Urbane Legenden von der Political Correctness

Sie sind längst eine Art Medienfolklore: Berichte über wild gewordene Verfechter der “Political Correctness”, die uns alles nehmen wollen, was unsere abendländische Kultur einmal ausgemacht hat. Sie kommen häufig aus Großbritannien, wo eine hysterische Lügenpresse mit ihnen reaktionäre Kampagnen macht. Sie werden in Deutschland gern über Internetseiten wie das Polemikerportal “Die Achse des Guten” oder das islamfeindliche Blog “Politically Incorrect” verbreitet. Und landen am Ende zuverlässig in den vermeintlich seriösen deutschen Medien — selbst wenn die Unwahrheiten und Übertreibungen der Originalberichte zu diesem Zeitpunkt längst vollständig öffentlich dokumentiert sind.

Matthias Thibaut verbreitete gestern im Berliner “Tagesspiegel” die Mär, dass die BBC die traditionelle Bennennung der Zeitrechnung nach Christi Geburt abgeschafft habe. In der Online-Version seines Artikels heißt es schlicht und falsch:

Weil der Sender sein multiethnisches Publikum nicht verärgern will, soll künftig nur noch von vor oder nach der “gebräuchlichen Zeitrechnung” die Rede sein, statt von vor oder nach Christi.

Thibaut hat das in der “Daily Mail” gelesen, einer notorisch unzuverlässigen Quelle, insbesondere wenn es um die verhasste BBC geht, und unbesehen geglaubt.

Der kleine faktische Kern dieser Meldung ist, dass das Religions-Ressort der BBC-Internetseite die Bezeichnungen “BCE”/”CE” (“Before Common Era” / “Common Era”) als “religiös-neutrale Alternative” zu “BC”/”AD” (Vor Christus / Im Jahr des Herrn) verwendet, um nicht-christliche Besucher der Seiten nicht abzustoßen.

Ein BBC-Sprecher betonte auf Nachfrage des “Guardian”, dass “BC” und “AD” die Standard-Bezeichnungen im Programm blieben. Es stehe Einzelnen jedoch frei, davon abzuweichen.

Der “Tagesspiegel” hingegen behauptet, die BBC streiche Christus aus der Zeitrechnung, und sieht sich an schlimmste Dystopien erinnert:

George Orwell hatte bekanntlich die BBC im Sinn, als er in seinem Roman “1984” das “Ministerium für Wahrheit” beschrieb. Diesem Erbe scheint die “Auntie” nun alle Ehre zu machen.

Der BBC glaubt der Londoner “Tagesspiegel”-Korrespondent nicht, dafür aber der berüchtigten “Daily Mail”-Kolumnistin Melanie Phillips:

Melanie Phillips, eine jüdische, rechtskonservative Kommentatorin, erinnerte daran, dass in einigen Gemeinden Weihnachten bereits durch das Kunstwort “winterval” (Winterfestival) ersetzt wurde, um Nichtchristen nicht zu verletzen. “In diesem Klima ist es nicht frivol, zu fragen, wie lange es dauert, bis die Bibel verboten wird”.

Aber auch die “Winterval”-Sache ist eine Mär und Teil der Political-Correctness-Folklore. Die Stadt Birmingham führte 1997 das “Winterval” als Marketingidee ein, um zahlreiche Aktivitäten in den Wintermonaten gemeinsam zu bewerben. Zu diesem “Winterval” gehörten diverse Veranstaltungen, im Kern aber auch traditionelle Weihnachtsfeierlichkeiten, die auch genau so genannt wurden. Der “Guardian” zitierte den Stadtrat:

Über dem Rathaus war ein Banner mit den Worten “Merry Christmas”, es gab Weihnachtsbeleuchtung und Weihnachtsbäume auf den öffentlichen Plätzen, die normalen Weihnachtsgesänge von Schulchören, und der Bürgermeister verschickte Weihnachtskarten mit einer traditionellen Weihnachtsszene, in denen er allen Frohe Weihnachten wünschte.

(Übersetzung von uns.)

Obwohl das “Winterval” in keiner Hinsicht das traditionelle Weihnachtsfest ersetzt hat oder ersetzen sollte, wird es seit vielen Jahren und mit zunehmender Übertreibung von den Medien als Beleg für den Angriff der “Political Correctness” auf das Christentum interpretiert. Fanatiker wie Melanie Phillips sind dabei besonders aktiv, denk- und recherchefaule Journalisten wie Matthias Thibaut ihre willigen Handlanger.

Entsprechend endet sein Artikel:

Konservative werfen der BBC vor, sie spiegle mit ihrer Christenfeindlichkeit, ihrem Trend zu linken Labourpositionen und ihrer Europaphilie längst nicht mehr das britische Meinungsspektrum wieder. Kontroversen gab es, als die BBC eine Nachrichtensprecherin abmahnte, die an einer Halskette ein Kreuz trug. Zynische Kritiker halten es nur für eine Frage der Zeit, bis die erste Sprecherin mit Kopftuch auftaucht.

Ganz abgesehen davon, dass die BBC beteuert, die Nachrichtensprecherin nicht abgemahnt und kein Verbot solcher Symbole verhängt zu haben: Weil eine Christin aus Gründen religiöser Neutralität (angeblich) kein christliches Symbol tragen darf, wird demnächst eine Muslima ein muslimisches Symbol tragen?

Logisch ist das nicht. Aber angemessen furchteinflößend für Thibaut. Denn wenn es doch so käme und tatsächlich eine “Sprecherin mit Kopftuch in der BBC auftaucht”, wäre das für ihn zweifelsohne — der Untergang des Abendlandes.

Super Nanny, Alessio Rastani, Eugen Russ

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Kommen jetzt die Dumm-Wörter?”
(translationspotting.blogspot.com, Torsten Gaitzsch)
Torsten Gaitzsch denkt über von “Bild” verwendete Komposita nach, die aus einem Adjektiv und einem Substantiv bestehen: “Herzlos-Vermieter, Billig-Mini, Gemein-Wurf, Nackt-Ukrainerinnen, Brutal-Attacke, Peinlich-Auftritt, Schrill-Outfit”.

2. “Ich bin ein Opfer der Super Nanny”
(fernsehkritik.tv, Video, 15 Minuten)
Zwei Teilnehmerinnen der RTL-Sendung “Die Super Nanny” berichten über ihre Eindrücke von den (2008 ausgestrahlten) Aufnahmen.

3. “TV-Sender nutzt Spielszenen, um Hubschrauber-Abschuss zu dokumentieren”
(de.ign.com)
In der Dokumentation “Exposure: Gaddafi and the IRA” wurden Spielszenen aus einem Computerspiel verwendet: “In der Dokumentation wurde dabei der Eindruck erweckt, als ob es sich um reale Aufnahmen handeln würde, die einen Angriff der irisch-republikanischen Organisation IRA zeigt.” Siehe dazu auch guardian.co.uk.

4. “Wie ein Freizeit-Börsianer die BBC narrte”
(spiegel.de, Carsten Volkery)
Ein BBC-Interview mit Alessio Rastani (youtube.com, 3:29 Minuten) erregt eine breite Aufmerksamkeit. “Inzwischen sieht es so aus, als sei der ‘BBC-Trader’, wie er im Netz genannt wird, einfach ein aggressiver Selbstvermarkter.” Siehe dazu auch telegraph.co.uk, forbes.com und das Statement der BBC.

5. “Sido versus ‘Krone’: Rapper schaltet Anwälte ein”
(diepresse.com)
Sido will gegen einen Artikel in der “Kronen Zeitung” vorgehen und gibt sich bereits siegessicher (Tweet vom 25. September). “Aus dem ORF kommt die Bestätigung: Sido hat zur Klärung der Angelegenheit und zur Richtigstellung der erhobenen Vorwürfe bereits seine Anwälte eingeschaltet.”

6. “Mehr mobile Nutzung”
(derstandard.at)
Die vermehrte mobile Mediennutzung werde ein Opfer fordern, sagt Printverleger Eugen Russ: “Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass in zwei Jahren das Web ziemlich tot ist, spätestens in drei Jahren.”

Der arabische Frühling als arabischer Herbst

Ein syrischer Fernsehsender hat am Dienstag Bilder gezeigt, die den Sohn Muamar al-Gaddafis, Saif al-Islam, zeigen sollen. Die Aufnahmen entstanden am 20. September und zeigen den Gaddafi-Sohn bei einer Kundgebung mit Gefolgsleuten, teilte der Sender Arrai TV mit. Saif al-Islam rief die Menge zum Widerstand auf und forderte die Einnahme der Hauptstadt Tripolis. Er war nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten, nachdem die Truppen der Übergangsregierung im August die libysche Hauptstadt eingenommen hatten. Eine Überprüfung der Bilder war zunächst nicht möglich.

Soweit der Off-Sprecher eines Videos, das die Nachrichtenagentur Reuters verbreitet hat, und das unter anderem auf “Spiegel Online” zu finden ist.

Arrai TV ist nicht unbedingt die seriöseste Quelle, weswegen in der Tat Vorsicht geboten ist.

Und wenn Saif al-Islam al-Gaddafi am 20. September nicht gerade in der gleichen Bekleidung die exakt gleichen Bewegungen ausgeführt haben sollte wie im Februar, dann haben Arrai TV und Reuters keine “neuen” Bilder gezeigt, sondern alte aus einer neuen Perspektive — wie unsere Gegenüberstellung beweist:

Mit Dank an Thomas.

Michael Jeannée, Papstbesuch, Hongkong

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Schluss mit der arroganten Scheiße!”
(taz.de, Isolde Charim)
Isolde Charim bespricht einen Auftritt (Video, 7:55 Minuten) in der Sendung “Die große Chance” auf ORF1, dem ersten öffentlich-rechtlichen Kanal in Österreich. Beteiligt sind Michael Jeannée, “eine österreichische Version von Franz Josef Wagner”, als Begleiter eines Motorengeräusch-Imitators und Sido als Juror.

2. “Bischof unter Verdacht”
(mittelbayerische.de, Christine Schröpf)
“Spiegel Online” meint, Bischof Gerhard Ludwig Müller im Restaurant “Grill Royal” gesehen zu haben, während dieser an der Papstmesse im Berliner Olympiastadion weilte. “Spiegel-Online hatte den Regensburger Oberhirten mit einem anderen bayerischen Kirchenmann verwechselt: Prälat Wilhelm Imkamp, Direktor der Wallfahrtsstätte Maria Vesperbild, der – grob betrachtet – ansatzweise eine Ähnlichkeit besitzt. Der Fehler ist inzwischen auf der Spiegel-Homepage korrigiert.”

3. “Prädikat: ‘Besonders peinlich!'”
(giordano-bruno-stiftung.de)
Die Giordano-Bruno-Stiftung hält Medienberichte zum Papstbesuch in Deutschland für unkritisch: “Im Fernsehen, im Radio, in den Printmedien wurden regelrechte Jubelarien auf den Papst angestimmt. Unterschiede zwischen Boulevard-Journalismus und Feuilleton verschwanden zunehmend – nicht nur die BILD feierte ‘ihren’ Papst, auch die ‘seriöse’ FAZ stimmte fröhlich in den frommen Jubelchor ein.”

4. “Das Transmitter-Problem”
(freitag.de, 2. September 2011)
Drei Wissenschaftler schreiben darüber, was die Medien aus ihren Forschungen machen: “Haben Sie schon davon gehört, dass die verheerenden Ausschreitungen in England durch eine chemische Mangelerscheinung im Gehirn verursacht wurden? Und dass wir bald in der Lage sein werden, ein solches Verhalten mit einem Nasenspray zu behandeln? Im Verlauf der vergangenen drei Wochen konnten Millionen von Menschen auf mindestens drei Kontinenten derartige Geschichten aus der Presse erfahren. Sie sind komplett erfunden.”

5. “Schweizer Online-Portal baut 24-Stunden-Redaktion auf”
(tagesspiegel.de, Sonja Pohlmann)
Sonja Pohlmann stellt das Büro von 20min.ch in Hongkong vor.

6. “Günther meets Angie oder: Boulevard trifft Politik”
(heise.de, Rudolf Maresch)
Rudolf Maresch rezensiert den Besuch von Angela Merkel bei Günther Jauch (Video, 61 Minuten). Siehe dazu auch jacobjung.wordpress.com, nachdenkseiten.de oder welt.de.

Kein Durchblick auf der Titanic

Eisfrage: Was ist los, wenn Bild.de zu einer solchen Überschrift greift?

Richtig! Zum hundertsten Jahrestag der Jungfernfahrt der “Titanic” (welches auch ihre einzige, unvollendete Fahrt bleiben sollte) bietet ein britischer Reiseveranstalter das an, was Bild.de eine “Gedächtnis-Kreuzfahrt” nennt. Mit zwei Schiffen, von denen keines “Titanic” heißt oder auch nur entfernt so aussieht:

Die Reise auf der MS Balmoral und der Azamara Journey soll der Jungfernfahrt der Titanic so nahe wie möglich kommen: Es gibt den gleichen Speiseplan und die gleiche Musik, und Reisende können sich sogar kleiden, wie die Passagiere vor 100 Jahren – an Bord fährt ein Kostümverleih mit. Nur die Kollision mit dem Eisberg steht nicht auf dem Programm!

Und jetzt, wo Sie einmal im geistigen Fahrwasser von Bild.de dümpeln, können Sie sicher auch auf Anhieb erraten, was es bedeutet, wenn Bild.de in der Bildergalerie so etwas hier schreibt:

Es bedeutet natürlich, dass Gloria Stuart, die etwa anderthalb Jahre vor dem Untergang der “Titanic” in Kalifornien an der US-Westküste geboren wurde, nicht als Kleinkind auf dem Schiff war, das auf seiner Fahrt von Südengland Richtung US-Ostküste mitten im Atlantik gegen einen Eisberg fuhr und unterging.

Die Schauspielerin spielte entsprechend auch nicht “sich selbst”, sondern in der Rahmenhandlung die alte Rose DeWitt Bukater, die in jungen Jahren von Kate Winslet gespielt wird.

Die letzte Überlebende der “Titanic” ist übrigens schon im Jahr 2009 verstorben und hieß Millvina Dean.

Mit Dank an Torben S.

Weimerer Klassizismus

“Weimers Woche” ist erstens eine Alliteration und zweitens der Titel einer Kolumne, die der damalige Chefredakteur des Politmagazins “Cicero”, Wolfram Weimer, bis Ende 2009 fürs “Handelsblatt” und für stern.de geschrieben hat. Dann wurde Weimer Chefredakteur der Illustrierten “Focus”, wo er im Juli dieses Jahres nach einem “Machtkampf” mit “Focus”-Gründer Helmut Markwort gehen musste — bzw. um sich nach offizieller Sprachregelung “neuen Projekten zuwenden zu können”.

Zuvor wendet sich Wolfram Weimer aber erst mal alten Projekten zu und hat fürs “Handelsblatt” seine Kolumne wiederbelebt. In der ersten Ausgabe vergangene Woche widmete er sich den “Sündenböcken” des politischen Berlins, also dem Papst, den Banken und der FDP:

Regierung schwach, Börsen panisch, Euro marode, Sonntag zu selten, Auto kaputt, Milch sauer? Berlin weiß: Entweder war es Philipp Rösler, Josef Ackermann oder Benedikt XVI.

Dabei ist die Bundesregierung mindestens so schlimm wie die Banken, sagt Weimer, und hebt zur Verteidigung der letzteren an:

Unsere Generation hat über Jahrzehnte noch nicht ein einziges Jahr mit einem ausgeglichenen Bundeshaushalt erlebt – egal übrigens, welche Partei gerade regiert hat. Selbst wenn wir all unsere Banken – private haben wir sowieso kaum noch welche – verstaatlicht hätten und den Euro wieder abschafften – der Schuldenberg Europas müsste doch bezahlt werden. Dass Berlin also die Banken in Frankfurt als “verantwortungslose Kreditteufel” attackiert, ist ein Witz.

Ja, das ist ein Witz. Sogar einer mit einer Pointe.

Denn was findet man, wenn man bei Google nach “verantwortungslose Kreditteufel” sucht?

Wenig, sehr wenig. Genau genommen nur eine einzelne Kolumne über die amerikanische Bankenkrise aus dem Jahr 2008.

Vor allem die Politiker Europas werfen sich in diesen Tagen eifernd ins Zeug. In besserwisserischen Posen schwadronieren sie über den Atlantik, als gäbe es da drüben nur verantwortungslose Kreditteufel, während hier alle Soliditätsengel zu Hause seien.

Bei der Kolumne handelte es sich um “Weimers Woche” und es sieht ganz so aus, als hätte bisher niemand Wolfram Weimer den Gefallen getan, die “verantwortungslosen Kreditteufel” zu einem geflügelten Wort zu machen — zumindest so lange, bis Wolfram Weimer zurückkam.

P.S. Im Juli, als Weimer noch “Focus”-Chef war, hatte der Branchendienst “Werben & Verkaufen” geschrieben:

Unterdessen ist die positive Aufbruchstimmung vom Juli 2010 mittlerweile verflogen, die Redaktion spart nicht an Kritik. So mancher wundert sich, dass Weimer Texte, die er bereits an anderer Stelle veröffentlicht hat, im “Focus” reycelt. Wie beispielsweise im Text “Der Überflieger” (50/10) über Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg – ein Recycling seiner Laudatio, als der Ex-Verteidigungsminister “Politiker des Jahres 2009” wurde. Ebenfalls mehrfach genutzt: Ein Beitrag aus Weimers Vorgänger-Blatt “Cicero” vom August 2006 erschien erneut in “Focus” 18/11 als “Die Lücke, die Gott lässt.” Und: Im Extra-Heft zur Katastrophe in Fukushima brachte Wolfram Weimer in “Focus” die gleiche Zitate-Sammlung, wie sie schon in “Cicero” 2/05 zu lesen war. Auch das Memo “Die spielen Schuldenmonopoly” (51/10) erinnert stark an einen Blog-Beitrag Weimers aus dem Jahr 2008.

Mit Dank an Basti.

Zu viel Gas gegeben

Sie heizen mit Gas? Dann haben wir eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie.

Zuerst die schlechte: Gas wird laut den Internetvergleichsportalen Verivox und Check24 um gut zehn bis elf Prozent teurer.

Und jetzt die gute: So hoch, wie Bild.de die Mehrbelastung angibt, ist sie dann doch nicht:

Auf einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt (Jahresverbrauch: 20 000 Kilowattstunden) könnten Mehrbelastungen von gut 100 Euro im Monat zukommen.

Da der “durchschnittliche Vier-Personen-Haushalt” nur in den seltensten Fällen über 1.000 Euro monatlich für Gas bezahlt, darf davon ausgegangen werden, dass die von Bild.de berechnete Mehrbelastung nicht monatlich sondern jährlich anfällt.

Und so sehen das auch die beiden Vergleichsportale, die Bild.de als Quelle angibt.

Verivox:

Ein Musterhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 20 000 Kilowattstunden (kWh) müsse mit einer jährlichen Mehrbelastung von 126 Euro rechnen

Check24:

Im Durchschnitt steigen die Preise für einen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden (kWh) um 144 Euro oder elf Prozent.

Mit Dank an Hendrik G.

Nachtrag, 28. September: Bild.de hat sich inzwischen — ohne jeglichen Hinweis — korrigiert. Aus den “gut 100 Euro im Monat” wurden “Mehrbelastungen von mehr als 100 Euro im Jahr”.

Tod, Facebook, Korinthenkacker

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Tod in der Timeline”
(bjoern-sievers.de)
Björn Sievers fragt sich, wie wir in den Zeiten von internetbasierten sozialen Netzwerken mit dem Tod in unseren “Timelines” umgehen sollten. Auch Lucas Negroni beklagt in der Frankfurter Rundschau, dass der Umgang mit dem Tod in sozialen Netzwerken nicht richtig geklärt sei. Negroni hat aber die Hoffnung, dass ein “Trauerportal”, an dem die Süddeutsche Zeitung angeblich arbeitet, genau das ändert.

2. Facebook ist nicht AOL 2.0, Facebook ist das Gegenteil
(neunetz.com, Marcel Weiss)
Marcel Weiss widerspricht Frank Rieger, der in der FAZ behauptete, Facebook habe sich zum Ziel gesetzt, dass seine Nutzer im Web möglichst nirgendwo anders mehr hingehen und auf Facebook selbst verbleiben. Facebook sei laut Marcel Weiss eine Plattform, die deshalb gewinne, weil sie “Verbindung zwischen Facebook und dem Rest des Webs” und anderen “Webdiensten” ermögliche. Das Wort “offen” kommt aber auch Marcel Weiss nicht über die Lippen.

3. “Facebook responds to allegations of privacy violations via cookie tracking”
(venturebeat.com, Tom Cheredar, englisch)
Facebook hat auf die Vorwürfe von Nik Cubrilovic reagiert (siehe auch 6 vor 9 von gestern) und besteht darauf, dass man ausgeloggte Facebooknutzer zwar über das Netz verfolgen könne, das aber nicht tue. Die Trackingmechanismen würden ausschliesslich dem Wohl und der Sicherheit der Benutzer dienen.

4. “LandIdee redux: Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Magazinen ist rein zufällig”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
Offensichtlich lassen sich Gartenbilder aus der Datenbank von Getty Images sowohl als Herbst-, als auch als Frühlingsmotive verwenden.

5. “DFB bestraft vorlaute BVB-Kommentatoren”
(spiegel.de)
Weil sie in einem vom Bundesligaverein Borussia Dortmund finanziertem Netzradio einen Schiedsrichter unter anderem als Blinden, Arschloch und Korinthenkacker bezeichnet haben, hat der DFB-Kontrollausschuss zwei BVB-Mitarbeiter mit einer Geldstrafe und einem Kommentarverbot belegt.

6. “Immer wieder Sonntags”
(kochsiek.org)
Jens Kochsiek zitiert Jan Georg Pambor, der sich auf Facebook fragt, ob das ZDF Humor habe oder häufig Leute mit eigenartig kontextsensitiven Namen beschäftige.

Bild, Sky  

Riesendruckerzeugnisse

Seit Ralf Rangnick vergangene Woche wegen eines Erschöpfungssyndroms überraschend vom Amt des Cheftrainers bei Schalke 04 zurückgetreten ist, haben hierzulande 82 Millionen potentielle Bundestrainer eine Schnellumschulung zum Psychologen absolviert.

So wurde auch am Sonntag auf dem Bezahlsender Sky in der Fußballtalkshow “Sky90” über Rangnick und das Thema Burnout diskutiert. Zu Gast war unter anderem der heutige Schweizer Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld, der nach der völlig vergeigten EM 2004 heißer Kandidat für den Posten des deutschen Bundestrainers gewesen war — “Bild” hatte damals unter der Überschrift “Es geht um die Zukunft des deutschen Fußballs: Herr Hitzfeld, unterschreiben Sie hier” sogar einen symbolischen “Arbeitsvertrag” abgedruckt. Doch Hitzfeld sagte ab, weil er sich nach sechs Jahren beim FC Bayern München “ausgebrannt und verbraucht” fühlte.

Bei Sky erinnerte sich Hitzfeld gestern so an jene Zeit:

Es war ein immenser Druck 2004. Ich wurde entlassen bei Bayern München und danach eine Woche später ruft Franz Beckenbauer wieder an, nicht in Funktion von Bayern München, sondern als Funktionär vom DFB und sagte: “Jetzt wirst du unser Bundestrainer” und da sag ich “Das kann ich nicht machen, weil ich bin ausgelaugt und ich brauche eine Pause”. Er hat da wenig Verständnis gehabt und sagt “das ist kein so stressiger Job wie Bundesliga-Trainer oder Bayern München-Trainer. Das kannst du doch machen!” Aber ich habe gesagt, ich kann das nicht und das war sicherlich auch eine schwierige Entscheidung, weil die BILD-Zeitung hatte zu der Zeit auch Riesendruck aufgesetzt und gesagt “Ottmar, mach des!” – haben sogar eine Schlagzeile und mich auch von außen unter sehr viel Druck gesetzt. Und ich glaube das war für mich auch eine schwierige und mutige Entscheidung Deutschland abzusagen.

(Zitiert nach “Alles außer Sport”.)

Sky fand diese Aussagen so bemerkenswert, dass der Sender sie anschließend im Wortlaut in einer Pressemitteilung weiterverbreitete.

Also, fast im Wortlaut:

“2004 war ein immenser Druck. Ich wurde beim FC Bayern entlassen und eine Woche später rief Franz Beckenbauer an in Funktion vom DFB und sagte,: ‘Du wirst jetzt unser Bundestrainer.’ Da sagte ich, ich kann das nicht machen, ich bin ausgelaugt und ich brauche eine Pause. Dafür hatte er wenig Verständnis und sagte, es ist kein so stressiger Job wie Bundesliga-, bzw. Bayern-Trainer – das kannst du doch machen. Es war eine sehr schwierige Phase, weil auch die Medien einen riesigen Druck aufgebaut haben. Ich glaube, das war für mich damals eine schwierige aber mutige Entscheidung, Deutschland abzusagen. Ich habe mich zurückgezogen und über ein Jahr gebraucht, um zu regenerieren, um wieder richtigen Appetit zu haben und um mich wieder am Leben zu erfreuen.”

(Hervorhebung von uns.)

Via “Alles außer Sport”, mit Dank an Stefan M.

Das Totenkopffähnchen im Wind

“Wie soll ich Dich empfangen?” heißt es in einem alten Kirchenlied und diese Frage treibt dieser Tage auch die “Bild”-Familie um — natürlich nicht im Hinblick auf den Papst, da ist der Empfang klar, aber im Bezug auf die Piratenpartei.

Die “Bild am Sonntag” verkündete gestern stolz:

Unser Reporter Adrian Pickshaus besuchte die Kultpartei ohne Scheu- und Augenklappe.

Gut, dieser Kalauer ist jetzt vielleicht ein bisschen bemüht. Oder wie es Bild.de vor ein paar Tagen ausgedrückt hat:

Peinlich: Anne Will eröffnet ihre Sendung mit altbackenen Piraten-Witzen, fragt Christopher Lauer zuerst: “Wo ist denn Ihre Augenklappe?”

Doch wofür stehen die Piraten, die “Polit-Sensation des Jahres”, eigentlich? Adrian Pickshaus erklärt es den “BamS”-Lesern:

Im Berliner Wahlkampf machten die Piraten vor allem mit drei Forderungen Welle: straffreies Kiffen, fahrscheinloses Bahnfahren und ein bedingungsloses Grundeinkommen, weit über dem Hartz-IV-Regelsatz.

Nimmt man die Forderungen unter die Lupe, stellt man fest: Vieles ist nicht verrückt, sondern gut durchdacht. Beispiel Bahnfahren: Nach Piraten-Willen soll jeder Berliner eine Jahres-Pauschale für den öffentlichen Nahverkehr bezahlen. Eine Bus-und-Bahn-Maut sozusagen. Touristen würden über eine Hotel-Abgabe zur Kasse gebeten.

Eine Woche zuvor, als die Piraten überraschend mit 8,9 Prozent der Wählerstimmen ins Berliner Abgeordnetenhaus einzogen, waren die Leute bei Bild.de noch skeptischer, was den Erfolg der Piraten anging — und deutlich kritischer:

Das Wahl-Programm könnte von der Hacker-Vereinigung “Chaos Computer Club” stammen – ein seltsames Sammelsurium ziemlich abstruser Forderungen:

– Nahverkehr in Bus und Bahn zum Nulltarif

– keine Verfolgung von Schwarzfahrern mehr

– „Rauschkunde“-Unterricht in der Schule

– die Einführung von Mindestlohn und Grundeinkommen

Mit Dank an Nico S.

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