Schachbrett, Tyrannen, Bekennerschreiben

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Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Wie wir mit Bekennerschreiben umgehen”
(blogs.taz.de/hausblog, Magda Schneider, Kai von Appen und Peter Müller)
Wie die “taz Hamburg” mit “sogenannten Bekennungen” umgeht. “In der Redaktion herrschte Einigkeit darüber, dass wir uns nicht zu Hilfspolizisten machen lassen wollten. Denn ein Bekennerschreiben, das meist nicht von den Akteuren selbst stammt, hat rechtlich die gleiche Qualität wie von Informanten zugespieltes Material – es unterliegt dem Redaktionsgeheimnis. Deshalb schafften wir uns einen fiktiven Redaktionskater an, der noch bei laufender Produktion die Briefe verspeiste – was wir auch in der Zeitung mitteilten. Das verschonte uns sicherlich von vielen unangenehmen Hausbesuchen.”

2. “Lieber gut kopiert als …”
(oldenburger-lokalteil.de)
Der “Oldenburger Lokalteil” lädt ein zum Spiel “Welches ist die Pressemitteilung, welches der Zeitungsartikel?”. “Wenn Sie die Lösung haben, schicken Sie sie einfach an die Nordwest-Zeitung bzw. an das Delmenhorster Kreisblatt.”

3. “Die Inszenierung des Tyrannen-Todes”
(visdp.de)
“V.i.S.d.P.” spricht mit Historiker Thomas Großbölting über die Inszenierung der Tode von Benito Mussolini, Saddam Hussein, Osama bin Laden und Muammar al-Gaddafi: “Wenn man es gegenüber den Leserinnen und Lesern plausibel machen kann, dass die Wirklichkeit komplexer ist, als wir es uns in den Medienhypes und Bildikonen vorsetzen lassen, dann entsteht aus meiner Sicht wirklich guter Journalismus.”

4. “Strahlende Äpfel und giftige Birnen”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
“Fukushima war schlimmer als Tschernobyl” ist der Titel eines Artikels auf focus.de. “Anlaß zu dieser Meldung ist ein Bericht, wonach eventuell in Japan bis zu zweieinhalb Mal so viel radioaktive Edelgasisotope von Xenon und Krypton frei wurden als bei der Katastrophe von Tschernobyl.”

5. “Sogenannter Journalismus: Wie erzähle ich Fußballrandale?”
(publikative.org, Nicole Selmer)
Nicole Selmer macht sich Gedanken über die Berichterstattung zum Pokalspiel Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden.

6. “Komik statt Symbolik”
(stern.de, Florian Güßgen)
Wie Rainer Grünberg auf abendblatt.de zuerst bemerkt hat, ist das Schachbrett auf dem Titelbild des Buchs “Zug um Zug” von Helmut Schmidt und Peer Steinbrück falsch aufgestellt. Siehe dazu auch “Die Guttenbergs spielen nur mit weißen Figuren” (welt.de, Benjamin von Stuckrad-Barre, 21. Oktober 2010).

B.Z.  

Klammeraffen

Klammern zählen zu den wichtigsten Zeichen auf den Redaktionstastaturen. In ihnen kann man auf engstem Raum wichtige Zusatzinformationen unterbringen, etwa das Alter einer Person, ihren Wohnort oder den Titel des Films, für den ein Schauspieler berühmt ist.

Oder auch ganze Kurzcharakterisierungen:

Der von Mutter Jana (29, Hartz IV) alarmierte Notarzt reanimierte ihren Sohn Gabriel (9). Das Kind schwebt noch in Lebensgefahr. […] Im Fokus der Ermittler steht jedoch Stiefvater Kevin S. (Mitte 40, Hartz IV).

Obskurer Zahlen-Glaube

Bild.de berichtet seit gestern über das Haus des indischen Milliardärs Mukesh Ambani in Mumbai (das Bild.de konsequent “Bombay” nennt), in das Ambani nicht einziehen wolle — “wegen eines obskuren Feng-Shui-Glaubens”:

Eine Milliarde Dollar kostete der Wohnturm namens “Antilia” in der indischen Mega-Metropole Bombay (Mumbai).

heute.at erklärt seit heute Vormittag:

Bereits vor einem Jahr erbaute der indische Milliardär Mukesh Ambani in Mumbai das teuerste Haus der Welt. Über eine Milliarde Euro hat das 27-stöckige Gebäude gekostet – inklusive drei Hubschrauberlandeplätzen, sechs Parkdecks und schwimmenden Gärten. Doch seitdem weigert sich der Besitzer beharrlich, dort einzuziehen.

BILDblog berichtete schon vor elf Monaten, warum die Zahl von einer Milliarde als völlig übertrieben angesehen werden darf.

Wie ernst die Bezeichnung “das teuerste Haus der Welt” zu nehmen ist, zeigt Bild.de übrigens gleich selbst:

Bombay: Das teuerste Haus der Welt bleibt leer. Silicon Valley: DAS ist das teuerste Haus der Welt.

Mit Dank an Daniel G., Christoph, Dominik H. und Hannes.

Brüssel, Ironie, Onlinebeleidigung

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1. “Abgeschirmte Infos: Journalisten in Brüssel”
(ndr.de, Video, 6:33 Minuten)
Brauchbare Informationen erhalten Journalisten in Brüssel nur auf inoffiziellen Wegen. Die EU-Kommission übt sich in Nicht-Information, zitiert werden will niemand. “Es wird zur Pressekonferenz geladen. Die Presse ist da. Was hier fehlt, sind nützliche Informationen.”

2. “Diese dummen Journalisten! Kleiner Rant”
(opalkatze.wordpress.com)
Hinweise von Lesern, Journalisten sollen bei Politikern härter nachfragen, sind zwar verständlich, stossen aber auf eine eingespielte Realität, in der Politiker und Berichterstatter aufeinander angewiesen sind. “Zielführendes Nachhaken funktioniert bei den rhetorisch geschulten Amtsträgern kaum noch. Scharfe Fragen werden ebenso akzeptiert wie die dritte ausweichende Antwort, weil jeder vom anderen weiß, dass der auch nur seinen Job macht.”

3. “Der Feind meines Feindes”
(fxneumann.de)
Felix Neumann macht sich Gedanken darüber, wie der “Welt”-Artikel “Katholische Kirche macht mit Pornos ein Vermögen” geschrieben ist.

4. “Auf der Straße zur Ironie-Hölle”
(coffeeandtv.de, Lukas Heinser)
Lukas Heinser greift den “Zeit”-Artikel “Wenn Ironie zum Zwang wird” auf und fragt sich, ob es moralisch eigentlich verantwortbar ist, Sendungen wie “Bauer sucht Frau” oder “Schwiegertochter gesucht” zu schauen.

5. “Die Mechanismen der Onlinebeleidigung”
(netzfeuilleton.de, Jannis Kucharz)
Eine inhaltliche Analyse von 10.000 Nutzerkommentaren, die zwei Wochen nach dem Unfall von Fukushima auf “Spiegel Online” zu Artikeln dieses Themas abgegeben wurden. Die Arbeit “Fakten & Schmähkritik – Die Mechanismen der Beleidigung in Onlinediskussionen” ist als PDF-Datei verfügbar.

6. “Die Schöne und der Arme”
(mediensalat.info, Ralf Marder)
“Was der neue Leserbeirat der BILD bislang (nicht) bewirkt hat.”

Michael Jürgs, Christoph Keese, Peinlichkeit

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1. “Michael Jürgs‘ Rotz”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier beleuchtet die Metaphern und Wortspiele von Michael Jürgs: “Es ist die ewige Klage über das Verkommen der Welt. Sie begleitet den Lauf der Zeit mit ihrem Gegrummel, seit es alte Männer gibt.”

2. “Radio-Reporter gesteht Mord an 23-Jähriger–oder doch nicht?”
(antimedien.de, Hektor Haarkötter)
Hektor Haarkötter vergleicht Berichte der “Freien Presse”, von Bild.de und von Meedia.de.

3. “Quelle: Internet”
(fernsehkritik.tv, Video)
Holger Kreymeier fragt bei ARD, ZDF, RTL und Sat.1 nach, wieso so viele der ausgetrahlten, aber ursprünglich aus dem Web stammenden Videos keine konkrete Quellenangabe, sondern nur eine allgemeine, wie “Quelle: Internet” oder “Quelle: YouTube” haben.

4. “Wozu Zeitschriften kaufen? Im Internet ist doch alles so schön kostenlos”
(presseschauder.de, Christoph Keese)
Christoph Keese, Konzerngeschäftsführer Public Affairs bei Axel Springer, zeigt auf, wie einfach es ist, im Web Zeitschriften herunterzuladen. “Alle Beteiligten behaupten, sie würden nicht stehlen, sondern lediglich Dateien ausspielen, die unbekannte Dritte hochgeladen haben. Unter dem Strich aber steht fest: Journalisten und Verlage gehen leer aus. Jede herunter geladene Datei ist ein Verkauf weniger.”

5. “Wenn Ironie zum Zwang wird”
(zeit.de, Nina Pauer)
Nina Pauer schreibt über die gemeinschaftsgenerierende Erfahrung, sich durch Fernseh- oder YouTube-Konsum in Sachen Peinlichkeit kollektiv nach unten abzugrenzen. “Als gemeinsames Ritual wirkt die Fremdscham wie eine Kompensation der individuellen Angst, die ansonsten überall lauert.”

6. “Wer sich die Euro-Rettung zutraut”
(graphitti-blog.de, katja)

Kleiner FauXPas

Nehmen wir mal an, 75 Prozent aller Häftlinge in deutschen Gefängnissen wären männlich (in Wirklichkeit sind es weit mehr). Würde das dann bedeuten, dass 75 Prozent aller Männer im Gefängnis säßen?

Nein, natürlich nicht. Ein ähnlicher Denkfehler ist allerdings der Presseabteilung von Microsoft unterlaufen, die ihr eigenes Betriebssystem Windows XP anlässlich seines zehnten Geburtstages schlechter macht, als es eigentlich ist:

(…) laut einer Studie des Antivirus Dienstleisters AVAST sind auf etwa 75 Prozent aller XP Rechner Rootkit-Infizierungen zu finden.

Dabei hat die Studie von Avast lediglich ergeben, dass 74 Prozent aller überprüften Rootkitinfektionen auf XP-Rechnern gefunden wurden:

Die Daten einer sechsmonatigen Studie listeten über 630,000 Muster auf und zeigten, dass 74% Infektionen aus Windows XP Maschinen stammen, verglichen mit 17% aus Vista und nur 12% aus Windows 7 Maschinen.

Das bedeutet im Umkehrschluss eben nicht, dass drei von vier XP-Rechnern infiziert sind, sondern eben nur, dass drei von vier Infektionen auf XP-Rechnern gefunden wurden.

Das hindert die Nachrichtenagentur dapd und Medien wie etwa stern.de, n24.de und n-tv.de nicht daran, den Fehler aus der Pressemitteilung zu reproduzieren; n-tv.de verlinkt dabei sogar auf die Avast-Studie. Geholfen hat’s nichts.

Mit Dank an André und Frank H.

Nachtrag, 26. Oktober: n-tv.de hat den Fehler inzwischen korrigiert.

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Der nette Rassist von nebenan

Heute erfahren wir aus “Bild”: Angela Merkel ist mit dem Preis für Verständigung und Toleranz ausgezeichnet worden. Die Türken haben Deutschlands Wirtschaft um Döner und Brautkleider bereichert.

Doch nicht überall ist es um Toleranz und Integration so gut bestellt:

Kommen Millialden Eulos von den Chinesen?

Wenn Zeitungen in anderen Ländern mit uralten Stereotypen arbeiten, nennt “Bild” das übrigens “Hass” und “Beleidigung” …

Mit Dank an Henman.

Occupy, Günther Jauch, Heute

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1. “Seid umarmt, Protestler!”
(zeit.de, Lenz Jacobson)
Die Occupy-Bewegung wird von Medien und Politik bis auf wenige Ausnahmen gefeiert – “die Kritik ist so grundsätzlich und diffus, dass noch für jeden etwas dabei ist”. “Auf Seiten der Medien ist es wohl auch die Verankerung vieler Journalisten in der gut gebildeten Mittelschicht, die eine positive Berichterstattung fördert. Weil auch viele der Protestierenden aus dieser Schicht kommen, können sich die Redakteure und Autoren mit ihnen besser identifizieren.”

2. “Talk-Tiefpunkt: Jauch bei Schmidt und Steinbrück”
(katjaschoenherr.de)
Peer Steinbrück und Helmut Schmidt wurden bei “Günther Jauch” zu wenig kritisch befragt, findet Katja Schönherr: “Wenn sich Jauch zum Sprachrohr einer solchen, von einem Buch begleiteten Personal-Kampagne macht, dann hat er das zu thematisieren. Dann hat er dreimal nachzufragen, warum die beiden hier in der Sendung sitzen.” Siehe dazu auch “Die Günther-Jauch-Show durchschaut gar nichts” (nachdenkseiten.de, Wolfgang Lieb).

3. “Mehr als neunzig Prozent der Tunesier haben gewählt”
(zettelsraum.blogspot.com)
“Mehr als neunzig Prozent der Tunesier folgten dem Aufruf, eine verfassungsgebende Versammlung zu wählen”, sagte Matthias Fornoff in der gestrigen 19-Uhr-Ausgabe der Nachrichtensendung “Heute” (ab 9:10 Minuten). “In die Wahllisten eingetragen nun haben sich 4,1 Millionen der über 7 Millionen Wahlberechtigten. Von diesen – und nicht von den Wahlberechtigten – haben rund 90 Prozent gestern abgestimmt; also ungefähr 3,7 Millionen von mehr als 7 Millionen wahlberechtigten Tunesiern.”

4. “Medientage München: Von Blogs und PDFs…”
(mrtopf.de, Christian Scholz)
Christian Scholz besucht die Medientage München: “Man wartet auf Standards und setzt auf Regulierung, anstatt all die Chancen, die ungenutzt vor einem liegen, mal zu ergreifen und etwas neues zu machen. (…) Und wenn am Ende innovativere US-Unternehmen alles an sich gerissen haben, wendet man sich dann jammernd an den Staat und bittet um Rettung!”

5. “Gespenstische Reporter”
(kanzlei-hoenig.info)
Carsten R. Hoenig beobachtet zwei “Bild”-Mitarbeiter bei der Arbeit am Artikel “Hier stellt die Polizei den Busunfall von der A10 nach”.

6. “Widersprüche: Gaddafi, Bin Laden – und Wagner”
(heikerost.com)
Heike Rost bemerkt als Nachtrag zu unserem Artikel “Der Leichnam aus einer anderen Welt” bei Franz Josef Wagner eine “wahre Positionsflexibilität”.

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Der Leichnam aus einer anderen Welt

Es fällt schwer, das zuzugeben oder zu glauben, aber wenn in “Bild” mal die Stimme der Vernunft spricht, dann tut sie es meist aus der Kolumne von Franz Josef Wagner.

Der schreibt heute ausnahmsweise mal nicht an, sondern über etwas:

Gaddafis Leiche,

sie liegt auf einer Matratze in einem Supermarkt-Kühlhaus aus. Schlangen davor, alle 10 Minuten neuer Einlass der Anstehenden.

Alle wollen den toten Gaddafi sehen. Es wird kein Eintrittsgeld verlangt im Museum des Krepierten.

Wagner gibt sich als Humanist zu erkennen:

In unserer Welt zieht man den Reißverschluss des Leichensacks zu. Wer immer auch tot ist, hat seine Würde. Wir alle wissen nicht, was der Tod ist. Egal, ob man ein Massenmörder ist oder ein Dichter – der Tod ist so ungeheuerlich.

Zwar erklärt Wagner nicht, was genau diese, seine, “unsere Welt” ist, aber der Begriff scheint ihm wichtig zu sein:

Ich verstehe, dass die Rebellen Libyens den toten Diktator bespucken. Aber dies kann nicht unsere Welt sein. Tote sollten nicht bespuckt werden. Tote sind in einer anderen Welt der Gerechtigkeit.

In der Franz-Josef-Wagner-Welt werden Leichen also nicht bespuckt und nicht öffentlich vorgezeigt.

Währenddessen, zwölf Seiten weiter in der “Bild”-Welt:

Schlange stehen zum Gaddafi-Gaffen. Halb nackt, blutverschmiert: der Leichnam Gaddafis im Kühlhaus.

Mit Dank auch an MB.

Nachtrag, 18.20 Uhr: Zwölf Seiten, pah! In der Hamburger “Bild”-Ausgabe ist der tote Gaddafi gleich auf der selben Seite abgebildet wie Wagners Text:

Schlange stehen zum Gaddafi-Gaffen. Halb nackt, blutverschmiert: der Leichnam Gaddafis im Kühlhaus.

Mit Dank an Helga B.

Moslems machen der Liebe ein Ende

In London hat ein Kosmetikgeschäft geschlossen. Dies allein ist keine Meldung, die es in “Die Welt” schaffen würde — schon gar nicht in die dortige Rubrik “Meinung”.

Wenn es sich allerdings um ein israelisches Kosmetikgeschäft handelt und der Schließung Proteste, Verzeihung: eine wöchentliche “wilde Demo Hunderter junger Muslime”, vorangegangen sind, dann ist das natürlich ein Fall für “Die Welt” — und für die üblichen Islamfeinde, die solche Meldungen weitertratschen.

Autor Michael Stürmer, Historiker und Chefkorrespondent der “Welt”-Gruppe, hatte sich allerdings auch alle Mühe gegeben, das Ende des Londoner Flagship Stores der israelischen Kosmetikfirma Ahava an das schwarz-weiße Weltbild der Islamophoben anzupassen. Auf der einen Seite der christlich-jüdische, tolerante Westen, auf der anderen Seite eben die “wilden” Muslime, die in London am Liebsten “Londonistan” ausrufen würden:

Zur Gentrifizierung gehörte die Einrichtung der Londoner Hauptfiliale des israelischen, am Toten Meer beheimateten Unternehmens “Ahava” – was auf Hebräisch Liebe heißt.

Zu Londonistan gehört die jeden Samstag stattfindende wilde Demo Hunderter junger Muslime, die dieser Tage der Liebe ein Ende machten und das Unternehmen zwangen, den Laden aufzugeben.

Ausführlich beschreibt Stürmer die tollen Produkte von Ahava, die aus dem Heilschlamm vom Grunde des Toten Meeres hergestellt werden, und von der ruhmreichen Geschichte dieser Produkte (“Es gibt nicht viele moderne Kosmetikprodukte, deren Lob schon im Alten Testament zu finden ist.”).

Aber nicht alle Menschen finden die Ahava-Produkte so toll wie Michael Stürmer, weswegen es zu unschönen Szenen kam:

In London hat der Heilschlamm zwar Kunden angezogen, aber leider auch gewalttätige Protestierer, die den benachbarten Läden, von Ahava nicht zu reden, das Leben so zur Hölle machten, als sei noch einmal Sodom und Gomorrha. Die Polizei gab sich redlich Mühe, aber nicht genug.

Nach Wochen des Kräftemessens gaben die braven Bobbys auf. Weder Polizei noch Anwohner hatten den Nerv, den Randalierern standzuhalten.

Für Stürmer ist klar, womit wir es hier zu tun haben:

London, einst die zivilisierteste Stadt in Europa, räumt zugereisten Fanatikern ein Vetorecht darüber ein, ob jemand einen Laden führen darf.

Die Lehre für London und den Rest der Welt: Wenn wir so weitermachen, ist Londonistan bald überall.

Wenn er sich nicht seinen ausführlichen Ausflügen in die Geschichte von Heilschlamm, Altem Testament und Totem Meer gewidmet hätte, hätte Stürmer vielleicht noch Zeit gehabt, auf ein nicht ganz unbedeutendes Detail in der Geschichte der Firma Ahava einzugehen: Die Firma produziert in einer israelischen Siedlung im Westjordanland, das eigentlich zu den palästinensischen Autonomiegebieten gehört. Diese Siedlung ist nach internationaler Einschätzung illegal und verstößt gegen die Genfer Konvention.

Verschiedene Organisationen wie die pazifistische Bürgerrechtsbewegung Code Pink haben Ahava vorgeworfen, mit Bodenschätzen Geschäfte zu machen, die den Palästinensern gestohlen worden seien. In Südafrika dürfen Waren wie die von Ahava nicht mehr als israelische Produkte verkauft werden, sondern müssen als “Produkte illegaler Besiedlung in den Besetzten Palästinensischen Gebieten” ausgezeichnet werden.

Diese Informationen wären hilfreich gewesen um zu verstehen, dass sich die Proteste gegen Ahava nicht auf plumpen Antisemitismus reduzieren lassen. Vielmehr wären sie ein schönes Beispiel um zu zeigen, wie sich der seit Jahrzehnten schwelende Nahost-Konflikt im Alltag und im Badezimmerschrank westlicher Bürger niederschlägt. Doch Michael Stürmer hat sich dagegen entschieden, diese Geschichte zu erzählen.

Mit Dank an Christoph G.

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