Der untote Fußball

Empört berichtete der Düsseldorfer “Express” am Mittwoch über die Verurteilung des Jugendfußballers Enver Yilmaz zu 2.000 Euro Schmerzensgeld wegen eines Foulspiels.

2.000 € Schmerzensgeld: Urteil erschüttert die Fußballwelt

Als Enver Yilmaz noch für die Spvg Odenkirchen spielte, hatte er bei einem Pokalspiel gegen den 1. FC Mönchengladbach seinen Gegenspieler gefoult. Ein zweifacher Beinbruch war die Folge und eine Strafanzeige zwei Wochen später. Das Strafverfahren wurde vom Richter eingestellt, eine später eingereichte Zivilklage endete nun aber mit einem Schmerzensgeld von 2.000 Euro.

Der “Express”-Reporter ließ keinen Zweifel daran, was er vom Urteil hält: Er fragt “Kann man jetzt nur noch in anwaltlicher Begleitung kicken?”, nennt die Entscheidung der Richterin “unglaublich” und zitiert den Geschäftsführer des Fußballkreises Düsseldorf, der das Urteil für den “Tod des Fußballs” hält.

Denn dieses Urteil ist einmalig.

schreibt der “Express” und legt so nahe, dass es so etwas in der Geschichte des Fußballs noch nicht gegeben habe. Doch in der Vergangenheit gab es schon häufiger Schmerzensgeldforderungen verletzter Spieler vor Gericht, so mancher Klage wurde stattgegeben.

So hat das Landgericht Münster im Jahr 2002 einen Fußballer zu einer Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 4.500 Euro und Schadensersatz verurteilt und allein im Fußballkreis Bochum gibt es mehre Fälle von erfolgreichen Schmerzensgeld- und Schadensersatzklagen, wie “Reviersport” schon vor drei Jahren berichtete.

Auch international gab es schon vergleichbare Fälle: In Großbritannien wurde beispielsweise der australische Nationalspieler Kevin Muscat zu einem horrenden Schmerzensgeld verurteilt, nachdem er 1998 dem englischen Fußball-Profi Matty Holmes ein Bein gebrochen hatte.

Besonders spektakulär war allerdings der Fall Rachid Bouaouzan von Sparta Rotterdam, der zu einem Schmerzensgeld von 100.000 Euro und 6 Monaten Haft verurteilt wurde, weil er einen Gegenspieler gefoult hatte. Daran konnte auch ein Einspruch vor dem Obersten Gerichtshof nichts ändern.

Andere Medien fanden die “Express”-Story so spannend, dass sie sich davon inspirieren ließen. sport.t-online.de und fussball.de erklärten unisono:

Der Fall, der jetzt vor das Oberlandesgericht Frymuth geht, dürfte den DFB in Alarmbereitschaft setzen.

Dabei haben sie offenbar einen Punkt übersehen. Der “Express” hatte nämlich geschrieben:

Der Fall geht jetzt vor das Oberlandesgericht. Frymuth: “Wenn nötig, unterstützen wir den Spieler dabei.”

Peter Frymuth ist Präsident von Fortuna Düsseldorf und Vorsitzender des DFB-Jugendausschusses. Die Artikel bei t-online.de und fussball.de sind inzwischen offline.

Mit großem Dank an Ralf M.

RTL, Vögel, Hademar Bankhofer

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Anti-Menschenwürde-Sender”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
Michael Spreng, langjähriger Chefredakteur von “Bild am Sonntag”, appelliert an “die gesellschaftliche Verantwortung” von RTL. “Nicht alles, was Menschen scheinbar freiwillig mit sich geschehen lassen, ist auch verantwortbar. Wenn Landesmedienanstalten überhaupt einen Sinn haben, dann den, über den Schutz der Menschenwürde zu wachen.”

2. “Letztlich etwas sehr Rührendes”
(lawblog.de, Udo Vetter)
Udo Vetter dokumentiert eine Antwort der Niedersächsischen Landesmedienanstalt (NLM) auf eine Beschwerde eines Zuschauers zur RTL-Sendung “Schwiegertochter gesucht”. “Nach deren Lektüre kann man sich durchaus fragen, wie ernst die NLM ihren Job nimmt. Jedenfalls hat man offensichtlich großen Spaß bei der Bearbeitung (und dem Abbügeln) solcher Beschwerden.”

3. “Wie viel Dschungelcamp soll in die taz?”
(blogs.taz.de/hausblog, Sebastian Heiser)
“taz”-Leser möchten nichts über die RTL-Sendung “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” lesen: “Hören Sie auf! Sofort! Es interessiert nicht!”

4. “Die Aufklärung des ‘mysteriösen’ Vogelsterbens”
(scienceblogs.de/astrodicticum-simplex, Florian Freistetter)
Die Anhäufung von verstorbenen Vögeln, ausgehend von einem am Neujahrstag in den USA tot aufgefundenen Vogelschwarm, wurde von einigen Medien zum Mysterium hochgeschrieben: “An den Vorfällen, die Anfang des Jahres stattgefunden haben ist nichts, was die ausführliche und hysterische Behandlung in den Medien rechtfertigen würde. Und an diesen Vorfällen war auch nichts ‘mysteriös’, wie oft immer wieder behauptet wird.”

5. “Bankhofer-Sendung: ‘… gegen das Schleichwerbeverbot verstoßen'”
(scienceblogs.de/plazeboalarm, Marcus Anhäuser)
Die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) rügt die Sendung “Der gesunde Weg” mit Hademar Bankhofer auf Bibel TV: “In dem Gesundheitsmagazin kamen u.a. Experten zu Wort, die über den Nutzen von bestimmten Produkten bzw. Wirkstoffen sprachen, von deren Verkauf sie wirtschaftlich profitieren.”

6. “Was weiß der Geier?”
(blogs.taz.de/reptilienfonds, Heiko Werning)
Arabische Medien spekulieren, dass ein eingefangener Geier, der mit einer auffälligen Flügelmarkierung und einem technischen Gerät mit hebräischen Schriftzeichen versehen war, im Auftrag von Israel Spionage betreiben sollte.

Wir sind Schwuchtel-Skandal!

Außenstehende verbinden mit der Stadt Köln – neben Rhein und Klüngel – vor allem die katholische Kirche (Dom), kalendarisch verordneten Frohsinn (Karneval) und den Westdeutschen Rundfunk (WDR). Diese drei Zutaten reichen oft schon, um schöne Geschichten zu erzählen.

So wie diese hier: Die satirische Karnevalsveranstaltung “Stunksitzung”, die traditionell ein schlechtes Verhältnis zur katholischen Kirche pflegt, hat in diesem Jahr einen Sketch im Programm, in dem der Kabarettist Bruno Schmitz als Bischof Walter Mixa verkleidet zu einer Weinprobe lädt.

Was Schmitz/Mixa dabei erzählt, hat “Bild”-Reporter Michael Bischoff (hihi) so missfallen, dass er daraus ausgiebig zitieren musste:

Er bezeichnet Papst Benedikt als “das Frettchen des Herrn, dumm wie eine Rolle Oblaten, umgeben von servilen Höflingen.”

Und weiter: “Aber der Höhepunkt war der Weltjugendtag (2005/Anm.der Redaktion) hier in Köln: Benedikt und Joachim, der zum-Lachen-in-den-Keller-geht-Meisner, ließen sich wie zwei frischvermählte Schwuchteln über den Rhein schippern. Ich bin ja der letzte, der etwas gegen Homosexualität hat, aber doch nicht mit so alten Knochen. Da haben wir in der Katholischen Kirche ganz andere Möglichkeiten. Ich sag nur – Priesterseminar…”

Seitdem bemüht sich “Bild”, die Geschichte in Köln zum “Skandal” zu machen — mit durchaus unangenehmen Folgen für die Kabarettisten, wie der “Express” berichtet.

Heute nun meinte “Bild”, einen Erfolg vermelden zu können:

Nach BILD-Bericht: WDR schmeißt Schwuchtel-Stunker aus der Sendung

Die Zeitung schreibt sich auf die Fahnen, die “bitterböse Verunglimpfung des Heiligen Vaters und des Kardinals als Schwuchteln”, die inzwischen mehrere Tausend Zuschauer im Kölner E-Werk gesehen haben, “öffentlich gemacht” zu haben, und berichtet:

Aber jetzt reagiert der WDR: Die Szene der Stunksitzung fliegt schon vor der Aufzeichnung aus dem Programm!

“Das geht bei uns so auf keinen Fall über den Sender!”, erklärte WDR-Sprecherin Kristina Bausch gestern. Den Schwuchtel-Stunk gibt’s also im TV weder in der 90-Minuten-Fassung am 3. März (22 Uhr), noch in der Langversion zwei Tage später (0.30 bis 3.30 Uhr). Auch nicht im Hörfunk auf WDR 5.

Auch das Kölner Domradio und die Katholische Nachrichten Agentur (kna), die der katholischen Kirche fast so nahe stehen wie “Bild”, vermeldeten, der WDR werde auf eine Ausstrahlung der “Papst-Verspottung” verzichten.

Doch die Website koeln.de erklärte heute Mittag, was der WDR uns auf Anfrage noch einmal bestätigte: Eine Entscheidung über eine mögliche Nicht-Ausstrahlung der Szenen werde erst nach der Aufzeichnung am 11. und 12. Februar gefällt.

Zwar sei es sehr wahrscheinlich, dass der Sketch in seiner jetzigen Form nicht gesendet werde (deswegen die Aussage “Das geht bei uns so auf keinen Fall über den Sender!”), aber es sei ja möglich, wenn auch unwahrscheinlich, dass das Ensemble der Stunksitzung den Sketch selbst noch überarbeite.

Die kna ruderte am Nachmittag zurück und verkündete am Nachmittag in einer zweiten Meldung eine Selbstverständlichkeit:

Der WDR will eine umstrittene Passage aus der Kölner “Stunksitzung”, in der Papst Benedikt XVI. und Kardinal Joachim Meisner verunglimpft werden, vor Ausstrahlung im Fernsehen überprüfen.

Die WDR-Fernsehdirektorin Verena Kulenkampff erklärte dazu:

Unsere Redakteurinnen und Redakteure schauen sich die Version der Stunker, die bei den Aufzeichnungsterminen am 11. und 12. Februar gespielt wird, ganz genau an. Erst danach entscheiden wir: Sollten Teile davon unseren Programmgrundsätzen widersprechen, werden wir sie
selbstverständlich nicht senden.

Der WDR legt außerdem Wert darauf, schon vor dem empörten Bericht der “Bild”-Zeitung (die die Verunglimpfung religiöser Gefühle in anderen Fällen auch schon mal “mutig” findet), gewusst zu haben, was ihn bei der diesjährigen Stunksitzung erwartet: Redakteure seien bereits Anfang Januar bei einer Aufführung gewesen.

Mit Dank an Flo.

Bild  

Hier werden Schlagzeilen geboren

Die Fans jubeln: Dortmund feiert seine Meister schon

So berichtet “Bild” heute groß in der Ruhrgebietsausgabe über ein Transparent auf dem Dortmunder Borsigplatz. Dass die Zeitung im ersten Satz behauptet, der BVB sei “souveräner Spitzenreiter mit 13 Punkten Vorsprung”, obwohl er nur 12 Punkte vor Hannover 96 liegt, ist dabei eher nebensächlich.

Denn es geht um das Banner selbst, über das “Bild” schreibt:

Na, da schau hin! Dortmund feiert schon seine Meister.

Am Borsigplatz, der Geburtsstätte des Traditionsklubs, leuchtet inzwischen weithin sichtbar dieses riesige, schwarzgelbe Jubel-Banner: Borsigplatz – Hier werden Meister geboren.

“Inzwischen” ist dabei eine gute Wortwahl, aber irgendwie fehlt da ein “wieder”. Mit dem Banner gratulierte der Gewerbeverein Borsiglatz dem BVB nämlich zum 100. Geburtstag, es hing schon im Herbst 2009 am Borsigplatz und war entsprechend auf die vergangenen Meisterschaften gemünzt. Im Sommer 2010 wurde das Transparent dann abgenommen und Anfang Dezember anlässlich der Herbstmeisterschaft “als Gag” wieder aufgehängt, wie uns der Gewerbeverein erklärte, der seit der Veröffentlichung auf Bild.de mit Anfragen von Journalisten überhäuft wird.

“Bild” hätte also schon vor sechs Wochen aufschreiben können, dass “in der Stadt die Euphorie” wachse. Oder vor einem Jahr. Nur hätte es da nicht so schön gepasst.

Mit Dank an Daniel, Dirk, Nora T. und Stephan U.

Kachelmann, Mandela, Giffords

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Im Namen der Öffentlichkeit”
(dradio.de, Brigitte Baetz)
Brigitte Baetz fasst nochmals die bisherigen Entwicklungen im Prozess gegen Jörg Kachelmann zusammen, befasst sich mit der parteiischen Berichterstattung vieler Medien und erinnert daran, wie Zeuginnen in den Medien zu sehen waren: “Alle drei Frauen gestylt wie Fotomodelle, versehen mit Exklusivverträgen über jeweils mehrere Tausend Euro. Ihre Aussagen vor Gericht machten sie dagegen unter Ausschluss der Öffentlichkeit – um ihr Privatleben zu schützen.”

2. “Wie das ‘Dschungelcamp’ hoffähig wurde”
(ndr.de, Tina Schober, Video, 5:44 Minuten)
“Was hier gesendet wird, hat mit Fernsehen nichts mehr zu tun”, sagte die damalige Bundesministerin Renate Künast 2004 über die RTL-Sendung “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!”. Inzwischen sind die Proteste dagegen fast verstummt.

3. “18.000 Euro ‘Kopfgeld’ für Promi-Fotos”
(meedia.de, ax)
“Verdiene Geld als Leser-Paparazzo!”, fordert viply.de ihre Leser auf. Die “Website für Hollywood-News” (hgm press) verspricht: “Für Deine Bilder beteiligen wir Dich am gesamten mit ihnen erzielten Gewinn und speisen Dich nicht einfach mit 100 oder 500 Euro ab!”

4. “Nelson Mandela und das Todesgerücht”
(badische-zeitung.de, Johannes Dieterich)
“Alle paar Wochen meldet irgendein Organ, dass der inzwischen 92-jährige Vater der Regenbogennation verstorben sei – und Ehefrau Grace, Ex-Frau Winnie, Tochter Zindzi oder Enkel Mandla haben das Gerücht dann wieder aus der Welt zu schaffen.” Dabei sei jedes Mal Eile geboten, “denn in internationalen Rundfunkanstalten wird bei solchen Gelegenheiten gleich Großalarm geschlagen und eine Mega-Maschinerie angeworfen”.

5. “How NPR’s Giffords Mistake Hurt The Families”
(npr.org/blogs/ombudsman, Alicia Shepard, englisch)
Alicia Shepard beschreibt, was die falsche Vermeldung des Tods von Gabrielle Giffords ausgelöst hat. “Simon, who first believed NPR’s report, also faced the emotional task of telling his two young daughters, who know Giffords well, that the congresswoman was dead, and later explaining that she wasn’t.”

6. “Ein kategorischer Imperativ und sieben Strategien für freie Journalisten”
(carta.info, Bernhard Pörksen)
Bernhard Pörksen stellt freien Journalisten sieben Strategien bereit. Ebenfalls lesenswert: “A manifesto for the simple scribe – my 25 commandments for journalists” (guardian.co.uk, Tim Radford, englisch).

Aldi macht Journalismus billig

Seit Montag ist es überall zu lesen: Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle hat Discounter “ermuntert” oder gleich “aufgefordert”, zukünftig auch Benzin zu verkaufen. Medien wie die “Süddeutsche Zeitung”, die “Stuttgarter Nachrichten”, “RP Online” oder stern.de veröffentlichten Analysen und Kommentare über die Praxistauglichkeit von Brüderles Vorschlag, die “B.Z.” fragte sogar bei den Unternehmen nach und bewies bei der Interpretation der Antwort besondere Kreativität:

Und wie reagierten die Unternehmen? Die Handelskette Lidl schließt zumindest mittelfristig den Einstieg ins Benzin-Geschäft nicht aus. Sprecherin Simone Hartmann zur B.Z.: “Als Unternehmen mit dem Kerngeschäft Lebensmitteleinzelhandel stellen wir derzeit keine konkreten Überlegungen an, Benzin anzubieten.”

All diese Medien und Journalisten haben ein entscheidendes Detail übersehen: Brüderles angebliche Forderung war bei “Bild” und Bild.de erschienen (BILDblog berichtete):

Benzin-Abzocke: Brüderle will ALDI-Sprit! Vorschlag des Wirtschaftsministers

Nach unseren Informationen hat Brüderle nichts dergleichen gesagt. Er hat “Discounter wie ALDI und LIDL” auch nicht “ermuntert, ins Tankstellen-Geschäft einzusteigen.”

“Bild” hat den Zusammenhang um ein Zitat Brüderles gestrickt, das sehr grundsätzlich gehalten ist und in dem weder von Aldi konkret noch von Discountern allgemein die Rede ist:

Brüderle zu BILD.de: “Preise bilden sich am besten immer noch durch Wettbewerb. Wenn das Angebot steigt, sinkt der Preis. Ich freue mich deshalb über jeden zusätzlichen Wettbewerber und kann Unternehmen nur ermutigen, in den Benzinmarkt einzusteigen.”

Nicht minder interessant ist die wiederholte Forderung des saarländischen SPD-Chefs Heiko Maas nach staatlichen Höchstpreisen für Benzin, Öl und Gas “nach dem Vorbild Luxemburgs”. Die ist nämlich bei genauer Betrachtung Quatsch:

Die staatlichen Regelungen für Benzinpreise in Luxemburg limitieren nämlich nur den Aufschlag, den die Ölkonzerne gegenüber dem Einkaufspreis nehmen dürfen. Die Gewinnmarge der Ölkonzerne ist in Luxemburg dennoch höher als in Deutschland, der Nettopreis für Benzin ebenfalls: Nach einer Statistik des Energie-Informationsdienstes EID kostet ein Liter Superbenzin vor Steuern in Deutschland knapp 58 Cent, in Luxemburg etwas über 61 Cent (Stand: 3. Januar 2011).

Dass man an einer Luxemburger Tankstelle weniger zahlt als hierzulande, liegt nicht an den “staatlichen Höchstpreisen”, sondern an der niedrigeren Benzin- und Mehrwertsteuer in dem kleinen Land.

Vergessen, Ringier, Unterschichtenfernsehen

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Vergessen und vergessen machen”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier denkt über das Vergessen im Web nach. Soll jenen, die ihre dort dokumentierten Taten vergessen lassen möchten, mit einer nachträglichen Löschung geholfen werden? “Es geht nicht darum, dass Menschen keine Fehler machen dürfen oder ihr Leben lang unter Jugendsünden leiden sollen. Es geht auch nicht um einen allumfassenden Pranger. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun — ganz besonders, wenn dieses Tun, wie bei Journalisten, in der Öffentlichkeit und genau genommen sogar für die Öffentlichkeit geschieht.”

2. “Die großen Zyklen des Himmels”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
Nicht nur “Bild”, auch sueddeutsche.de schreibt über den “Astro-Schock”, der keiner ist.

3. “Die Kunst der Vernetzung”
(nzz.ch, Rainer Stadler und Beat Gygi)
Ein Interview mit Ringier-CEO Christian Unger. Er sieht keine Probleme darin, wenn Ringier-Publikationen über Personen, die von Ringier vermarktet werden, unabhängig berichten sollen: “Wenn der ‘Blick’ einen gedopten Sportler nicht mehr als solchen darstellt, weil dieser von Ringier vermarktet wird, dann würden als Erstes die andern Medien draufspringen, den Sportler an den Pranger stellen und gleichzeitig die Ringier-Journalisten abstrafen. So würden wir unsere Titel schwächen. Unsere Redaktionen sind stark genug, zu erkennen, dass sie das aus ureigenem Interesse thematisieren müssten. Deshalb auch unsere dezentrale Struktur. Es sind ja unterschiedliche Firmen, unterschiedliche Partner, die alle für ihr eigenes Interesse kämpfen.”

4. “Der Dschungel und die Mär vom Unterschichtenfernsehen”
(dwdl.de, Alexander Krei)
Alexander Krei kann bei den Zuschauerzahlen der RTL-Sendung “Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!” keine Bevorzugung durch eine Unterschicht erkennen. Auch das Einkommen scheine keinen Einfluss zu haben: “Die Marktanteile sind in sämtlichen Zuschauergruppen exorbitant hoch – bei Zuschauern mit Abitur sah am Montagabend fast jeder Dritte zu, bei Zuschauern mit Uni-Abschluss immerhin noch fast jeder Vierte, der zu diesem Zeitpunkt vor dem Fernseher saß.”

5. The Time Hack
(thetimehack.com, Matt Danzico, englisch)
Matt Danzico versucht seit Neujahr, jeden Tag eine neue und ungewöhnliche Erfahrung zu machen. Er will herauszufinden, ob das seine Wahrnehmung der Zeit verändert.

6. “Bug in Facedetection-Software”
(volkerstruebing.wordpress.com)
“Eine meiner unangenehmsten Macken oder besser gesagt: Eins meiner peinlichsten Defizite ist es, dass ich oft Leute nicht wiedererkenne.”

Kein Rekord beim Asyl

Es ist nur eine sehr kleine Meldung, heute auf der Titelseite von “Bild”:

Rekord bei Asylanträgen

Berlin – Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Asylbewerber auf ein neues Rekordniveau geklettert: 41332 Asylanträge wurden gestellt. Das waren 13683 mehr als 2009.

Die Zahlen stimmen, und doch ist die Meldung falsch irreführend falsch: Einen “Rekord” stellen die 41.332 höchstens dar, wenn man lediglich die Zahlen nach 2003 betrachtet. Der echte Rekordwert für Asylanträge stammt aus dem Jahr 1992 (aus der Zeit vor dem sogenannten “Asylkompromiss”). Damals beantragten 438.191 Menschen in Deutschland Asyl — mehr als zehn Mal so viel wie im vergangenen Jahr.

Womöglich hatte “Bild” diese Fehlinformation vom Evangelischen Pressedienst (epd), der gestern getickert hatte:

Asylbewerberzahlen 2010 auf Rekordniveau

Berlin (epd). Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Asylbewerber auf ein neues Rekordniveau geklettert. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurden 41.332 Asylanträge gestellt. Das waren 13.683 mehr als im Jahr 2009, teilte das Bundesinnenministerium am Montag in Berlin mit.

Anders falsch lag “Welt Kompakt”, wo über der Feststellung “das waren 49,5 Prozent mehr als 2009” folgende Überschrift prangt:

Zahl der Asylanträge hat sich verdoppelt

Mit Dank an Matthias L. (nicht Leonhard).

Dioxin, Boulevard, RSS

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Die Sau ist ein Huhn. Skandalöse Berichterstattung”
(epd.de, Ellen Nebel)
Eine unaufgeregtere Berichterstattung würde “sogenannten Lebensmittelskandalen” gut tun, “zumal dioxinbelastete Futtermittel keineswegs eine neue Erscheinung” sind, findet Ellen Nebel. “Die Verbraucher reagieren seltsam abgestumpft: In einer Umfrage für den ARD-DeutschlandTrend erklärten nur vier Prozent der Befragten, dass sie wegen des sogenannten Dioxin-Skandals keine Eier mehr essen wollen.”

2. “Dem Boulevard mehr Ehre”
(ad-sinistram.blogspot.com, Roberto J. De Lapuente)
Roberto J. De Lapuente glaubt, der Boulevard sei “ausschlaggebender als der seriöse Journalismus”: “Berichte über Florida-Rolfs polarisieren mehr als Statistiken zur Altersarmut – der reißerische Text zu einem Mann, der im Ausland Sozialhilfe bezieht, kann Gesetzeslagen ändern; Statistiken ändern bestenfalls ihre Erhebungsmodifikationen.”

3. “Reeder wagt den Tabubruch”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
Der RSSFeedreader Reeder integriert eine Funktion, die es erlaubt, gekürzte RSS-Feeds vollständig zu lesen: “Reeders Readability-Implementation ist ein zweischneidiges Schwert. Sie verdeutlicht jedoch, wie leicht sich für digitalen Content definierte Nutzungseinschränkungen mit technischen Maßnahmen aushebeln lassen – eine Erkenntnis, die durchaus zu Überlegungen anregen sollte, wie sinnvoll und nachhaltig das Streben nach künstlicher Knappheit (z.B. ein beschnittener RSS-Feed) letztlich ist – egal ob man die Entwicklung nun gutheißt oder nicht.”

4. “Manchmal sind wir unbequem – auch für Kollegen”
(medienkritik-schweiz.ch, Fabienne Huber)
Patrik Müller, Chefredakteur von “Der Sonntag”, begreift nicht, warum fast keine Schweizer Zeitung eine Medienseite hat, denn die Medien seien “bei den Leuten sehr wohl ein Gesprächsthema”. “Viele Medienhäuser sind sich nicht gewohnt, kritisiert zu werden. Das merken wir an den teils heftigen Reaktionen.”

5. “What would a Twitter correction function look like?”
(regrettheerror.com, Craig Silverman, englisch)
Twitter könnte eine Korrekturfunktion vertragen, findet Craig Silverman und liefert gleich ein Konzept dazu: “In my vision, the Twitter correction function would let the owner of an account notify all retweeters that a corrected tweet has been issued.”

6. “Bundesregierung richtet Krisenstab ein, um ‘Stars’ aus dem Dschungel zu holen”
(der-postillon.com)
“Ersten Ermittlungen zufolge befinden sich die Bundesbürger in der Hand einer militanten Gruppe namens ‘RTL’, die schon in der Vergangenheit durch die Entführung semiprominenter Bürger in den australischen Dschungel Schlagzeilen machte.”

An Forderster-Front

Obwohl es mit Dschungelcamp, Hochwasser und Frau Sarrazin gerade eigentlich genug Themen gibt, macht “Bild” noch ein Fass auf: In der heutigen Ausgabe darf Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle vorschlagen, “Discounter wie ALDI und LIDL” sollten auch Kraftstoff anbieten:

Brüderle zu BILD: “Preise bilden sich am besten immer noch durch Wettbewerb. Wenn das Angebot steigt, sinkt der Preis. Ich freue mich deshalb über jeden zusätzlichen Wettbewerber und kann Unternehmen nur ermutigen, in den Benzinmarkt einzusteigen.” Hintergrund: In Österreich können Autofahrer bei der ALDI-Süd-Tochter Hofer deutlich billiger tanken.

Doch damit nicht genug: Ebenfalls in “Bild” (und sehr viel ausführlicher bei Bild.de) fordert ein weiterer Politiker energische Maßnahmen:

Unterdessen droht der erste Politiker den Multis mit staatlich festgelegten Höchstpreisen beim Benzin!

Der saarländische SPD-Chef Heiko Maas zu BILD.de: “Sollten die Ölkonzerne weiter die Preisspirale willkürlich nach oben drehen, muss die Politik reagieren. Auch in Deutschland muss es dann nach dem Vorbild Luxemburgs möglich sein, staatliche Höchstpreise bei Benzin, Öl und Gas zu verhängen.” Luxemburg habe längst erkannt, dass die Energiepreise die “Brotpreise des 21. Jahrhunderts” seien.

Mit dem “ersten” Politiker hatte “Bild” offenbar Recht — das kennt man ja auch anders. Nur äußert Maas diese Forderung nicht zum ersten Mal:

Der saarländische SPD-Chef Heiko Maas zu BILD: “Sollten die Ölkonzerne weiter die Preisspirale willkürlich nach oben drehen, muss die Politik reagieren. Auch in Deutschland muss es dann nach dem Vorbild Luxemburgs möglich sein, staatliche Höchstpreise bei Benzin, Öl und Gas zu verhängen!”

(“Bild”, 13. März 2010)

Der saarländische SPD-Chef Heiko Maas fordert in der “Saarbrücker Zeitung” sogar gesetzlich geregelte Sprit-Höchstpreise wie im Nachbarland Luxemburg.

(“Bild”, 26. April 2008)

Den Nachrichtenagenturen dapd und AFP hielten es dennoch für eine Nachricht, weswegen Maas jetzt u.a. bei “RP Online”, “Focus Online” und “Der Westen” fordern darf.

Mit großem Dank an Philipp M.

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