte also im Kern falsch, aber interessant. Die “taz” brachte sie am Freitag unter der Überschrift “Jahrhunderträtsel gelöst”; “Berliner Zeitung”, “B.Z.”, DiePresse.com, n-tv.de und viele andere übernahmen die AFP-Meldung. “Welt Online” fabulierte noch hinzu, dass für die “Bernolli-Zahlen” [sic] “bisher keine Formal [sic] existierte”.

Bereits am Freitag veröffentlichte die Universität Uppsala eine Pressemitteilung, in der sie den Meldungen und der Behauptung, man habe dem jungen Mann gleich einen Studienplatz gegeben, widersprach. Erstaunlicherweise weiß der englische Dienst von AFP von dem Dementi seit drei Tagen — und der deutsche bis heute nicht.

Über das Dementi berichtet heute auch der Nachrichtendienst “heise online”. Der Artikel beginnt mit dem Satz:

Im Internet kursieren derzeit Meldungen über einen spannenden Fall von mathematischer Frühbegabung.

“Im Internet”, soso. “heise online” selbst hatte die Falschmeldung mit Tagen Verspätung heute noch veröffentlicht, Überschrift: “16-Jähriger entwickelt Formel für Bernoulli-Zahlen”. Nach Leserhinweisen wurde die Aussage des Artikels klammheimlich ins Gegenteil verkehrt. Jeden Hinweis, dass man auch selbst der Ente aufgesessen war, ließ “heise online” weg. Bestimmt nur, um den eigenen Ruf nicht unnötig zu ruinieren.

Hat ja super geklappt.

Nachtrag, 1. Juni. “heise online” hat die Korrektur jetzt im Artikel transparent gemacht. (Und wir hatten den Schüler in der Überschrift ursprünglich einen Studenten genannt.)

Mit Dank an Mathias S. und Kai B.!

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