Heute demonstriert uns Bild.de an einem anschaulichen Beispiel, was diese komischen Medienethiker eigentlich mit dem Begriff “Vorverurteilung” meinen:
(Es geht um den Getränkelieferanten des türkischen Hotels, in dem Schüler aus Lübeck gepanschten Wodka tranken, was für drei von ihnen tödliche Folgen hatte.)
Bitte beachten Sie neben dem Urteil in der Überschrift und der im Original unverpixelten Abbildung der Verdächtigen auch den Artikel selbst, in dem es heißt:
Frank-Eckard Brand, Anwalt der Familie des verstorbenen Rafael N. (21), bezog sich zunächst auf eine türkische Anwältin, als er die Verhaftung des Getränkelieferanten veröffentlichte. Am Abend sagte er jedoch, es sei noch nicht klar, ob es sich bei dem Mann um den gesuchten Getränkelieferanten handele.
Inzwischen hat Bild.de der Überschrift immerhin ein halbherziges “?” spendiert.
Mit dieser Schlagzeile brachte die “Bild am Sonntag” am vergangenen Wochenende einen vier Monaten alten Entwurf der Europäischen Kommission in den Blickpunkt der Öffentlichkeit:
Nach dem Vorschlag der Kommission sollen Asylbewerber in Europa prinzipiell die gleichen Leistungen erhalten wie einheimische Sozialhilfeempfänger. Darüber kann man politisch natürlich streiten. Die Art, wie diese Diskussion sich gerade entwickelt, ist aber wesentlich von den Verkürzungen und Verdrehungen geprägt, mit denen die “Bild am Sonntag” den Entwurf gemeinsam mit konservativen Politikern skandalisiert hat.
Die “Bild am Sonntag” schrieb über den Entwurf:
Der Kontrast, den die Zeitung zwischen “Bislang” (Sachleistungen) und “Künftig” (viel Geld) aufmacht, ist grob irreführend. Denn der Entwurf der EU-Kommission betont ausdrücklich, dass die Unterstützung weiterhin auch “in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder Gutscheinen” gewährt werden kann. Auch die Unterbringung zum Beispiel in Unterkünften für Asylbewerber gehört dazu.
Dank der Nachrichtenagentur dpa, die die “BamS”-Meldung am Sonntagvormittag ungeprüft übernahm und weiterverbreitete, fand der falsche Gegensatz mit den Sachleistungen seinen Weg in viele Medien.
Die “Bild am Sonntag” zitierte aus dem Entwurf:
Vielleicht interessiert Sie, was anstelle der “(…)” steht:
…, auf den sich die Asylbewerbern im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen belaufen, …
Mag natürlich sein, dass die drei “Bild am Sonntag”-Autoren diesen Nebensatz wegen des grauenhaften Beamtendeutsches weggelassen haben (Lesehilfe: das “die” bezieht sich auf “Leistungen”). Andererseits hätte die Formulierung von den “materiellen Leistungen” dem unbefangenen Leser vielleicht eine Ahnung davon gegeben, dass hier keineswegs nur die Rede von Barzahlungen ist.
Dass sich der Satz auch in vielen anderen Zeitungen nur gekürzt wiederfand, liegt ebenfalls an dpa. Die Agentur zitierte noch am Sonntagnachmittag den Text lieber aus der “BamS” (“Im Kommissions-Entwurf heißt es laut Zeitung”) anstatt einfach im Internetangebot der EU-Kommission das Orignal nachzuschlagen und sich — wie die Konkurrenz von AP — ein eigenes Bild zu machen.
Die “Bild am Sonntag” erwähnte übrigens auch nicht, wie hoch der heutige Anspruch von Asylbewerbern auf Leistungen ist, die den 351 Euro von Arbeitslosengeld-II-Empfängern (“Hartz IV”) entsprechen: 224,97 Euro. Der Betrag ist seit 1993 unverändert, wurde also seit 15 Jahren nicht der Inflation angepasst.
Stattdessen zitierte das Blatt den CSU-Politiker Weber mit dem Satz: “Es ist nicht akzeptabel, dass ein Asylbewerber die gleichen Leistungen erhält, wie jemand der jahrzehntelang Steuern und Sozialabgaben bezahlt hat.” Ein Hinweis, dass diese Leistungen auch ein deutscher Staatsangehöriger erhält, der in seinem Leben keinen einzigen Cent Steuern und Sozialabgaben bezahlt hat, erschien den “BamS”-Leuten wohl nicht opportun.
Die “Bild”-Zeitung, das Pro-Sieben-Magazin “taff” und die “Welt am Sonntag” waren nicht die einzigen, die im Bilderrausch nach dem Amoklauf von Winnenden Fotos von Unschuldigen zeigten und behaupteten, es handle sich um den Täter Tim K.
Am Tag der Tat hatte stern.de noch die atemlos bloggenden und twitternden Amateure im Netz, den “Pöbel”, dafür verantwortlich gemacht, dass Unbeteiligte mit dem Amokläufer verwechselt wurden. Die Profis vom “Stern” dagegen schafften es, noch eine Woche später ein Foto zu veröffentlichen, das ihnen nun folgende Gegendarstellung einbrachte:
Immerhin scheint das im selben “Stern”-Artikel abgebildete “Freundschaftsbuch einer Klassenkameradin”, in das Tim K. als Neunjähriger schrieb, dass seine Lieblingsfarbe “blau” sei, und in dem er sein Leibgericht mit “Kroketen” angab, authentisch gewesen zu sein. Das ist doch was.
1500 Personen zwischen 14 bis 69 in der Deutsch- und Westschweiz wurden von der Werbeagentur Advico Young & Rubicam für die Studie “Media Use Index 2009” befragt. Ergebnisse: Das wichtigste Medium ist das Internet (54.8%) vor den Tageszeitungen (35.5%), TV (33.8%), Radio (33.5%) und Mobiltelefon (32.5%). Die wichtigsten Medienmarken der 14-27jährigen: Facebook (Social Media, 49.5%), 20 Minuten (Gratiszeitung, 42.2%), Pro7 (TV-Sender, 35.8%), SF2 (TV-Sender, 33.8%), msn (Chat, 29.0%), YouTube (Videoportal, 29%), SF1 (TV-Sender, 27.9%).
“Mehrere Medienverbände und Verbraucherschützer kritisieren die Absicht der Bundesländer, bezahlte Produktplatzierungen in Fernsehsendungen teilweise zuzulassen. Durch die Legalisierung des sogenannten Product-Placements verlören alle Medien, nicht nur das Fernsehen, ‘da ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt wird’, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Dietmar Wolff, am 3. April in Berlin.”
“Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, vor allem mehr Unwahres: Was es zeigt, ist keine angetroffene, sondern eine vom Fotografen arrangierte Wirklichkeit. Gelegentlich gibt er das Konstruierte zu erkennen, in andern Fällen muss der Betrachter die verdeckte Absicht selbst entdecken.”
“Ohne viel Aufhebens ist in den USA ein seit 18 Jahren bestehendes Verbot aufgehoben worden: Erstmals dürfen Medien wieder in Bildern von der Heimkehr getöteter Soldaten aus dem Ausland berichten.”
“Ich stelle nur fest, dass dieses ‘Irgendwas mit Medien’-Gefühl momentan immer stärker verbreitet. Vor allem in der Gruppe derer, die dubios irgendetwas vor sich hin studieren oder vielleicht den FH-Kurs ‘Journalismus’ machen, verdichten sich diese Unklarheiten gerade zunehmend.”
Fangen wir mit einer kleinen, aber typischen Sache an.
Haben Sie vergangene Woche auch gehört, dass der Einzelhandel über die Abwrackprämie stöhnt? Weil die Menschen ihretwegen weniger Geld für Dinge ausgeben, die keine Autos sind? Möglicherweise stimmt das sogar. Aber die Zahlen, die der Anlass für die Behauptung sind, geben das nicht her.
Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass die Umsätze im Einzelhandel im Februar um beunruhigend klingende 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurückgegangen seien. Die Nachrichtenagentur Reuters begann ihre Meldung deshalb mit dem Satz:
Die Abwrackprämie verdirbt Kaufhäusern, Supermärkten und dem Versandhandel das Geschäft.
Nun hatte der Februar 2008 allerdings etwas, das der Februar 2009 nicht hatte: einen 29. Tag. Dank des Schaltjahres brachte er es auf 25 Einkaufstage, in diesem Jahr waren es nur 24. Das entspricht einem Rückgang von: 4 Prozent.
Reuters erwähnt den fehlenden Verkaufstag sogar beiläufig, zieht aber keine Schlüsse daraus, dass sich ein großer Teil des ach so dramatischen Umsatzrückgangs also ganz banal dadurch erklären ließe, dass der Februar kürzer war — was natürlich weder in die Stimmung passt, noch für knackigeÜberschriften taugt:
Die “Financial Times Deutschland” ging noch weiter, ließ den Hinweis auf den kürzeren Monat ganz weg und schloss aus dem Umsatzminus schlicht und laut:
Rezession würgt Umsätze im Einzelhandel ab
Immerhin: Spätestens im Februar 2012 müsste es dann ja abrupt wieder bergauf gehen.
Mit Dank an Matthias Schrade und sein Blog “Börsenalltag”.
Gibt es nicht schon viel zu viel Erbsenzählerei, Besserwisserei und Bastiansickness auf der Welt? Und muss es nicht auch irgendwie ungesund für einen netten Menschen wie Stefan Niggemeier sein, sich so viel mit dem Schlechtfinden anstatt mit dem Gutfinden oder dem Ausdenken neuer, ganz anderer Dinge zu befassen? Ja und ja, und trotzdem brauchen wir dringend mehr Watchblogs. Denn der Mensch ist ein träges Geschöpf, das sich durch gute Vorsätze wie “ordentlich recherchieren” und “nicht immer lauter haltlosen Unfug in die Zeitung schreiben” nur begrenzt motivieren lässt. Eine viel robustere Antriebskraft ist der Wunsch, von anderen Menschen nicht bescheuert gefunden zu werden. Das erklärt David Simon, Autor der Serie “The Wire”, in einem Interview, das Nick Hornby 2007 geführt hat:
“Ich will, dass Mordermittler, Dealer, Hafenarbeiter oder Politiker in Amerika sagen können: Tatsache, genau so sieht mein Tag aus. Das ist mein Ziel. Und zwar nicht aus Stolz oder Ehrgeiz oder irgendeiner Autoreneitelkeit heraus, sondern aus Angst. Nackter Angst. Wie viele Autoren beschäftigt mich ständig der vage Albtraum, dass sich eines Tages jemand, der mehr vom Thema versteht als ich, hinsetzt und in epischer Breite auflistet, in welchen Punkten meine Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbherzigen Annahmen fußen. Ich trage das Autorenetikett, und ich kriege gute Rezensionen, aber bei allem Erfolg hege ich immer noch die gleichen latenten Zweifel. Ich nehme an, so geht es sehr vielen Autoren.”
Das mag stimmen, aber es gibt eben auch sehr viele Autoren, deren Texte oberflächlicher Betrug sind und auf lahmen, halbgaren Annahmen fußen, und die nie von solchen Vorstellungen heimgesucht werden. Was daran liegt, dass es in der Praxis einfach viel zu selten vorkommt, dass jemand, der mehr vom Thema versteht als man selbst, sich hinsetzt und ganz genau auflistet, wo man überall schlampig gearbeitet hat.
Der Ethnologe Richard K. Nelson hat in den 1960er Jahren Orientierungstechniken der Inuit in Alaska untersucht und dabei unter anderem die öffentliche Bloßstellung als Motivationsinstrument beschrieben. Junge Inuit begleiten Erfahrenere auf der Jagd und werden bei jedem Fehler zurechtgewiesen und verspottet. Später erzählt man die Fehler überall herum, damit auch die Nichtdabeigewesenen noch einmal wie Nelson Muntz bei den Simpsons mit dem Finger auf den armen Trottel zeigen und “Ha-ha!” rufen können. “Die Angst vor solchem Spott”, so Nelson (jetzt wieder der Ethnologe, nicht die Simpsonsfigur), “zwingt den Eskimo dazu, sich solide Navigationskenntnisse anzueignen und bei seinen Unternehmungen Vorsicht walten zu lassen”. (Ich habe die Originalquelle übrigens nicht gelesen und zitiere hier nur fahrlässig aus der Sekundärliteratur; diejenigen Leser, die ordentliche Journalisten sein oder werden wollen, machen das bitte zu Hause nicht nach.) (Immerhin habe ich mir die Mühe gemacht, herauszufinden, ob Nelson auch auf Deutsch ein “Kulturanthropologe” ist. Ist er nicht.)
Recherche ist ein zeitraubendes und oft gar nicht besonders interessantes Ding. Man wird in den seltensten Fällen für sie bezahlt, und 99,97% aller Leser des fertigen Artikels nehmen Dahinbehauptetes entweder für bare Münze oder sind zu träge, sich zu beschweren, selbst wenn offensichtlich erfundene Statistiken zum Einsatz kommen. Das macht das gründliche Recherchieren (wie so viele andere Tätigkeiten, die mit “gründlich” anfangen) zu einer Beschäftigung, der sich kein normaler Mensch freiwillig widmet. So wie Ärzte und anderes Krankenhauspersonal mehrmals täglich dazu angehalten werden müssen, sich die Hände zu waschen, weil sie es trotz aller Einsicht eben nicht von sich aus tun, so muss irgendjemand sich die Mühe machen, mehrmals täglich mit dem Finger auf schludrige Journalisten zeigen und “Ha-ha!” zu rufen. Weil es der Weltverbesserung dient.
Lisa Rank schreibt als freie Journalistin einen Text zur re:publica’09 für die taz. Doch dieser wird vom Chef vom Dienst so umgeschrieben, dass er nicht mehr im Sinne der Journalistin ist. In den Kommentaren zur gebloggten Korrektur reagiert der betreffende CvD, Sebastian Heiser (Kommentar 18): “Es war nicht meine Absicht, Lisa dort eine Meinung reinzuschreiben, die nicht ihre ist. Ich habe mich daher bei ihr bereits entschuldigt.”
“Meines Erachtens braucht die re:publica im nächsten Jahr ein neues Konzept, intensiveres Briefing der Vortragenden und eine gehörige Komplexitätsreduktion. Weniger parallele Veranstaltungen, mehr Fokus auf die Zukunft und bitte nicht immer die gleichen Nasen auf der Bühne. Bitte kein Status Quo mehr, auch das gehört zum Shift!”
“ein klassiker unter bloggern ist ja, den journalisten (zu recht) mangelnde recherche, oberflächlichkeit oder die falschen themen vorzuwerfen. selbst zu telefonieren, selbst nachzufragen oder selbst recherchieren, dazu hat aber auch keiner bock. blogger weisen dann gerne darauf hin, dass man ohne presseausweis ja eh nix machen könne als von anderen seiten zu zitieren. was natürlich quark ist wer o-töne haben, mit politikern reden, auf einen parteitag oder in den bundestag will, bekommt das auch so hin — wenn er will.”
“Es gibt Ausnahmen, aber Frauen schreiben vor allem über ihren Freundeskreis und Liebeleien, darüber, wie sie ihre kleine oder große Familie wuppen und wie anstrengend und frustrierend das bisweilen ist, wenn Männer mit Vorliebe alte Klischees bedienen.”
“So ganz sicher bin ich mir allerdings nach diesen Tagen nicht, ob ich wirklich Ahnung vom Internet habe. Diese Konferenz hat mich etwas durcheinander gebracht. Bisher dachte ich, überdurchschnittlich viel Internet zu konsumieren und zu wissen, was ich da mache. Aber da sind Leute vor Ort gewesen, die echte Ahnung hatten. Andere wiederrum waren einfach nur Freaks oder Geeks.”
Wer die hörenswerte Rede von Cory Doctorow verpasst hat oder wem er passagenweise doch etwas zu schnell redete, kann es ja nochmals versuchen. Andere Videobeiträge von der re:publica’09 gibt’s unter make.tv/republica2009, zum Beispiel die Vorträge von Lawrence Lessig, Peter Glaser oder Jimbo Wales.
Das Bildblog beschäftigt sich ab heute nicht mehr ausschliesslich mit der Bild-Zeitung, sondern nimmt sich neu auch anderer Medien an. Der abtretende Hauptblogger, Christoph Schultheis, spricht über seine viereinhalb Jahre bei Bildblog: “Ein Bild-Opfer hat mir beispielsweise mal glaubwürdig berichtet, es sei nach einem gewissenlosen Artikel in dem Blatt von Passanten auf der Straße angespuckt worden. Das wünsche ich niemandem.”
Patrik Müller wurde mit 31 Jahren Chefredakteur des Sonntag, einer neuen Schweizer Sonntagszeitung aus der Vorstadt, die sich wider Erwarten anderer Journalisten einen Platz erkämpfen konnte. Mutige Personalentscheide bleiben aber die Ausnahme: “Bei Ringier habe ich erlebt, dass gewisse Chefs Angst haben, bessere Leute zu engagieren, weil ihnen diese gefährlich werden könnten.”
Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer der taz, kommt die aktuelle Wirtschaftslage offenbar entgegen: “Man muss fast zynisch sagen: Hoffentlich geht die Krise weiter”. Dennoch sieht man sich als bürgerliche Zeitung: “Wir sind Teil einer bürgerlichen Gesellschaft, sind eine bürgerliche Zeitung. Aber das wissen nicht alle.“
Der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, Bernd Buchholz, glaubt, dass sich einige Verlage “mit dem Schlucken unreifer Früchte den Magen verdorben” haben und meint damit die Internetstrategie. Auf die Frage, ob er Chef eines sterbenden Mediums geworden sei, sagt er: “So ein Quatsch.”
Die NZZ stellt das Projekt The Public Press vor, das sich aus “Redaktoren, Reporter und Fotografen, die in der Zeitungskrise ihren Job verloren haben”, rekrutiert: “Die Nachrichtenredaktorin ist die einzige Festangestellte mit einem Gehalt, alle anderen arbeiten ohne Bezahlung. Neun feste Schreiber und drei Fotografen stellen den Kern; der Rest wird von Freien zugeliefert.”
Nicht erschrecken: BILDblog verändert sich. Aber wir bleiben uns treu.
Aus BILDblog wird am Montag BILDblog für alle. Wir schauen über “Bild” hinaus und nehmen uns auch anderer Medien an. Sie haben es sich verdient.
Es ist nicht so, dass uns der Stoff ausgegangen wäre. Wir haben zwar den Eindruck, dass die Zahl der besonders krassen Lügengeschichten in “Bild” seit einiger Zeit zurück gegangen ist; der neue Unterhaltungsschef scheint weniger auf erpresserische Methoden bei der Informationsbeschaffung zu setzen, und Bild.de ist nicht mehr ganz das Schleichwerbeportal, das es einmal war.
Andererseits spricht wenig dafür, dass “Bild” im Kern eine bessere Zeitung geworden wäre und plötzlich Respekt vor so abwegigen Dingen wie der Wahrheit oder den Persönlichkeitsrechten von Menschen entwickelt hätte.
Aber es ging uns nie nur um die “Bild”-Zeitung, sondern um ihre Macht als (trotz allem noch) viel gelesenes und für wichtig genommenes Leitmedium. Von Anfang an stand über unserer Arbeit der Satz: “Was heute in ‘Bild’ steht, steht morgen überall”. In den vergangenen viereinhalb Jahren haben wir eine Menge darüber erzählt, was so “in ‘Bild'” steht. Jetzt haben wir Lust, uns dem “überall” zuzuwenden.
Beim Amoklauf von Winnenden zeigte nicht nur die “Bild”-Zeitung mit ihrer Mischung aus Schlampigkeit und Skrupellosigkeit ihr wahres Gesicht. Auch die Berichterstattung vieler anderer Medien über dieses Ereignis war erbärmlich. Am Sonntag versuchte die “Bild am Sonntag”, mit privaten Bildern der Opfer auf der Titelseite Auflage zu machen — am Montag erschien der “Focus” mit fast identischem Cover. Fernsehsender überschritten viele Grenzen. Die “Welt am Sonntag” veröffentlichte ein großes Foto von einem Jungen und erweckte den Eindruck, es handele sich um den Attentäter — dass es sich nur um einen unschuldigen Besucher der Trauerfeier handelte, stellte das Blatt auch im Nachhinein nicht klar; Nachfragen ignorierte der Chefredakteur Thomas Schmid einfach.
Es gibt viele Beispiele dafür, wie deutsche Medien ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Oft fehlt es schon an der schlichten Bereitschaft, eigene Fehler zu korrigieren. Sinkende Werbeerlöse und der Medienumbruch bedrohen gerade die Qualität: Die Verlockung wächst, mit Schleichwerbung die Einnahmen aufzupeppen; oft fehlt es an Geld oder Personal, um nicht nur Texte von Kollegen oder PR-Leuten abzuschreiben, sondern selbst zu recherchieren. Noch nie war es so leicht für Falschmeldungen, in kurzer Zeit weite Verbreitung zu finden.
Was wir dagegen setzen wollen, ist dasselbe wie bisher: Aufklärung. Wir glauben, dass es hilft, die Fehler und Abgründe öffentlich zu machen — die kleinen Pannen und die große Desinformation. Damit deutlich wird, wie wichtig es ist, in Qualität zu investieren.
Im vergangenen Dezember haben wir das Konzept “BILDblog für alle” schon einmal ausprobiert und unter anderem berichtet, wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im Reiseteil für die Lufthansa wirbt und “Spiegel Online” im Autoteil für Audi, wie der “Remscheider General-Anzeiger” an dem Versuch scheitert, über HIV und Aids aufzuklären, und wie der “Spiegel” die Geschichte klittert, um Stimmung für ein Konjunkturprogramm zu machen. An diesen Versuch wollen wir ab Montag anknüpfen. Und wir sind dabei, wie schon bisher, auf Ihre Mithilfe angewiesen. Bitte unterstützen Sie uns durch “sachdienliche Hinweise”, wenn Ihnen Fehler und Falschmeldungen auffallen, in welchem Medium auch immer. Nach dem alten BILDblog-Motto: “Die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme.”
Stefan Niggemeier und Lukas Heinser sind wie bisher dabei; neu ins Team kommt der freie Journalist, Blogger und Journalistenausbilder Christian Jakubetz. Den Namen BILDblog wollen wir beibehalten, weil er für die Art von unideologischer Medienkritik steht, die wir weiter pflegen wollen. Es ist zu befürchten, dass “Bild” darin auch in Zukunft eine tragende Rolle spielen wird.
Danke für die sensationelle Unterstützung in den vergangenen fast fünf Jahren! Wir hoffen, dass Sie uns gewogen bleiben.
Am Montag fand ein Spaziergänger in Bruckberg bei Landshut die Überreste einer Leiche. Die Polizei vermutet, es könnte sich um einen Mann handeln, der 1980 verschwand, um sich das Leben zu nehmen.
Der Mann sei “in elf Meter Höhe in einer Fichte” gefunden worden, weiß “Bild” und folgert:
Offenbar wuchs die Leiche nach dem Selbstmord mit dem Baum in die Höhe.
Das wäre allerdings eine botanische Sensation. Denn Bäume wachsen bekanntlich nur an ihrer Spitze. Kindern erklärt man das (aus naheliegenden Gründen) meist nicht mit festgebundenen Selbstmördern, sondern in die Borke geritzten Herzen: Die befinden sich auch Jahrzehnte später noch auf derselben Höhe.
Mit Dank an Alexander H., Gereon H., Florian J., Torsten R. und René K.!