Totrecherchiert

Als Wolfgang L. vor gut einem Monat seine Lokalzeitung aufschlug, war er fassungslos.

Denn:

Wolfgang [L.] (62) aus Heidelberg musste lesen, er sei tot

Oder anders:

Heidelberger Rentner (62) ist entsetzt - Ich las meine eigene TODESANZEIGE

Totgesagte leben länger…Fassungslos hält Rentner Wolfgang [L.] (62) aus Kirchheim seine eigene Todesanzeige in den Händen. […]

Rentner [L.] ist sich sicher: “Dahinter kann nur meine Noch-Ehefrau Uschi stecken. Wir sind seit einem halben Jahr getrennt, doch sie macht mir das Leben bis heute zur Hölle.”

Ganz ähnlich muss sich auch Hannah W. im Juni 2012 gefühlt haben. Oder Rudolf K. im Sommer 2008. Und eine andere junge Frau vor knapp zwei Wochen.

Denn auch sie schlugen die Zeitung auf und mussten lesen, sie seien tot. Genauer: Sie schlugen die “Bild”-Zeitung auf.

Im Fall von Hannah W. hatten “Bild” und Bild.de eine “Bluttat in Berliner WG” mit einem Foto der jungen Frau bebildert – obwohl sie weder, wie in dem Artikel behauptet, das Mordopfer war, noch sonst irgendetwas mit dem Vorfall zu tun hatte. Das Foto sowie biografische Details von Hannah W. hatten die Redakteure im sensationsgeilen Eifer kurzerhand aus dem Blog der Studentin geklaut (BILDblog berichtete).

Ende des vergangenen Jahres kam es in einem “Bild”-Artikel über den Unfalltod zweier Mädchen erneut zu einer solchen Verwechslung (BILDblog berichtete ebenfalls).

Und Rudolf K., Vater eines Opfers eines Autounfalls, über den die Boulevardpresse tagelang berichtet hatte, musste 2008 in “Bild” lesen, er sei an einem Herzinfarkt gestorben (BILDblog berichtete auch hier).

Es braucht also nicht die makabren Tricks irgendwelcher Noch-Ehefrauen, um quicklebendige Menschen für tot zu erklären und anderen das Leben zur Hölle zu machen. Nein, dafür braucht es nur die üblichen Methoden von “Bild” und Bild.de.

Newtown im deutschen Onlinejournalismus

Heute vor einem Monat erschoss ein Mann in Newtown, Connecticut 27 Menschen, darunter 20 Kinder einer Grundschule.

Nach dem Amoklauf von Winnenden hatte der Deutsche Presserat im Jahr 2010 einen Leitfaden für die Berichterstattung über Amokläufe (PDF) veröffentlicht, in dem die deutschen Medien zur Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Opfer, Angehörige und Täter aufgerufen werden.

In welcher Form und in welchem Ausmaß deutsche Onlinemedien wie Bild.de, “Spiegel Online”, “Focus online”, FAZ.net oder sueddeutsche.de in der ersten Woche über die Ereignisse von Newtown berichtet haben, haben wir in einer Übersicht zusammengefasst:

  • Die deutsche Online-Berichterstattung über den Amoklauf in Newtown (PDF)

Von Antisemiten und Antisemanten (2)

Letzten Dienstag schrieben wir hier im BILDblog über die angebliche “Liste der schlimmsten Antisemiten” auf der sich der deutsche Journalist Jakob Augstein befinden soll.

Die Liste des Simon Wiesenthal Centers (PDF), ist allerdings die “2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs”, also die Top Ten der anti-semitischen bzw. anti-israelischen Verunglimpfungen im Jahr 2012.

Die Deutsche Presse Agentur (dpa) hat am Mittwoch mit jemandem gesprochen, der an dieser Liste mitgearbeitet hat:

Das amerikanische Simon-Wiesenthal-Zentrum hat seinen Antisemitismus-Vorwurf gegen den Journalisten und Verleger Jakob Augstein differenziert. In einer Rangliste des Zentrums seien israelkritische Äußerungen Augsteins zu den zehn schlimmsten weltweit gezählt worden – das bedeute aber nicht automatisch, dass Augstein ein Antisemit sei. “Wir sprechen nicht von der Person, sondern von den Zitaten”, stellte der für die Liste mitverantwortliche Rabbi Abraham Cooper im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa am Dienstag (Ortszeit) klar.

Ein Blick auf die Originalliste hätte diese Lesart von vorne herein nahegelegt, aber immerhin war die “differenzierte” Kritik an Augstein jetzt im Umlauf.

Und sah bei “Spiegel Online” zum Beispiel so aus:

Antisemitismus-Debatte: Jüdisches Zentrum relativiert Vorwürfe gegen Augstein

So kann man es natürlich auch nennen, wenn das Simon Wiesenthal Center noch einmal explizit erklärt, was eigentlich die ganze Zeit über der verdammten Liste gestanden hatte.

Geht aber noch besser:

Mit seiner Platzierung des SPIEGEL-ONLINE-Kolumnisten Jakob Augstein auf der Liste der zehn übelsten Antisemiten hatte das Simon-Wiesenthal-Center eine Kontroverse ausgelöst. […] Nun hat das amerikanische Zentrum seinen Vorwurf gegen Augstein differenziert. In der Rangliste seien israelkritische Äußerungen Augsteins zu den zehn schlimmsten weltweit gezählt worden – das bedeute aber nicht automatisch, dass Augstein ein Antisemit sei.

“Wir sprechen nicht von der Person, sondern von den Zitaten”, stellte der für die Liste mitverantwortliche Rabbiner Abraham Cooper im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa am Dienstag klar.

Am Freitagnachmittag passierte dann etwas, was von Beobachtern zuvor als ähnlich wahrscheinlich eingestuft worden war wie eine Eröffnung des neuen Berliner Großflughafens: Der Dampfplauderer Henryk M. Broder, dessen Einschätzung, Augstein sei “ein lupenreiner Antisemit”, das Simon Wiesenthal Center in seiner Liste zitiert hatte, entschuldigte sich auf der Internetseite der “Welt” bei Jakob Augstein — zwar explizit “nur dafür”, Augstein als “kleinen Streicher” bezeichnet zu haben, aber immerhin entschuldigte er sich.

Darüber berichtete auch wieder “Spiegel Online” — und verhedderte sich erneut in den Begrifflichkeiten:

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hatte Augstein zuvor auf die Liste der zehn übelsten Antisemiten gesetzt, sich wenig später allerdings differenzierter geäußert: Es gehe um die Zitate, nicht um Personen. In der Rangliste seien israelkritische Äußerungen Augsteins zu den zehn schlimmsten weltweit gezählt worden – das bedeute aber nicht automatisch, dass Augstein ein Antisemit sei, sagte der für die Liste mitverantwortliche Rabbiner Abraham Cooper am Dienstag.

Und im aktuellen gedruckten “Spiegel” heißt es in einem Streitgespräch zwischen Jakob Augstein und dem Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, an die Adresse von Augstein:

SPIEGEL: Das Simon Wiesenthal Center hat sich jetzt noch einmal korrigiert und gesagt, nicht Sie als Person seien antisemitisch, aber einige Ihrer Äußerungen seien es, und es könne sein, dass Ihnen das gar nicht bewusst sei.

Ein cleverer Schachzug: Wenn Medien mit ein paar Wochen Verspätung entdecken, dass sie ausuferndst über eine Liste berichtet haben, ohne genau verstanden zu haben, was diese Liste eigentlich beschreiben soll, korrigieren sie sich nicht etwa selbst, sondern tun so, als ob die Autoren der Liste sich korrigiert hätten.

Mit Dank auch an Ekkehard K. und Daniel.

Netzgemeinde, Nomadenleben, Masterplan

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Bekenntnis: Ich bin taz-Redakteur und Parteimitglied”
(blogs.taz.de, Felix Dachsel)
Taz-Journalist Felix Dachsel outet sich als Parteimitglied der SPD. “Sein Nebensitzer in der Journalistenschule war ebenfalls in der SPD.”

2. “Eine deutsche Phantomdebatte: Wie die deutschen Medien sich mit einer Nicht-Geschichte über Nordkorea blamieren”
(nordkoreainfo.wordpress.com, tobid001)
Ausgelöst durch einen Beitrag der FAZ ist in mehreren deutschen Medien von einem “Masterplan” zu lesen, der die Wirtschaft Nordkoreas mit deutschem Beistand nach dem Vorbild Vietnams umgestalten werde. “Dabei scheint es auch keinen weiter gestört zu haben, dass ausländische Medien einen weiten Bogen um die Geschichte gemacht haben und die globale Sensationsökonomie, die sich ja sonst oft für nichts zu schade ist, das ganze fast vollständig missachtete.”

3. “Die dubiosen Deals der Gottschalk-Brüder”
(spiegel.de)
Die aktuelle “Spiegel”-Titelgeschichte widmet sich Verträgen der Firma Dolce Media zur ZDF-Sendung “Wetten, dass..?”. Siehe dazu auch die Marke Audi in einer ARD-Übertragung eines Parallelslaloms (deutsche-wirtschafts-nachrichten.de).

4. “Ich bin kein Mitglied der Netzgemeinde”
(begleitschreiben.net, Gregor Keuschnig)
Die selbsternannten Sprecher des “Netzes” hätten “die Spielregeln der medialen Kako­phonie souverän verinnerlicht und spielen nun mit”, schreibt Gregor Keuschnig. “Es ist schon fast zur Normalität geworden, dass allüberall für mich irgendjemand glaubt sprechen zu müssen.”

5. “‘Mehr habe ich auch nicht probiert'”
(horizont.at, Philipp Wilhelmer)
Ein Interview mit Oscar Bronner, dem Gründer und Herausgeber der Zeitung “Der Standard”: “Das Businessmodell ‘Internet’ kann derzeit das was wir als Qualitätsjournalismus kennen, noch nicht finanzieren. Daran arbeiten wir aber. Wobei das, was wir als Internet kennen, ist ja noch wahnsinnig jung. Die Tageszeitung als Businessmodell, wie wir es kennen, ist rund 150 Jahre alt. Wie das Internet funktioniert, entwickelt sich gerade.”

6. “So wird fast jeder Ort auf der Welt zum virtuellen Büro”
(netzwertig.com, Martin Weigert)
10 Tipps für ein erfolgreiches digitales Nomadenleben.

Bild  

Die anGEZettelte Wut

“Bild”-Redakteure haben es auch nicht leicht. Da wird morgens auf der Konferenz beschlossen, dass es am nächsten Tag eine große Geschichte über ein “Riesen-Chaos bei der GEZ-Abbuchung” im Blatt geben soll, und dann müssen sie dafür auch noch Beispiele finden!

Am vergangenen Mittwochmittag schickte eine “Bild”-Redakteurin deshalb folgende Mail an die “Bild”-Mitarbeiter im ganzen Land:

Fälle gesucht – Chaos bei der GEZ-Abbuchung

Liebe Kollegen,

für die Geschichte “Riesen-Chaos bei der GEZ-Abbuchung” suchen wir Fälle aus den Außenredaktionen.

Das Thema soll morgen groß im Bund erscheinen, daher freue ich mich über zahlreiche, zeitnahe Chaos-Fälle.

Chaos ist z.B.:

  1. Bislang wurde GEZ immer zur Mitte des Quartals, also letztmalig am 15.11.2012 (für die Monate Oktober bis Dezember) abgebucht. Jetzt aber wurde bereits am 2.1.2013 für die Monate Januar bis März 2013 abgebucht. FAKT: Die GEZ darf nicht einfach die Termine umstellen.
  2. Bislang hat jemand nur für ein Radio gezahlt, jetzt wurde automatisch der neue Beitrag von 17,98 Euro abgebucht. FAKT: Richtig wäre gewesen, vorher per Schreiben darüber zu informieren bzw. zur Zahlung des neuen Beitrags aufzufordern.
  3. Jemand wohnt in einer WG. Beiden Bewohnern wurde der Beitrag abgebucht. FAKT: Richtig wäre nur einer zahlt je Wohnung.

Rückmeldung bitte direkt an mich.

Tausend Dank & viele Grüße

Christin Martens
BILD-Hauptstadtbüro
Politik und Wirtschaft

Die Resonanz war wohl eher überschaubar. Am Ende musste die große Skandalgeschichte mit vier eher zweifelhaften Fällen auskommen, von denen zwei “Bild”-Mitarbeiter beisteuerten (BILDblog berichtete).

(Fürs Protokoll: “FAKT” 2 aus der Mail stimmt nicht. Verbraucherschützer wiesen gestern darauf hin, dass eine Einzugsermächtigung für die GEZ auch für den neuen Beitragsservice gilt, und der gegebenenfalls auch höhere Beiträge vom Konto abbuchen darf.)

Heute scheint die “Bild”-Zeitung auf der Titelseite zu ernten, was sie gesät hatte:

Wutwelle gegen die GEZ

Die Berichterstattung schließt mit einem “letzten Vergleich”:

14,66 Euro Gebühren zahlen die Briten monatlich.

10,41 Euro die Franzosen.

9,08 Euro die Italiener.

Mit 17,98 Euro Rundfunkbeitrag sind die Deutschen Weltmeister.

Ähnliches hatte “Bild” schon im September 2011 geschrieben (BILDblog berichtete). Damals wie heute unterschlägt “Bild”, dass die Österreicher mit durchschnittlich 23,20 Euro, die Dänen mit 26,96 Euro (201,17 Dänische Kronen) und die Schweizer mit 31,69 Euro (38,53 Schweizer Franken) vor den Deutschen liegen. Die Norweger zahlen 30,39 Euro (223,38 Norwegische Kronen) und die Schweden 20,06 Euro (173 Schwedische Kronen).

Deutschland käme also selbst bei einer Europameisterschaft der Gebührenzahler nicht aufs Treppchen.

Mit Dank auch an die vielen Hinweisgeber.

Blogger, Paywalls und Liveticker

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

Heute endet ein ungewöhnliches Experiment: BILDblog und die Deutsche Journalistenschule organisierten in den vergangenen Wochen die Urlaubsvertretung von Ronnie Grob – Schüler der 50sten und 51sten Lehrredaktion der DJS wählten täglich sechs besondere Links aus und stellten sie im BILDblog und auf djs-online.de vor. Heute ausgewählt von Eva Thöne und Angela Gruber.

1. “Ist Bloggen ein Auslaufmodell?”
(Der Freitag, Wolfgang Michal)
Bequemer, effizienter und nicht so viele gemeine Kommentare: Weniger Internetnutzer schreiben auf Blogs offen ihre Meinung: “Ein Blog gleicht eher einer zugigen Haltestelle als einer Wohlfühlnische”, sagt Wolfgang Michal. Und beschwert sich über den “Neobiedermeier” einer Netzgemeinde, die es sich in ihrer Facebook Filterblase gemütlich gemacht hat.

2. Vertauschte Rollen
(Nieman Journalism Lab, Ken Doctor)
Die New York Times hat sie schon. Andere Zeitungen werden ihrem Beispiel wohl bald folgen und um ihre Internetauftritte eine Paywall ziehen, sagt Ken Doctor. Er analysiert, warum der rein netzbasierte Journalismus bei digitalen Erlös-Strategien den großen Verlagshäusern hinterherhinkt – und bald nachziehen muss.

3. “Wenn es Liveticker nicht gäbe, irgendjemand müsste sie erfinden”
(JakBlog, Christian Jakubetz)
Beim Krisentreffen zur Zukunft des TSV 1860 München war die Münchner “tz” ganz nah dabei – was so beim Livetickern passieren kann, wenn eigentlich gar nichts passiert, kommentiert Christian Jakubetz.

4. “Mal schnell rüberwhatsen”
(Handelsblatt, Nils Rüdel)
Die WhatsApp Inc. ist derzeit eines der erfolgreichsten Startups im Silicon Valley: Mehr als 18 Milliarden Nachrichten weltweit seien an Silvester über die Smartphone-Anwendung verschickt worden, meldete das Unternehmen. Experten aber warnen vor Sicherheitslücken.

5. Die Macht der Gefühlssymbole
(W&V, Linda Ross)
Werden in einem Facebook-Post Emoticons verwendet, steigt die Interaktionsrate beträchtlich, behauptet eine neue Studie. Die Nutzer sind demnach auch eher gewillt, solche Posts zu liken. Doch Vorsicht: Emoticon ist nicht gleich Emoticon.

6. “We own the weekend”
(Guardian, Observer, Video)
Guardian und Observer übernehmen die Herrschaft über Samstag und Sonntag – zumindest im neuen Werbespot für die Wochenendausgaben der beiden Zeitungen. Und ein gealterter Hugh Grant darf dazu auch drei Sätze sagen.

Bild  

Hilfe, “Bild”, ich bin zu doof für die GEZ!

SO WIRD ABGEZOCKT! Riesen Abbuchungs-Chaos bei der neuen Rundfunkgebühr

In ihrem Kampf gegen den neuen Rundfunkbeitrag hat die “Bild”-Zeitung heute eindrucksvoll nachgeladen. Ein “Riesen Abbuchungs-Chaos” hat sie aufgedeckt, wobei “Riesen” sich bislang in einer Fallzahl von 4 (vier) ausdrückt.

Dann gehen wir die Fälle mal schnell durch. Da ist zunächst ein Fotograf aus Hamburg, dessen Namen die “Bild”-Zeitung — vermutlich zum Schutz vor den öffentlich-rechtlichen Gebührenhäschern — als “Ronald S.” anonymisiert hat. Sowas ist bekanntlich nicht ihre größte Stärke.

Könnte also sein, dass die “Bild” zur Recherche ihres ersten Skandalfalls nicht weiter suchen musste als bis zu ihrem eigenen Fotografen. “Ronald S.” sagt jedenfalls, der neue Rundfunkbeitrag sei plötzlich schon am Anfang des Quartals abgebucht worden und nicht mehr in der Mitte, was ihn zu einem ungefragten zinslosen Darlehensgeber mache. FDP-“Bild”-Mann Burkhardt Müller-Sönksen findet das auch.

Die ARD hat eine zumindest sehr plausibel klingende andere Erklärung für die Buchung: Roland S. habe zwei Beitragskonten, eines privat, eines dienstlich. Von beiden werde, wie bisher, abgebucht — zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Quartal. “Beide Zahlungsmodalitäten sind exakt gleich geblieben”, sagt die ARD, “und wurden so ausgeführt, wie der Beitragszahler es zuvor angegeben hatte.”

“Riesen Abbuchungs-Chaos”-Fall 2 und 3 sind Rentner, die der GEZ kurz vor Jahresende Änderungen mitgeteilt hatten, die aber kurz nach Neujahr nicht umgesetzt worden waren. Die ARD sagt: “Sie stellen zeitliche Überschneidungen zwischen der Mitteilung des Beitragszahlers und einer bereits regulär ausgelösten Buchung dar.”

Und Fall 4 ist eine Frau, die feststellen musste, dass ihr Rundfunkbeitrag wieder, wie bisher von ihr gewünscht, für ein Jahr abgebucht wurde, was sie aus einem unerklärlichen und unerklärten Grund schockierte:

Redakteurin Vivien D. (31) aus Hamburg: “Ich war total entsetzt, als ich die Abbuchung auf dem Kontoauszug entdeckt habe – 215,76 Euro für ein ganzes Jahr. Die GEZ hätte mich fragen müssen, ob eine Jahresabbuchung für mich auch nach der Gebührenumstellung weiterhin okay ist.”

Wir hätten einen gewissen Verdacht, bei welcher Zeitung die Redakteurin Vivien D. arbeitet und wie ihr Nachname und ihr zweiter Vorname lauten. Aber vielleicht sollte jemand so Dusseliges wirklich lieber im Schutz der Anonymität bleiben.

Native Ads, neuer TV-Journalismus und Zensur

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

Bis zum 11. Januar gibt es hier ein ungewöhnliches Experiment: BILDblog und die Deutsche Journalistenschule organisieren die Urlaubsvertretung von Ronnie Grob – Schüler der 50sten und 51sten Lehrredaktion der DJS werden in den nächsten Tagen täglich sechs besondere Links auswählen und im BILDblog und auf djs-online.de vorstellen. Heute ausgewählt von Michel Penke und Aimen Abdulaziz.

1. Gemeinnützigkeit als ruinöses Geschäftsprinzip
(Vocer, Peter Littger)
Peter Littger, Berater bei der Innovation Media Consulting Group in London, und dort verantwortlich für die Entwicklung neuer Redaktionsmodelle, kritisiert in seinem Beitrag Verlage und Redaktionen, sie würden “in vollem Tempo auf das unlösbare Problem zusteuern, die Gehalts- und Kostenstrukturen gewinnorientierter Unternehmen mit dem Geschäftsauftrag öffentlicher Institutionen und ehrenamtlicher Vereine zu verbinden, also ohne ausreichende Einnahmen”, und fordert sie auf, sich endlich der ökonomischen Realität anzupassen. Fünf Reformschläge für das Jahr 2013 gibt er ihnen mit auf den Weg.

2. Medienkonsum im Wandel: Das Bedürfnis nach der gedruckten Zeitung ist nicht angeboren
(netzwertig, Martin Weigert)
Ein Frühstückstisch ganz ohne Zeitungen in Papierform? Für viele Menschen unvorstellbar. Alles halb so wild, findet Martin Weigert und erinnert daran, dass der Wunsch nach einer Papier-Zeitung “kein angeborenes Bedürfnis” des Menschen darstellt. Außerdem sei der Mensch anpassungsfähig, und so preist er, ehemals auch ein Anhänger der gedruckten Zeitung, die Bequemlichkeiten des Online-Konsums an: “Die Rückkehr zur Tageszeitung wäre als Schritt für mich heute vergleichbar mit der Wiedereinführung der Dampflok oder des Zeppelins.”

3. Bloß nicht wehtun!
(taz, Daniel Bouhs)
Daniel Bröckerhoff ist narzisstisch, berechenbar unvorhersehbar — und eine neue Form des TV-Journalisten. Experimente, ob in Form oder Inhalt, sind sein Ding. Ob er an der Seite von Occupy-Aktivisten als Hausbesetzer in der EZB sein Nachtlager aufschlägt oder im Biedermeieranzug in der Fußgängerzone Jugendliche um ihre illegal kopierte Musik erleichtert, Bröckerhoff liebt das Närrische. An seiner Seite: die Kamera und der allgegenwärtige User. Denn um am menschlichen Datenpuls zu bleiben, genügt es nicht die Kommentarleiste zu harken. Das Publikum will umworben, befragt und verführt werden. Immer. Jetzt. Und nachts um halb zwei.

4. Native ads – Rettung oder Ausverkauf des Journalismus?
(120 Sekunden, Martin Giesler)
Werbung ist ätzend. Stört. Wird weggescrollt. Doch was, wenn man sie nicht mehr erkennt? Wenn sie mit dem Artikeltext verschwimmt, wenn die Coca-Cola-Website sich als Infontainment-Portal verkleidet? Die Native Ad(vertisement) — der letzte Schrei der Werbebranche — ist auf ihrem Siegeszug nun auch in Deutschland angelangt. Journalismus wird PR wird Journalismus. Über fließende Grenzen und grenzwertige Fließtexte bloggt Martin Giesler.

5. Gegen Zensur und Medienkontrolle
(Dradio Wissen, Podcast)
In China grassiert die Zensur. Das ist kein Geheimnis. Die Chinesische Mauer 2.0 schützt vor staatszersetzender Lektüre, die Zensur- und Propagandaministerien halten die Presse an der kurzen Leine. Man weiß das in China. Man hat sich daran gewöhnt. Umso überraschender ist deswegen die harsche Kritik von chinesischen Journalisten im Zuge einer radikalen Zensur der überregionalen Nanfang Zhoumo. Aufklärung soll her. Selbst die Absetzung des verantwortlichen Propagandachefs ist kein Tabu mehr. Über das neue Selbstbewusstsein der chinesischen Presse berichtet das Deutschland-Radio.

6. Wie Meedia seine Geschichte nicht totrecherchieren wollte
(Stefan Plöchinger)
Wenn Medien, über die Mediendienste berichten, antworten: Stefan Plöchinger, Chefredakteur von Süddeutsche.de reagiert auf Vorwürfe des Mediendienst “Meedia” und wirft ihm unsauberes Arbeiten vor. “Meedia” selber reagiert angefressen.

Bezahlen, Twittern und Berliner Biokoks

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

Bis zum 11. Januar gibt es hier ein ungewöhnliches Experiment: BILDblog und die Deutsche Journalistenschule organisieren die Urlaubsvertretung von Ronnie Grob – Schüler der 50sten und 51sten Lehrredaktion der DJS werden in den nächsten Tagen täglich sechs besondere Links auswählen und im BILDblog und auf djs-online.de vorstellen. Heute ausgewählt von Sara Weber und Kersten Augustin.

1. “Wulff und die BILD: Wenn die Zeitung mit im Bett liegt”
(Süddeutsche.de, Carolin Gasteiger)
Der Fahrstuhl ist im Keller angekommen: Christian und Bettina Wulff haben sich getrennt, niemand geringeres als Kai Diekmann persönlich verkündete die Nachricht. Carolin Gasteiger zeichnet auf Süddeutsche.de nach, wie die Bild-Zeitung den Aufstieg Christian Wulffs zum Bundespräsidenten unterstützte und wie sie auch an seinem Rücktritt maßgeblich beteiligt war.

2. “Paid Content muss man können können”
(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)
Thomas Knüwer wirft den Verlagen “Inkompetenz, Kundenunfreundlichkeit und zwielichtige Tricksereien” in Sachen Mobile Apps vor und verdeutlicht das mit Kundenbewertungen in Appstores. Bei Twitter folgte dem Blogpost eine kleine Auseinandersetzung zwischen Knüwer und Süddeutsche.de-Chef Stefan Plöchinger. Plöchinger kritisierte, dass Knüwer in seinem Text eine veraltete Version der SZ.de-App als Beispiel nutzte, obwohl diese wegen der Nutzerbeschwerden bereits überarbeitet wurde.

3. Best of Feuilleton 2012
(umblaetterer.de)
Die feuilletonistischen Highlights des vergangenen Jahres, unter anderem mit der “FAS”-Glosse zum Günter-Grass-Gedicht, das angeblich von der “Titanic” in der “Süddeutschen Zeitung” platziert wurde, und dem Interviewspaziergang mit Dirigent Christian Thielemann.

4. “Chavez’ Gesundheit, Twitter und eine Hausdurchsuchung”
(Guardian, Jonathan Watts und Virginia Lopez)
Hugo Chavez, Präsident von Venezuela, ist schwer krank und wird auf Cuba behandelt. Seine für den 10. Januar geplante Vereidigung wurde verschoben, alles weitere ist unklar: Regierungstreue und oppositionelle Medien werfen sich Lügen und Desinformation vor. Das Haus eines Twitterers wurde nun vom Geheimdienst durchsucht. Er soll Gerüchte über den Gesundheitszustand des Präsidenten verbreitet haben. Hinter @LucioQuincioC soll Federico Medina Ravell stecken, Cousin eines bekannten Oppositionellen und Medienunternehmers.

5. Twittern für die Anstalt
(Dradio Wissen, Podcast)
Wie gehen Journalisten mit Twitter um und wie wurde aus einem privaten Spaß-Account der offizielle ZDF-Kanal? Antworten geben @ZDF-Twitterer Michael Umlandt und Wissenschaftsautor Lars Fischer in der Redaktionskonferenz von DRadio Wissen.

6. “Einmal Faire-Trade-Biokoks, bitte”
(taz, Deniz Yücel)
Gesundes Gemüse ist out: Gestern erschien die 10.000 Ausgabe der “taz – die Tageszeitung”. Für die Jubiläumsausgabe schrieb Deniz Yücel einen Artikel über einen neuen Trend im Berliner Nachtleben. Bio-Koks, Fairtrade natürlich, denn: “An unseren Partys klebt Blut”. Hätte die “taz” ein treffenderes Thema finden können, das beschreibt, wie sich ihre Leserschaft verändert?

Von Antisemiten und Antisemanten

Sie haben es womöglich mitbekommen: Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung “Der Freitag”, sieht sich Antisemitismus-Vorwürfen ausgesetzt.

Die deutschen Medien schreiben dazu:

Das amerikanisch-jüdische Simon-Wiesenthal-Center (SWC) hat wieder einmal mit den jährlichen “Top Ten der Antisemiten und Israelkritikern” für Schlagzeilen gesorgt.
(freitag.de)

Der Herausgeber der Berliner Wochenzeitung “Der Freitag”, Jakob Augstein, gehört nach Meinung des Simon-Wiesenthal-Zentrums in den USA zu den zehn derzeit wichtigsten Antisemiten.
(epd)

Das Simon Wiesenthal Center hatte Augstein auf Platz neun der Liste mit zehn Antisemiten für das Jahr 2012 gesetzt.
(Reuters)

Jakob Augstein auf die Liste der weltweit größten Antisemiten zu setzen ist ein Fehler des Wiesenthal-Zentrums, der fassungslos macht.
(“Neue Osnabrücker Zeitung”)

Die US-Menschenrechtsorganisation hatte Augstein wegen Israel-kritischer Äußerungen auf ihre Liste der zehn schlimmsten Antisemiten der Welt gesetzt.
(dpa)

Das weltweit angesehene Wiesenthal-Zentrum hatte Augstein auf Platz neun eines Rankings der schlimmsten Judenfeinde gesetzt.
(dapd)

Am vorvergangenen Donnerstag veröffentlichte das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles seine aktuelle “Top Ten” der schlimmsten Antisemiten in aller Welt, die es seit 2010 immer gegen Jahresende gibt.
(“Der Spiegel”)

Der Journalist Jakob Augstein ist vom Wiesenthal Center unter die Top Ten der weltweit gefährlichsten antisemitischen und anti-israelischen Verleumder gewählt worden.
(sueddeutsche.de)

Als einziger Deutscher steht “Freitag”-Herausgeber Jakob Augstein in der “Top 10” der Antisemiten und Israel-Verunglimpfer – in einer Reihe mit Holocaustleugnern wie Mahmoud Ahmadinedschad.
(tagesspiegel.de)

Das Simon Wiesenthal Zentrum in Los Angeles hat vor Kurzem den deutschen Journalisten Jakob Augstein auf Platz 9 seiner jährlichen Liste der schlimmsten Antisemiten gesetzt.
(tagesschau.de)

Eine “Liste der schlimmsten Antisemiten”, da kann man sich natürlich was drunter vorstellen — so ein bisschen in der Art der berühmt-berüchtigten “Ten Most Wanted” des FBI.

Allerdings gibt es diese Liste gar nicht.

Was das Simon Wiesenthal Center veröffentlicht hat (PDF), ist die “2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs”, also die Top Ten der anti-semitischen bzw. anti-israelischen Verunglimpfungen im Jahr 2012.

Das erklärt auch, warum so wenige Personen und Organisationen, die 2011 (PDF) und 2010 (PDF) auf dieser Liste standen (u.a. Thilo Sarrazin, Lars von Trier, Oliver Stone, aber auch Yahoo!, Facebook und Twitter als Platzhalter für “social media”), in der 2012er Edition auftauchen: Sie sind im vergangenen Jahr einfach nicht mit Äußerungen aufgefallen, die das Simon Wiesenthal Center als anti-semitisch bzw. anti-israelisch eingestuft hat.

Dieser Unterschied ist nicht ganz unbedeutend. Harald Martenstein etwa, Dampfplauderer beim “Berliner Tagesspiegel”, schreibt (auch bei “6 vor 9” verlinkt):

Nicht die Neonazis sollen also Deutschlands schlimmste Judenhasser sein – nein, ein Journalist, der gegen Israels Regierung polemisiert. Wenn Jakob Augstein Deutschlands schlimmster Antisemit wäre, dann hieße dies, dass es in Deutschland keinen wirklich gefährlichen Antisemitismus mehr gibt. Eigentlich stellt das Wiesenthal-Zentrum Deutschland ein prima Zeugnis aus.

Dabei behauptet das Simon Wiesenthal Center mit seiner Liste gar nicht, dass Augstein “Deutschlands schlimmster Antisemit” sei und damit “schlimmer” als Neonazis. Es hält lediglich fünf Augstein-Zitate für derart anti-semitisch bzw. anti-israelisch, dass es diese auf Platz 9 der schlimmsten Verunglimpfungen gesetzt hat.

Über die Einschätzung dieser Zitate als anti-semitisch bzw. anti-israelisch kann man trefflich streiten. Aber es hülfe bei diesem Streit, wenn er auf der Grundlage dessen geführt würde, was das Simon Wiesenthal Center tatsächlich behauptet.

Mit Dank an Lukas G. und Steffen Z.

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