Antonia Rados, Vertrauensindex, Kopieren

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Er war dreckig, er war gewalttätig”
(spiegel.de, Arno Frank)
Arno Frank kritisiert die boulevardeske Machart der RTL-Reportage “Das Doppelleben des Diktators – Antonia Rados auf den Spuren des Vergewaltigers Muammar al-Gaddafi”: “Es gibt keinen Grund, an ihren Recherchen zu zweifeln – aber viele Gründe, sich über ihre Methoden zu wundern. Ebenso wahllos wie Gaddafis Schergen auf offener Straße ihre Opfer entführten, filmt Rados auf offener Straße die Gesichter völlig unbeteiligter junger Mädchen ab. Die könnte ein Opfer gewesen sein – und die auch! Darunter liegt dann wahlweise melodramatisches Klaviergeklimper oder bedrohliche Musik wie aus einem Horrorfilm.”

2. “GPRA-Vertrauensindex Q1/2012: 81 Prozent der Deutschen vertrauen den regionalen Tageszeitungen – BILD-Zeitung im Vertrauensranking weit abgeschlagen”
(gpra.de)
Der Verband führender PR-Agenturen Deutschlands (GPRA) hat eine Erhebung zum Vertrauen der Deutschen in verschiedene Zeitungen und Magazine durchführen lassen. GPRA-Präsident Alexander Güttler kommentiert die Rolle von “Bild” im Kontext der Wulff-Affäre so: “Die Selbstwahrnehmung der ‘Bild’-Zeitung unterscheidet sich deutlich von der Realität. Sie besitzt keineswegs eine auf Vertrauen basierende Legitimation, über Moral und Gerechtigkeit in unserem Land zu urteilen.”

3. “Konsequent: Ich fordere die Löschung des politischen Kabarett aufgrund fehlender Relevanz”
(vereinfacher.wordpress.com, Benjamin Heilmann)
Eine Replik auf den gestern in “6vor9” verlinkten Kommentar zum politischen Kabarett “Der Pauker-Prophet Georg Schramm”

4. “Statt Teer und Federn: Druckerschwärze und Papier”
(oldenburger-lokalteil.de)
Die “Nordwest-Zeitung” empört sich im Falle des in Emden unschuldig verhafteten 17-Jährigen darüber, dass im Internet schnell private Details über den vermeintlichen Täter kursierten. Dabei ging die “NWZ” selbst auch nicht sorgfältiger vor.

5. “Eine kurze Geschichte vom Kopieren und Kapieren”
(fastvoice.net, Wolfgang Messer)
Wolfgang Messer zeigt in einem historischen Exkurs, dass bei der Debatte um die Zukunft des Urheberrechts im Internet eigentlich nicht um das Urheberrecht oder das Internet an sich geht, sondern um die Kopier- und Verfügbarkeit von Daten und wie man mit den technischen Möglichkeiten umgeht.

6. “Chaos ist, was IHR draus macht.”
(hennesihmsein.blogspot.de)
Eine Abrechnung mit dem Verhalten einiger Journalisten, die voreilig über die Entlassung von Köln-Trainer Stale Solbakken berichteten.

Davon geht Morgenpost Online nicht unter

"Bio kann Morgenpost Online nicht retten"

Nein, da ist nicht Alfred Biolek auf seine alten Tage zu “Morgenpost Online” gewechselt. Und “Morgenpost Online” möchte sich auch nicht an dem lustigen Online-Spiel beteiligen, das wir vergangene Woche versehentlich gestartet haben.

Da hatten wir ja über zwei Schiffbrüchige berichtet, die “über Gott und Morgenpost Online” geredet haben sollen. Schuld war offenbar die automatische Bearbeitung eines Textes von “Welt Online”. Da die Zeitungen “Die Welt” und “Berliner Morgenpost” und ihre Online-Ableger von der gleichen Redaktion gemacht werden, wird bei Artikelübernahmen im Internet die Selbstbezeichnung der “Welt” durch “Morgenpost Online” ersetzt — in diesem Fall eben an einer Stelle, an der es gar nicht um die Zeitung “Die Welt” ging, sondern um die Welt als solche.

Daraus entwickelte sich auf Twitter ein Mem, bei dem die Nutzer in Redewendungen, Filmtiteln und anderen Formulierungen das Wort “Welt” durch “Morgenpost Online” ersetzten. “Morgenpost Online” vermerkte den Fehler und seine Korrektur in ihrer Rubrik “Leider falsch — wir korrigieren”.

Doch “Morgenpost Online” tat noch mehr: Offenbar durchforstet die Redaktion seit dem Vorfall ihr eigenes Archiv auf der Suche nach weiteren Fehlern dieser Art.

Der oben abgebildete Artikel jedenfalls sah fast vier Jahre lang so aus, bis er irgendwann nach unserem Eintrag überarbeitet wurde. Heute heißt er “Bio kann die Welt nicht retten”.

Über den Playboy Rolf Eden wusste “Morgenpost Online” zu berichten:

Morgenpost Online des Playboys Rolf Eden bleibt blond

Und diese zauberhafte Verwechslung war nicht auf ein allein stehendes “die Welt” beschränkt:

Das Milliarden-Volk der Chinesen zischt immer mehr Bier. Das lässt Morgenpost Onlineweite Produktion kräftig steigen.

Wie Morgenpost Onlinepresse urteilt.

Die Importe erhöhten sich sogar um 14 Prozent auf 919 Milliarden Euro. "Morgenpost Onlinekonjunktur wird sich insgesamt abschwächen."

Morgenpost Onlineuntergangsstimmung, die in Bezug auf China und die Menschenrechte vor Olympia aufkommt, mag sie trotzdem nicht teilen.

Außerdem findet Google mindestens drei Fälle, in denen es um “Morgenpost Onlineranglisten” geht.

Nach der großen Aufräumaktion ist Morgenpost Online jetzt aber offenbar wieder in Ordnung.

PS: Dass man es bei Axel Springer offenbar für normal und journalistisch zulässig hält, die Quellen von Texten umzudeklarieren, solange beim Suchen und Ersetzen der entsprechenden Angaben keine Fehler passieren, ist natürlich noch einmal ein anderes Thema.

Mit großem Dank an Pascal K.!

Karl May, Georg Schramm, Dilbert

6 vor 9

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1. “Karl May und der Wiederholungstäter Franz Josef Wagner”
(unlesbar.de, Christian Ciemalla)
Was “Bild”-Kolumnist Franz Josef Wagner in seinem Brief an Karl May schreibt.

2. “Die Meinungsmacker”
(spiegel.de, Barbara Hans)
Barbara Hans prüft in deutschen Zeitungen, wie viele Leitartikel von Frauen verfasst sind: “Von insgesamt 199 Artikeln wurden 35 von Autorinnen verfasst, das entspricht 18 Prozent. Die Stichprobe erhebt nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Sonntagszeitungen wurden nicht berücksichtigt.”

3. “Das Imperium schlägt zurück: Wie die FAS die Piraten versenken will”
(surfguard.wordpress.com)
Surfguard reagiert auf drei, gestern in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” über die Piratenpartei erschienene Artikel. “Die Piraten sind keine Post-Privacy-Propheten, auch wenn es solche bei ihnen sicherlich gibt, so wie es einen Arbeitnehmerflügel in der CDU gibt. Die Piraten fordern die Transparenz staatlichen Handelns, sprechen sich aber ganz ausdrücklich für das Recht jedes Menschen auf Privatsphäre aus, sogar für dessen Erweiterung, und natürlich für informationelle Selbstbestimmung.”

4. “Indien: Die letzte handgeschriebene Zeitung der Welt”
(de.globalvoicesonline.org, Rezwan)
“The Musalman” aus Chennai ist die womöglich einzige handgeschriebene Tageszeitung der Welt.

5. “Der Pauker-Prophet Georg Schramm”
(boess.welt.de, Gideon Böss)
Gideon Böss glaubt, das Publikum von Kabarettist Georg Schramm (Neues aus der Anstalt) genau zu kennen: “Schramm brüllt auf der Bühne, ist empört und verwünscht die Mächtigen, die Reichen und Erfolgreichen. Das alles für ein verbeamtetes Publikum aus Lehrern, das sich für die Sicherheit einer enorm privilegierten Arbeitsstelle um die Chance gebracht hat, vielleicht selbst einmal richtig mächtig, reich und erfolgreich zu werden (aber auch um das Risiko, dabei pleite zu gehen). Es ist eine Symbiose: Die Lehrer sind die treusten Fans der Kabarettisten und die Kabarettisten schimpfen im Gegenzug über all das, was die Lehrerzimmer der Nation ärgert. Über Dieter Bohlen, die FDP und Josef Ackermann. Aber erstaunlich selten darüber, dass man den Beamtenstatus für Lehrer abschaffen sollte. Wer legt sich schon ohne Not mit seiner Klientel an (zumal, wenn dann und wann ein Preis zu vergeben ist)? Da sind Kabarettisten auch nicht anders als die von ihnen kritisierten Politiker.”

6. “The One that Didn’t Get Published”
(dilbert.com, Scott Adams, englisch)
Ein von der Zeitung zurückgewiesener “Dilbert”-Comic.

Eine Hand wäscht die andere in Unschuld (2)

Die “Welt am Sonntag” und die “Berliner Morgenpost am Sonntag” (zwei Zeitungen, die bekanntlich teilweise den gleichen Inhalt haben) berichten heute über eine “Woche wie in einem Horror-Film”, die die Kleinstadt Emden hinter sich habe. Vergangenen Samstag wurde dort ein 11-jähriges Mädchen ermordet, am Dienstag ein 17-jähriger Tatverdächtiger verhaftet, der von einem Beinahe-Lynchmob bedroht wurde, sich aber am Freitag als unschuldig erwies (BILDblog berichtete).

Der Reporter berichtet von “Journalisten, die Jugendlichen 20 Euro in die Hand drückten, damit sie vor der Kamera ein bisschen traurig guckten” und von solchen, die gleich 50 Euro bezahlten, “damit Jugendliche ihren Facebook-Zugang bereitstellten, um auf das Profil des 17-Jährigen zugreifen zu können.”

Er fährt fort:

Doch nicht deswegen schlug in Emden irgendwann die Stunde der Wichtigtuer und Denunzianten. Die waren schon vorher da, verbreiteten Gerüchte über den später Festgenommenen, dessen Familie, auch über andere, darunter auch die Familie des Opfers. In der Presse war darüber nichts zu lesen, auch die gern zu solchen Anlässen gescholtenen Boulevardmedien hielten sich zurück. Sie wurden ihrer Verantwortung weitgehend gerecht. So wurde der 17-Jährige in den Medien nicht als Täter vorverurteilt, es wurde auch nicht in Zeitungen dazu aufgerufen, ihn zu steinigen, aufzuhängen, ihn zu foltern – und kein Journalist forderte, das Polizeikommissariat zu stürmen, um den Jugendlichen “da rauszuholen”.

Nun könnte man anmerken, dass es ja wohl das Mindeste sei, dass kein Journalist solche Forderungen erhoben habe. Oder dass die “Zurückhaltung” von “Bild”, die wie “Welt am Sonntag” im Axel-Springer-Verlag erscheint, so aussah:

Polizei sicher: ... von Schüler getötet!

Aber lassen wir lieber Bernard Südbeck zu Wort kommen. Der Auricher Oberstaatsanwalt sprach heute auf der Pressekonferenz zur Festnahme einen neuen Tatverdächtigen, der ein Teilgeständnis abgelegt hat.

Nach einigen einführenden Worten wurde er grundsätzlich:

Wir haben in den letzten Tagen vieles lesen und hören können über die Entwicklung der Ermittlungen und ich möchte an dieser Stelle erneut an alle Personen appellieren, die über diese Sache berichten: Wir alle und Sie alle haben eine große Verantwortung, das haben wir anlässlich der Festnahme eines letztendlich Unschuldigen in den letzten Tagen spüren müssen. Wenn ich höre, dass nun schon wieder Fotos von den Gebäuden gemacht werden, wo Eltern des jetzt festgenommenen Tatverdächtigen wohnen, dass man die Familie des ursprünglich Tatverdächtigen angeht, dann sollten wir doch an diesem Punkt zur Vernunft kommen. Ich möchte wirklich darum bitten, dass man diese Personen nicht fotografisch abbildet, dass man sie nicht unbedingt befragt. Die Familie des Opfers, für die gilt das gleiche. Das sind Dinge, ich meine, das muss man bei allem Verständnis für Berichterstattung nicht unbedingt tun.

Das gleiche gilt für Facebook und andere Soziale Netzwerke. Wir haben uns über diese Dinge unterhalten und die Medien haben sich in den letzten Tagen auch mit diesem Thema intensiv beschäftigt. Ich höre allerdings, dass auch jetzt wieder Namen des Tatverdächtigen, des jetzt Festgenommenen, im Internet kursieren. Ich weiß nicht, ob man nicht lernen will oder nicht lernen kann, wir haben gesagt, wir werden diese Dinge beobachten und werden sie auch konsequent verfolgen, wenn dort zu Straftaten aufgerufen wird oder wenn dort verleumdet wird. Das möchte ich an dieser Stelle noch mal klar und deutlich sagen.

Mit Dank auch an Jan J. und Matthias M.

Bild, Bild.de  etc.

Eine Hand wäscht die andere in Unschuld

Im Fall des in Emden ermordeten Mädchens musste die Polizei einen 17-jährigen Verdächtigen wieder freilassen — und zwar nur wenige Zeit nachdem sich ein Beinahe-Lynchmob vor dem Polizeirevier versammelt hatte. Seitdem sind die Medien, die zuvor groß über den “Täter” berichtet hatten, in heller Aufruhr über den “Polizeiskandal”. Der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer wurde von Medien wie Bild.de, dem “Berliner Kurier” und dem “Westen” mit den Worten zitiert, die Polizei habe “gravierende Fehler begangen”. Dass Pfeiffer der Nachrichtenagentur dapd gegenüber geäußert hatte, auch die Medien hätten durch eine übertrieben emotionale Berichterstattung dazu beigetragen, dass der Jugendliche “zur Zielscheibe der Aggressionen geworden ist”, steht dort nicht.

Bild.de berichtet heute unter Berufung auf den “Express”, der Jugendliche sei aus seiner Heimat “geflohen”, und lässt den Berliner Strafrechtsprofessor Martin Heger zu Wort kommen:

Heger forderte die Behörden deshalb auf, zur Rehabilitierung des zu Unrecht inhaftierten Jungen ebenso massiv an die Öffentlichkeit zu gehen. “Die Staatsanwaltschaft hat nun eine Pflicht zur Offenlegung der Entlastungsgründe – auch unter Inkaufnahme der Gefährdung des Untersuchungszwecks.”

Dass “Bild” die Unschuld des Jugendlichen auch “ebenso massiv” behandelt wie seine Verhaftung, stand offenbar nicht zur Debatte: Die Zeitung berichtet heute im Innenteil unter einem riesigen Foto vom Sarg des kleinen Mädchens von dem “Skandal” bei den polizeilichen Ermittlungen und widmet dem Schüler zusätzlich noch eine kleine Meldung:

Unschuldiger Schüler jetzt unter Polizeischutz

Zum Vergleich noch mal die Aufmachung seiner Verhaftung in “Bild” vom Donnerstag:

Polizei sicher: ... von Schüler getötet!

Dass der “Bild”-Redaktion dieses Missverhältnis auffällt, ist übrigens hochgradig unwahrscheinlich:

Bereits am Sonntag ein unfassbares Versehen: Nur wenige Stunden nach dem Mord ist der Tatort frei zugänglich. Keine Absperrung, kein Flatterband, kein Siegel. Anwohner pilgern zu der Stelle in dem Emder Parkhaus, an dem die kleine […] missbraucht und getötet wurde, machen Fotos von der Blutlache am Boden — bis ein genervter Wachmann die Tür verschließt.

Sie ahnen nie, welche Zeitung bereits am Montag ein großes Foto von der Blutlache am Boden gedruckt hatte!

Mit Dank auch an Daniel H., Robert W. und Johannes K.

Unsinn über irgendeinen Soli (2)

“Bild” ist nicht das einzige Blatt, in dem Solidarpakt und Solidaritätszuschlag (“Soli”) munter durcheinander gewirbelt werden (BILDblog berichtete). Das Nachrichtenmagazin “Stern” etwa zeigt in seiner aktuellen Ausgabe diese Forsa-Umfrage:

Umfrage

Zuschlag vs. Pakt Der Solidaritätszuschlag wurde eingeführt, um zu helfen, die Kosten der Wiedervereinigung zu decken. Allerdings ist er eine Steuer (die übrigens sowohl in West- als auch in Ostdeutschland erhoben wird), die allein dem Bund zusteht und nicht zweckgebunden eingesetzt werden muss. Der Solidarpakt II hingegen ist eine Vereinbarung, nach der der Bund sich verpflichtet, den neuen Bundesländern von 2005 bis 2019 im Zuge des Länderfinanzausgleichs insgesamt 156,5 Milliarden Euro zukommen zu lassen.

Diese Umfrage ist ziemlich sinnlos, denn der Solidaritätszuschlag (=Soli) wird schon lange nicht mehr “ausschließlich für den Aufbau Ost verwendet” und kann somit auch nicht “weiter ausschließlich” dafür verwendet werden. Die Antwortmöglichkeit “…auch ärmeren Städten und Gemeinden im Westen zugute kommen” lässt erahnen, dass sich die Umfrage auf die Klagen mehrerer Bürgermeistern aus dem Ruhrgebiet bezieht. Nur beklagten die sich nicht über den Solidaritätszuschlag, sondern über den Solidarpakt II.

Noch wilder werden der Solidaritätszuschlag und Solidarpakt II in der Vorankündigung von stern.de, die via Pressemitteilung einige Verbreitung erfahren hat, miteinander verrührt:

stern-Umfrage "Soli" auch für arme West-Regionen

Ein Großteil der Deutschen unterstützt die Forderung von verschiedenen Oberbürgermeistern aus dem Ruhrgebiet nach einer Neuordnung des Solidarzuschlags (sic!). In einer Umfrage des stern plädierten 57 Prozent der befragten Bürger dafür, den Solidaritätszuschlag künftig auch ärmeren Städten und Gemeinden im Westen zukommen zu lassen. Nur sechs Prozent fänden gut, wenn der “Soli” wie bislang ausschließlich in den Aufbau Ost gesteckt würde. 35 Prozent waren dafür, den Solidaritätszuschlag ganz abzuschaffen. Zwei Prozent äußerten keine Meinung.

Noch einmal: Der Solidaritätszuschlag ist eine Bundessteuer, die direkt in den Bundeshaushalt fließt, und nichts mit den Klagen der Ruhrgebietsbürgermeister zu tun hat, die sich auf den Solidarpakt II bezogen hatten. Es ist wenig verwunderlich, dass im stern.de-Text sogar der Solidaritätszuschlag-Solidarpakt-Hybridbegriff “Solidarzuschlag” fällt.

Solidarpakt hin, Solidaritätszuschlag her — die Kosten hierfür hätte man sich auf alle Fälle sparen können:

Für diese stern-Umfrage wurden 1001 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger am 22. und 23. März 2012 befragt.

Mit Dank an Philipp.

Bild  

Monster erschaffen

Im Fall des am Samstag in Emden ermordeten Mädchens hat die Polizei am Dienstagabend einen Verdächtigen festgenommen. Der junge Mann wurde am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt.

“Bild” verkündete am gestrigen Donnerstag entsprechend:

Polizei sicher: ... von Schüler getötet!

Dass die Staatsanwaltschaft am Montag auf einer Pressekonferenz darum gebeten hatte, den Namen des Mädchens nicht zu veröffentlichen (BILDblog berichtete), war “Bild” weiterhin egal.

Die Zeitung schrieb:

Der miese Kindermörder von Emden (Niedersachsen): Er missbrauchte die kleine […], tötete sie und ließ ihre Leiche in einer Blutlache im Parkhaus liegen! Die Kripo ist sicher:

DER KILLER IST EIN SCHÜLER (17)!

Außerdem wusste “Bild” zu berichten, dass “ein Junge (15) den entscheidenden Tipp gegeben” hatte (“BILD-Informationen zufolge”, natürlich) und ein Mitschüler zu “Bild” gesagt habe, der 17-Jährige sei ein Einzelgänger und spiele “gern brutale Ballerspiele am Computer”.

Ganz so “sicher” wie “Bild” es darstellte, waren sich die Behörden offenbar nicht. Stern.de berichtete gestern:

Bernard Südbeck hat überlegt, wie er am diplomatischsten sagt, was ihn umtreibt. Der Auricher Oberstaatsanwalt ist seit Jahren “im Geschäft”. Doch das, was sich hier in Emden im Fall des getöteten elfjährigen Mädchens in den vergangenen Tagen abgespielt hat, macht ihn wirklich ärgerlich. In verschiedenen Medien und sozialen Netzwerken werden blanke Spekulationen als Tatsachen hingestellt, Verdächtige als Täter benannt, der Wunsch der Familie des Mädchens, doch bitte nicht den Namen des Kindes zu nennen, konsequent ignoriert.

Doch nicht nur das:

Und: Dienstagnacht hätte ein Mob selbsternannter Rächer fast das Polizeikommissariat gestürmt.

Uff!

Laut stern.de soll sich dieser Mob via Facebook verabredet haben. Oberstaatsanwalt Südbeck habe auf der gestrigen Pressekonferenz dann noch einmal an die Verantwortung der Medien appelliert und ausdrücklich darum gebeten, von Vorverurteilungen abzusehen.

“Bild” stand jetzt vor einem Problem, denn Lynchjustiz findet die Redaktion dann offensichtlich auch nicht so gut. Der Drahtseilakt sah heute so aus:

Facebook-Aufruf nach Mord an ... : 50 Jugendliche wollten Verdächtigen lynchen

Den üblichen “BILD-Informationen zufolge” hätten die Teilnehmer Parolen wie “Hängt ihn auf, steinigt ihn” skandiert, einige hätten T-Shirts mit der Aufschrift “Todesstrafe für den Killer!” getragen.

Die gleichen Autoren, Thomas Knoop und Astrid Sievert, die gestern geschrieben hatten, die “Schlinge” um den Hals des Schülers habe sich “zugezogen”, hantierten plötzlich mit der Bezeichnung “Verdächtiger”, als seien sie so einen halbwegs seriösen Journalismus gewohnt:

Die Ermittler warnten trotz des erlassenen Haftbefehls vor einer Vorverurteilung des Verdächtigen. Dieser bestreitet die Tat.

Doch so richtig überzeugt schien “Bild” von diesen rechtsstaatlichen Details dann auch nicht zu sein, denn der nächste Absatz lautete schon wieder:

Doch: Es gibt immer mehr Indizien gegen ihn! Eines der wichtigsten: Der Schüler hat kein Alibi! “Er verwickelte sich in Widersprüche”, so Werner Brandt, Leiter der 40-köpfigen Mordkommission “Parkhaus”.

Doch heute kam es zu einer “spektakulären Wende” (Bild.de): Der tatverdächtige Schüler wurde am Vormittag freigelassen, weil er “als Täter auszuschließen sei”.

Unschuldig! Festgenommener Schüler im Mordfall ... wieder frei!

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Dokusoaps, Gabor Steingart, Plagiatoren

6 vor 9

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1. “Wie Twitterer Rob Vegas als Harald Schmidt bild.de reinlegte”
(rhein-zeitung.de, Lars Wienand)
Bild.de, Blick.ch und Tagesanzeiger.ch halten Tweets von @BonitoTV für Aussagen von Harald Schmidt.

2. “10 weitere bemerkenswerte Dokusoaps”
(fernsehkritik.tv, Video, 27 Minuten)
Ein Blick auf verschiedene aktuelle gescriptete und nicht gescriptete Sendungen im deutschen Fernsehen. Ab Minute 12 die RTL-Sendung “Jugendliebe”: Briefe, die auf deutsch geschrieben werden, erhält der Empfänger auf wundersame Weise in englischer Sprache.

3. “Offener Brief an Gabor Steingart: Über Verlage, freie Autoren, Urheberrecht und innere Pressefreiheit”
(immateriblog.de, Matthias Spielkamp)
Matthias Spielkamp antwortet auf einen Brief von “Handelsblatt”-Chefredakteur Gabor Steingart: “Daher möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass erstens Ihre Behauptung falsch ist, dass ‘seit jeher’ mit jeder Honorarzahlung alle diese Rechte ausschließlich an Sie abgetreten wurden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass das eine dreiste Lüge ist, denn Sie bzw. Ihr Justiziariat (müssten) wissen, dass das nicht so ist.”

4. “Interview mit carta.info: Meinungsjournalismus statt Nachrichten”
(netzpiloten.de, Stefan Mey)
Stefan Mey befragt Tatjana Brode von “Carta”: “Wir werden versuchen, die Strukturen dezentraler zu organisieren, die Arbeit stärker zu verteilen. Natürlich wäre es schön, wenn wir einen guten Vermarkter finden, und noch besser, wenn wir außerdem eine Förderung bekämen. Aber wir haben nicht den Anspruch, dass sich Carta unbedingt sofort tragen muss.”

5. “The 4 types of serial plagiarists in journalism”
(poynter.org, Craig Silverman, englisch)
Craig Silverman identifiziert vier Typen von Plagiatoren im Journalismus: “The Early Bird, The Keener, The Blank Slate, The Dinosaur”.

6. “Viele leiden darunter, dass sie es jedem recht machen wollen”
(zeit.de, Harald Martenstein)
“Einige Fotografen verhalten sich wie Raubtiere, die vom Fleisch ihrer Beute leben. In Heiligendamm stand nach ein paar Sekunden Lesung eine Fotografin auf, ging nach vorne, stellte sich etwa sechzig Zentimeter vor der Bühne hin, sodass ich ihren Atem riechen konnte, und machte eine Aufnahme nach der anderen mit Blitzlicht. Der Apparat gab dabei ein schnarrendes Geräusch von sich, welches durch Mark und Bein ging. Nach etwa zehn Fotos habe ich einen Wutanfall bekommen. Als die Lesung vorbei war, kam die Frau, um sich zu beschweren.”

Verwirrung um Pizarro

Heute Vormittag um 10.02 Uhr verkündete “Sport Bild” auf ihrer Internetseite:

Sport Bild exklusiv: Pizarro kündigt bei Werder! Bayern bietet Zweijahresvertrag

Die zwei in der Überschrift erwähnten Sachverhalte stehen zwar in einem Zusammenhang, aber offenbar nicht ganz so direkt, wie man auf den ersten Blick denken könnte. Nach allerlei Zeilen über das Vertragsangebot von Bayern München (“nach SPORT BILD-Informationen”, natürlich) schreibt “Sport Bild” selbst, dass es durchaus möglich sei, dass Pizarro Werder Bremen doch nicht verlässt:

Noch ist der Weggang allerdings keine beschlossene Sache – Pizarro musste kündigen, weil sich sein Vertrag in Bremen sonst automatisch verlängert hätte. Er kann jedoch einen neuen Vertrag mit den Bremern aushandeln.

In diesem Fall wäre seine (angebliche) Vertragskündigung ein taktisches Manöver gewesen, um sich alle Optionen offen zu halten und für die Vertragsverhandlungen mit Werder in einer günstigeren Ausgangsposition zu sein. Fußballer und ihre Berater …

Sechzehn Minuten später hatte der Sportinformationsdienst (sid) diese Meldung auf dem Draht:

Sport Bild: Pizarro verlässt Werder, Angebot aus München

BREMEN, 29. März (SID) – Claudio Pizarro wird den Fußball-Bundesligist Werder Bremen im Sommer anscheinend verlassen. Wie die Sport Bild berichtet, hat der Angreifer dem Verein mitgeteilt, dass er seinen Vertrag in Bremen zum 30. Juni dieses Jahres kündigt. Weil der Peruaner seine Kündigungsklausel noch vor Ablauf der vertraglich festgelegten Frist (31. März) zog, ist er nach der laufenden Saison ablösefrei. Rekordmeister Bayern München, so das Blatt weiter, habe Pizarro bereits einen Zweijahresvertrag angeboten.

Das war natürlich nicht das, was “Sport Bild” geschrieben hatte — sondern nur das, was “Sport Bild” mit der eigenen Überschrift und der Twitter-Nachricht “Pizarro kündigt bei Werder” mutmaßlich zu suggerieren versucht hatte.

Die Reaktion von “Sport Bild” auf Twitter, wo #pizarro inzwischen ein trending topic war, war dann auch eine ganz merkwürdige Mischung aus Schadenfreude, Hände-in-Unschuld-Waschen und dem Pochen auf journalistische Gründlichkeit:

Da hat der sid einfach nicht gründlich gelesen. Keiner behauptet, dass Pizarro Werder verlässt

Der sid hatte unterdessen ein Statement von Bremens Manager Klaus Allofs eingeholt, war aber immer noch davon überzeugt, dass “Sport Bild” Pizarros Abgang vermeldet hatte:

Verwirrung um Pizarro: Allofs dementiert Abgang aus Bremen
+++ überholt mit Allofs-Statements +++
BREMEN, 29. März (SID) – Verwirrung um Claudio Pizarro: Werder Bremens Geschäftsführer Klaus Allofs hat eine Meldung dementiert, wonach der peruanische Angreifer den Fußball-Bundesligisten im Sommer verlassen wird. “Da weiß die Sport Bild mehr als wir”, sagte Allofs dem Sport-Informations-Dienst (SID) am Donnerstagmorgen: “Bei uns ist das so nicht kommuniziert. Ich glaube das aber ehrlich gesagt auch nicht.” […]

Um 11.29 Uhr vermeldete der sid dann in einer “Präzisierung”, dass Allofs nicht nur nichts von einem “Abgang” wisse, sondern auch nichts von einer “Kündigung”:

Verwirrung um Pizarro: Allofs dementiert Kündigung bei Werder
+++ Präzisierung in Überschrift und erstem Satz +++
BREMEN, 29. März (SID) – Verwirrung um Claudio Pizarro: Werder Bremens Geschäftsführer Klaus Allofs hat eine Meldung dementiert, wonach der peruanische Angreifer dem Fußball-Bundesligisten zum Sommer gekündigt hat. […]

Die Verwirrung war also perfekt und der sid hatte nicht ganz unwesentlich dazu beigetragen.

Um 14.08 Uhr tickerte die Deutsche Presseagentur (dpa) dann sinngemäß, dass klar sei, dass nichts klar sei:

“Sport Bild”: Pizarro hat gekündigt – Werder hofft auf Verbleib

Bremen (dpa) – Fußball-Profi Claudio Pizarro und Werder Bremen halten sich im Poker um eine Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit weiter bedeckt. Auch eine Meldung des Fachmagazins “Sport Bild”, laut der Pizarro seinen Vertrag beim Bundesligisten fristgerecht zum Saisonende gekündigt hat, wollten der Stürmerstar und Werder-Chef Klaus Allofs weder bestätigen noch dementieren.

“Ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Es ist weiterhin alles offen, wir müssen noch einige Gespräche führen”, betonte Pizarro am Donnerstag in Bremen. “Wir machen grundsätzlich keine Aussagen über Vertragsinhalte”, sagte Geschäftsführer Allofs. […]

Zum derzeitigen Zeitpunkt ist also lediglich die Erkenntnis gesichert, dass Claudio Pizarro einen Vertrag mit Werder Bremen hat. Wie lang der noch läuft und was Pizarro danach macht, werden wir irgendwann erfahren. Vermutlich wieder exklusiv.

Mit Dank an Matthias K.

Syrien, Harald Schmidt, Lol

6 vor 9

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1. “Fehlerlos genug? Journalisten profitieren von Selbstkritik”
(evangelisch.de, Miriam Bunjes)
Medienwissenschaftler Colin Porlezza im Interview zum Umgang mit Fehlern in den Redaktionen: “Es nützt der Glaubwürdigkeit von Journalisten, wenn sie Fehler zugeben und korrigieren. Das sagen die von den Fehlern betroffenen Quellen und das haben jetzt auch die befragten Journalisten mehrheitlich gesagt. Werden die Fehler nicht korrigiert, schadet es den Journalisten hingegen enorm. Die Informationsquelle wird sich gut überlegen, ob sie dem betreffenden Journalisten und vielleicht auch dem gesamten Medium noch einmal Informationen gibt.”

2. “Unvollständiges Bild: Berichterstattung aus Syrien”
(ndr.de, Video, 7:09 Minuten)
Der freie Kameramann Marcel Mettelsiefen setzt sich dafür ein, im Syrien-Konflikt auch die nicht so spektakuläre Seite der Assad-Anhänger abzubilden: “Es herrscht ein Ungleichgewicht in der Berichterstattung.” Ab 4:20 Minuten: Ein Mann aus Syrien taucht auf YouTube-Videos, die innerhalb weniger Tage veröffentlicht wurden, in verschiedenen Rollen auf: als Journalist, als Rebell, als Opfer.

3. “Schnurstracks ins Lokale”
(drehscheibe.org, Stefan Wirner)
Carlo Imboden beobachtet das Verhalten von Zeitungslesern: “Die Verlage müssen sich noch bewusster darü­ber werden, dass das Lokale immer entscheiden­­der wird für die Kaufbereitschaft der Leser. Wenn ich die Mantel-Informationen online besser und gratis bekommen kann – vom Wall Street Journal bis zur FAZ – aber keine gu­ten Inhalte im Lokalen bekomme, dann ist niemand mehr bereit, etwas dafür zu bezahlen.”

4. “Schmidt ist der übelste Zyniker, den ich jemals getroffen habe”
(tagesanzeiger.ch, Philippe Zweifel)
Ex-Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski kommentiert die Einstellung der Harald Schmidt Show: “Gottschalk und Schmidt haben beide eine geniale Seite, aber sie überschätzen sich und gehen deshalb Risiken ein, die man nicht eingehen darf – schon gar nicht in Deutschland, wo das Erfolgsrezept Durchschnittlichkeit heisst, was ja Angela Merkel oder Günther Jauch so schön vorexerzieren.” Siehe dazu auch “Das kleine Problem mit dem Plan B für Gottschalk” (dwdl.de, Thomas Lückerath)

5. “Die neuen Presseplayer”
(neunetz.com, Marcel Weiß)
Marcel Weiß schreibt zum von Presseverlegern angestrebten Leistungsschutzrecht: “Die Vertreter der Presseverlage sagen das nicht, aber ein Presseleistungsschutzrecht könnte auch die Wikipedia gefährden. Man fängt bei neuen weitreichenden Gesetzen natürlich bei den vermeintlichen bösen und übergroßen Unternehmen an, die man zähmen / zu ‘Fairness’ zwingen will (hier: Google), langfristig geht es aber natürlich darum, Kontrolle am Markt auszuüben, und damit sind dann alle Akteure gemeint, egal ob sie überhaupt am Markt agieren oder außerhalb stattfinden.”

6. “Polizei will Daten von ‘Anonym’ und ‘Lol'”
(blog.odem.org, Alvar Freude)
Ein Brief (PDF-Datei) von Polizeiobermeisterin K. der Berliner Polizei.

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