Mafia-Urteil, Polizeiliches Tarn-Twittern, Schamlose Küblböck-Stories

1. Mafia wohl wieder teurer
(taz.de, Christian Rath)
In einer Sendung des MDR über die Präsenz der Mafia in Mitteldeutschland war von einem Erfurter Gastronomen die Rede. Obwohl der Name nicht genannt wurde, sei für Eingeweihte anscheinend klar, um wen es sich dabei handelt. Der Gastwirt ging wegen der Verdachtsberichterstattung gegen den MDR vor und erwirkte nicht nur ein Unterlassungsurteil, sondern auch eine sehr weitreichende Übernahme seiner Anwaltskosten. Er hatte nämlich auch Dritte abgemahnt, die die MDR-Dokumentation über soziale Netzwerke weiterverbreitet hatten. Und die dabei entstandenen Kosten muss der MDR nun ebenfalls übernehmen.

2. Polizei Aachen twittert mit pseudonymem Account zu Klimaprotesten
(netzpolitik.org, Markus Reuter)
Nur durch ein Versehen kam heraus, dass die Polizei Aachen auf Twitter einen Tarn-Account unterhält. Nachdem netzpolitik.org darüber berichtet hatte, hat die Polizei Aachen mit einer Erklärung reagiert, die von den Netzexperten jedoch als wenig glaubhaft eingestuft wird.

3. Native Advertising: Erkundungen in den Grauzonen der Medienwirtschaft
(nzz.ch, Rainer Stadler)
Native Advertising nennt sich die Werbeform, bei der sich Werbung als redaktioneller Beitrag verkleidet. So lukrativ die Trickserei ist, so sehr beschädigt sie auch die Glaubwürdigkeit. Trotzdem boomt die Werbeform und soll bereits in zwei Jahren für 36 Prozent des Werbeumsatzes sorgen. Rainer Stadler kommentiert das zweifelhafte Geschäft und hat dabei besonders den Schweizer Markt im Blick.

4. “Woher der Hass kommt, ist wirklich nur schwer zu begreifen”
(spiegel.de, Max Hoppenstedt)
Staatsanwalt Christoph Hebbecker ermittelt hauptberuflich in Fällen von Hasspostings in sozialen Netzwerken. Im Gespräch mit dem “Spiegel” geht es unter anderem um die Fragen, warum das alleinige Löschen von Hassbotschaften nicht die Lösung ist, welche Fälle bei ihm landen und wie die Angeklagten vor Gericht reagieren. Seine Arbeit sei kein Eingriff in die Meinungsfreiheit, sondern ermögliche diese erst: “Wenn im Netz immer mehr gehetzt wird und immer mehr Straftaten begangen werden, führt das zum Beispiel dazu, dass immer mehr Medien ihre Kommentarspalten schließen. Hier sehe ich eine Gefahr für die Meinungsfreiheit. Nicht aber in der Durchsetzung von Strafnormen, die online wie offline gelten.”

5. Buchhändlerin über Lehrlinge: “Möchte niemandem das Grüßen beibringen”
(derstandard.at, Renate Graber)
Kann man sich mit einer Buchhandlung trotz starker Konkurrenz durch Onlineversender und Buchhandelsketten noch behaupten? Es ist schwer, aber es geht, wie das Beispiel von Hartliebs Bücher in Wien zeigt. Die Buchhändlerin und Autorin Petra Hartlieb erzählt von der Notwendigkeit des persönlichen Kundenkontakts, von erforderlichen Aktionen und Nebenaktivitäten und dem jährlichen Umsatzeinbruch: “[W]as mir zu schaffen macht, sind die Löcher, die es wegen der Umsatzentwicklung im Buchhandel jeden Sommer gibt: Da wissen wir nicht mehr, wie wir die Miete zahlen sollen, da haben wir kein Geld mehr. Früher habe ich mich geschämt, heute weiß ich, dass es allen Buchhändlern so geht. Aber ich mache mir keine Sorgen mehr: Wir haben Freunde, die uns wortlos Überbrückungsgeld überweisen, und im Dezember zahlen wir’s zurück. Das Weihnachtsgeschäft bringt uns ja ein Viertel des Gesamtumsatzes.”

6. Das schamlose Geschäft mit Daniel Küblböck
(uebermedien.de, Mats Schönauer)
Ein Abgrund von Geschmack- und Schamlosigket tut sich auf, wenn man sich anschaut, mit welchen Märchen- und Schauergeschichten Daniel Küblböck noch posthum ausgebeutet wird. Mats Schönauer berichtet über einen besonders widerwärtigen Fall von medialer Geschäftemacherei.

Bild  

“Bild” senkt den Steuersatz drastisch falsch

Fabio De Masi macht etwas Besonderes: Der Linken-Politiker veröffentlicht jedes Jahr seinen Steuerbescheid. So ist für jeden einsehbar, wie viel De Masi verdient und wie viel Einkommensteuer er bezahlen muss. Auch für “Bild”-Mitarbeiter:

Ausriss Bild-Zeitung - Politiker stellt eigenen Steuererklärung ins Netz

Dieser Abgeordnete lässt beim Geld die Hosen runter: Fabio De Masi (39, Linke).

Als Finanzexperte sitzt er seit fast zwei Jahren im Bundestag, nun hat er seinen kompletten Steuerbescheid für 2017 ins Netz gestellt: Laut Finanzamt Hamburg-Altona verdiente De Masi 104 380 Euro und musste dafür 9391 Euro Einkommensteuer zahlen. Hinzu kamen für ihn 453,14 Euro Soli und 741,51 Euro Kirchensteuer (katholisch).

Für alle, die sich jetzt darüber wundern oder wütend sind, dass De Masi bei Einkünften von 104.380 Euro im Jahr nur 9391 Euro Einkommensteuer zahlen müsse: Nein, es gibt keinen besonderen Steuersatz für Politikerinnen und Politiker von unter 10 Prozent. Das Problem liegt woanders: “Bild” arbeitet hier im besten Fall extrem schlampig und im schlimmsten bewusst verzerrend.

Fabio De Masi sitzt erst seit der Wahl im September 2017 als Abgeordneter im Bundestag. Vorher war er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Die 104.380 Euro brutto sind eine Mischung aus Einkünften aus diesen beiden Posten, wobei das Einkommen aus seiner Tätigkeit als EU-Abgeordneter (85.350 Euro brutto) den viel größeren Teil ausmacht. Die 9391 Euro Einkommensteuer, die “Bild” erwähnt, tauchen tatsächlich in De Masis Steuerbescheid für 2017 (PDF) auf. Allerdings ist das der Wert, den De Masi noch zahlen muss, nachdem der Linken-Politiker bereits 18.751 Euro an EU-Steuer bezahlt hat. “Bild” nennt also die Bruttoeinkünfte für die Tätigkeit als Bundestags- und als EU-Abgeordneter, stellt diesen aber die Einkommensteuer ohne den EU-Teil gegenüber — was ein erstaunlicher Fehler ist, schließlich stand das alles klar und deutlich in De Masis Pressemitteilung, auf der der “Bild”-Text basiert.

Tatsächlich zahlte De Masi für sein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 86.649 Euro (ergibt sich nach Abzug von Spenden, Kinderfreibetrag, Kosten für die Krankenversicherung und so weiter von den Bruttoeinkünften in Höhe von 104.380 Euro) 28.142 Euro Einkommensteuer. Das entspricht in etwa 32,5 Prozent.

Das Hauptanliegen von Fabio De Masi hat es übrigens auch nicht in den “Bild”-Artikel geschafft:

Aus meinem Steuerbescheid für das Jahr 2017 wird sichtbar, dass Spitzenverdiener wie ich keineswegs über Gebühr belastet werden.

Mit Dank an die vielen Hinweisgeber!

Facebooks Moderatoren-Hölle, Liebeserklärung, Schnüffelverlage

1. Liebeserklärung an einen geschundenen Beruf
(journalist-magazin.de, Thomas Hauser)
In einer bemerkenswerten Rede macht Thomas Hauser, Herausgeber der “Badischen Zeitung”, dem Journalismus einerseits eine Liebeserklärung, spart andererseits nicht mit Tadel: “Der Superlativ ist die Sprachform der Marktschreier in Marketing und Propaganda. Wer jede Maus als Elefanten beschreibt, hat für den großen Dickhäuter keine Worte mehr. Was ist das für ein Land, in dem Springers “Bild” das meistzitierte Medium ist, ihr Verleger als BDZV-Präsident die Branche ermahnt, sich selbst aber einen großen amerikanischen Finanzinvestor ins Haus holt und in dem der Philosoph Peter Sloterdijk vom Magazin “Cicero” zum einflussreichsten Intellektuellen des Jahres 2018 ausgerufen wird — streng wissenschaftlich ermittelt, versteht sich.”

2. Facebooks Moderatoren-Hölle in Florida
(spiegel.de, Patrick Beuth)
Im amerikanischen Magazin “The Verge” berichten ehemalige Facebook-Moderatoren von ihrer Arbeit. Nicht nur die Arbeitsbedingungen seien verheerend, auch die psychische Beanspruchung sei gewaltig.
Weiterer Tipp: “The Verge” hat eine dreizehnminütige Videoreportage zu dem Fall veröffentlicht. Der Warnhinweis zu Beginn steht dort übrigens nicht ohne Grund. Es ist teilweise schwer zu ertragen, was die Facebook-Moderatoren erzählen: Inside the traumatic life of a Facebook moderator (“The Verge”/Youtube, Video: 13:32 Minuten).

3. Eine Wahl ohne Auswahl
(uebermedien.de, Boris Rosenkranz)
Bei einer Wahl hat man die Wahl, oder? Nun ja, das mag in den allermeisten Fällen zutreffen, bei der Wahl des NDR-Intendanten gilt diese Regel allerdings nicht. Boris Rosenkranz berichtet von einem intransparenten und problematischen Verfahren, das einer dringenden Reform bedarf.

4. Nachrichten aus der WG-Küche
(deutschlandfunk.de, Anh Tran, Audio: 5:30 Minuten)
Volontärinnen des Bayerischen Rundfunks haben ein neues Nachrichtenformat für Instagram entwickelt und dort schon mehr als 40.000 Follower gewinnen können. Helene, Sophie und Ann-Kathrin hatten die Idee zur “News-WG”. Gedreht wird nicht im Studio, sondern in der Wohnung. Der “Deutschlandfunk” hat mit Ann-Kathrin Wetter gesprochen, die als Redakteurin zuständig ist für die Wohngemeinschaft mit Nachrichtenwert.

5. Verlage!
(konstantinklein.com)
Konstantin Klein hat mit einem Tool untersucht, wie Medienseiten mittels sogenannten Trackern ihre Besucher überwachen. Bei “Spiegel Online” sind gar 65 dieser Digitalschnüffler im Einsatz. Klein kommentiert: “Ihr seht also, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, warum ich euer Gejammer über die bösen, bösen Datensammler von der anderen Seite des Atlantik zumindest scheinheilig finde. Und ihr solltet sehen, warum in Zeiten der Datensammelwut der Einsatz von Trackblockern nichts als Notwehr derer ist, die auf ihre Daten aufpassen und sie nicht jedem in die Hand drücken wollen.”

6. Podcasts des Monats
(sueddeutsche.de)
Genau passend zum Wochenende stellt die “Süddeutsche” eine Auswahl hörenswerter Podcasts vor. Dabei ist etwas aus dem Schlagerkosmos, ein fiktionales Format, ein Reisepodcast, etwas Literarisches und ein Format über psychologische Phänomene.

Cola light im Keller statt Kreml

Julian Reichelt und sein “Bild”-Team witterten direkt die ganz große Sache:

Normalerweise ist das eine Methode der Hacker des russischen, auf Cyberkrieg spezialisierten Militärgeheimdienstes GRU.

Bei russischen Geheimdiensten heißt solches Material “Kompromat” — Erpressungs-Material.

Dritte Spur: der russische Militärgeheimdienst GRU. Putins Cyberkrieger hackten sich bereits ins Bundestagsnetz. Reste dieser Angriffe könnten jetzt für den erneuten Daten-Angriff genutzt worden sein

Als Urheber oder Unterstützer kämen Staaten wie Russland und China infrage, hieß es zunächst. Besonders Russland steht im Verdacht, seit Jahren massiv Hackerangriffe auf Deutschland zu befehlen. Auch ein Zusammenwirken Russlands mit rechtsextremen deutschen Gruppen sei nicht auszuschließen.

Und der “Bild”-Chef selbst sprach von “einer größeren Struktur”, die dahinterstecken müsse. Das seien “nicht ein oder zwei Jungs” gewesen, “die bei Pizza und Cola light im Keller gesessen haben, bisschen Computerspiele, bisschen Youtube und dann bisschen was gehackt haben”. Das müsse “eine größere Zahl von Personen” gewesen sein “und vor allem eine professionell vorgehende große Anzahl von Personen, die dieses Material aufbereitet hat.” Wie viele? Reichelt tippte auf “eine gut zweistellige Zahl von Personen”, “die sich damit beschäftigt haben muss”, und zumindest mit “staatlicher Unterstützung, von welcher Seite auch immer”.

Jetzt, ein gutes halbes Jahr nach dem großen Diebstahl von Daten zahlreicher Prominenter und Politiker, steht fest: Weiter hätten Reichelt und “Bild” nicht danebenraten können.

Die Sonderkommission “Liste” des Bundeskriminalamts hat viele Monate ermittelt, zweitweise mit 50 Beamten, mit Experten des Staatsschutzes. Es sei eine “ungewöhnlich gründliche Ermittlung” gewesen, schreiben Georg Mascolo und Ronen Steinke bei Süddeutsche.de. Im Herbst soll es am Amtsgericht im hessischen Alsfeld einen Prozess gegen Johannes S. geben, wegen des Ausspähens von Daten, Datenhehlerei und Verstößen gegen das Datenschutzgesetz. Mehr nicht. Und nichts deutet auf “den russischen Militärgeheimdienst GRU”, “Putins Cyberkrieger” oder eine “staatliche Unterstützung, von welcher Seite auch immer” hin. Johannes S. gilt nach wie vor als Einzeltäter.

Auch Reichelts Geraune vom professionellen Vorgehen ist offenbar Quatsch. Mascolo und Steinke schreiben:

Denn Johannes S., so steht inzwischen fest, war kein sonderlich talentierter und schon gar kein genialer Hacker: Er hatte einfach viel Zeit und Geduld, er rüttelte an jeder elektronischen Tür. Blieb eine verschlossen, versuchte er es bei der nächsten.

Die Methoden, die Johannes S. verwendet haben soll, klingen tatsächlich ziemlich simpel:

Die eine war das Fischen in uralten Datenbanken. Gehackte Email-Passwörter liegen millionenfach in Datenbanken von Kriminellen im Netz, viele wollen damit Geld verdienen. Sind die Passwörter schon älter, bekommt man sie aber auch umsonst. Johannes S. soll gezielt solche Uralt-Passwörter gesucht haben, die einst seinen potenziellen Opfern gehörten. Anschließend soll er deren aktuelle Accounts gesucht und das alte Passwort dort ausprobiert haben. Und siehe da, manche Menschen verwenden jahrelang dasselbe Passwort. So einfach war es.

Bei Methode Nummer zwei habe er sich Fotomontagen von Personalausweisen seiner Opfer besorgt. Mit den vermeintlichen Ausweisscans “soll er dann Provider wie Facebook angemailt haben, mit der höflichen Bitte: Ich habe meine Zugangsdaten vergessen, aber ich kann mich ausweisen. Könnten Sie mir bitte ein neues Passwort geben?”

Ziemlich einfach, aber immer noch aufwändiger als die Recherchen der “Bild”-Redaktion bei diesem Thema.

Dazu auch:

“Skandal-Reise”: “Bild”-Reporter führt Leserschaft in die Irre

Wenn ein Grünen-Politiker und ein Linken-Politiker in Russland sind, und dann auch noch ein AfD-Politiker eine Rolle spielt, dauert es nicht lange, bis die “Bild”-Medien “SKANDAL” schreien:

Ausriss Bild-Zeitung - Skandal-Reise - AfD-Politiker führt Trittin und Gysi durch Moskau
Screenshot Bild.de - Skandal-Reise - AfD-Politiker führt Trittin und Gysi durch Moskau

Diese Artikel erschienen am Montagabend bei Bild.de und am Dienstag in der “Bild”-Zeitung. Und es ist bemerkenswert, wie großzügig “Bild”-Chefreporter Peter Tiede entscheidende Informationen weglässt, um auf diesen Spin zu kommen.

Erstmal: Es handelt sich nicht, wie man bei den Überschriften von “Bild” und Bild.de direkt denken könnte, um irgendeine Reise eines AfD-Politikers, der sich Jürgen Trittin und Gregor Gysi überraschend angeschlossen haben. Es geht um einen offiziellen Besuch der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe (zu der mehr Leute gehören als nur die drei). Peter Tiede schreibt dazu:

Sieben Bundestagsabgeordnet aller Fraktionen für fünf Tage auf Russland-Besuch — organisiert vom AfD-Abgeordneten Robby Schlund (52), einem bekennenden Kreml-Lobbyisten und Putin-Fan!

Es ist der erste Russland-Besuch der Deutsch-Russischen-Parlamentsgruppe seit der Bundestagswahl. Dank Schlunds Planung: Der Besuch der Deutschen ist trotz Krim-Besetzung und Ukraine-Krieg ein Propaganda-Erfolg für Kreml-Führer Wladimir Putin (66)! Die Abgeordneten sind seit Sonntagabend in Russland, offiziell begann die Reise am Montag.

Ganz vorn dabei neben Schlund: Grünen-Urgestein Jürgen Trittin (64) und Linke-Ikone Gregor Gysi (71).

Das Besuchsprogramm fasst Tiede so zusammen:

Nach BILD-Informationen plante Schlund die wesentlichen Termine — an der deutschen Botschaft vorbei — mit Kreml-Hilfe!

Geplanter Propaganda-Höhepunkt ist der Donnertag (sic):

► Vormittags: Besuch beim Kreml-Konzern Gazprom (Nord-Stream/Altkanzler Schröder) — inklusive Mittagessen auf Gazprom-Kosten!

► Nachmittags: Staats-TV-Holding “Rossija Sewodnja” (betreibt u. a. den deutschen Hetzsender “Sputnik”). Generaldirektor Kisseljow (“Europa atomar Auslöschen!”) steht unter EU-Sanktionen! Trotzdem gibt die Bundestags-Truppe ausgerechnet dort ihre Pressekonferenz!

Da fehlt nun wirklich einiges.

Erstmal ein paar nicht ganz unwichtige Informationen zu den bi- und multilateralen Parlamentariergruppen: Von denen gibt es aktuell 47. Die Abgeordnete können frei wählen, zu welchen sie gehören möchten. Und so kommen dann zum Beispiel zustande: eine Deutsch-Schweizerische Parlamentariergruppe, eine Deutsch-Pazifische, eine Deutsch-Brasilianische, eine Deutsch-Indisch. Und eben auch eine Deutsch-Russische. Dort ist der AfD-Abgeordnete Robby Schlund Vorsitzender, was aber nicht auf eine Wahl oder ähnliches zurückzuführen ist. Bei den Parlamentariergruppen bestimmt der Ältestenrat des Bundestages “unter Berücksichtigung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen”, wer Vorsitzende oder Vorsitzender wird. Aus jeder andere Fraktion wird eine Stellvertreterin beziehungsweise ein Stellvertreter festgelegt.

Für die Grünen ist Jürgen Trittin bei der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe stellvertretender Vorsitzender. Als Antwort auf den Artikel von “Bild”-Reporter Tiede schreibt er, dass das Programm “von allen stellvertretenden Vorsitzenden und dem Vorsitzenden in Kenntnis der Wünsche der russischen Seite vorbereitet” worden sei:

Verschiedenste Programmpunkte wurden im Vorfeld sehr strittig besprochen. Gegen den expliziten Wunsch der russischen Seite und teilweise auch des Vorsitzenden wurden von den stellvertretenden Vorsitzenden aus CDU, SPD, FDP, Linken und Grünen gemeinsam durchgesetzt:

Gespräch mit den deutschen politischen Stiftungen vor Ort — darin eingebettet ein ausführliches Gespräch mit der kriminalisierten russischen Zivilgesellschaft und Menschrechtsorganisationen.

Gespräch mit Pawel Grudinin, erfolgreichster Gegenkandidat zu Putin bei der Präsidentschaftswahl 2016

Teilnahme am Pressefest der deutschen Botschaft, zu dem auf unseren Wunsch hin auch oppositionelle Medien wie Meduza und deren Reporter Iwan Golunow eingeladen werden (auch wenn seine Teilnahme aus bekannten Gründen eher unwahrscheinlich ist). Die Delegation will sich so einen Eindruck den Bedrohungen für Presse, Journalist*innen und Blogger*innen machen. (…)

Außerdem standen auf dem Programm u.a. Gespräch mit der russischen Delegation der russisch-deutschen Parlamentariergruppe, dem Auswärtigen Ausschuss der Duma, dem stellv. Russischen Außenminister Titow und der Besuch des VW-Werkes in Kaluga sowie auf expliziten Wunsch der russischen Seite ein Besuch bei der Moskauer Niederlassung von Gazprom auf dem Programm.

Abgesehen von dem Besuch bei Gazprom ist von all diesen Punkten bei “Bild” nichts zu lesen.

Zur Pressekonferenz, die auch Peter Tiede thematisiert, schreibt Jürgen Trittin:

Unser expliziter Wunsch, dass die Pressekonferenz bei der Nachrichtenagentur TASS stattfinden solle, wurde von der russischen Seite abgelehnt. Ein Besuch in den Redaktionsräumen von Russia Today wurde von uns abgelehnt. Die jetzt beim Medienhaus Rossija Segodnya geplante Pressekonferenz wird deshalb ohne Beteiligung der stellvertretenden Vorsitzenden stattfinden.

Und der Grünen-Politiker liefert auch noch die Antwort auf eine Frage, die “Bild” ihm nie gestellt hat:

Die von der BILD aufgeworfene Frage, warum wir überhaupt in einer Delegation unter dem formellen Vorsitz eines AfD-Abgeordneten nach Moskau reisen, hätte ich der Redaktion gerne beantwortet — allerdings hat sie nie gefragt.

Aber die Antwort ist klar: wären alle stellvertretenden Vorsitzenden bzw. weiteren Mitglieder der Parlamentariergruppe zu Hause geblieben, hätte die Reise des Vorsitzenden trotzdem stattgefunden. Allerdings ohne Treffen mit Stiftungen, unabhängige Medien und Opposition — und mit mindestens einem Auftritt bei Russia Today. Das zu verhindern war die klare Übereinkunft aller weiteren Mitglieder der Delegation.

So eine Antwort hätte Peter Tiede und der “Bild”-Redaktion aber natürlich die Geschichte kaputtgemacht.

Mit Dank an Theo für den Hinweis!

Nachtrag, 21. Juni: Bei der Pressekonferenz, die am Donnerstagnachmittag stattfand, waren mit Doris Barnett, Michael Georg Link und Gregor Gysi doch stellvertretende Vorsitzende der Parlamentariergruppe dabei.

Merkels Zittern, GOA-Preisträger, Abgeknallte Drohne

1. Preise für die besten Seiten im Netz
(wdr.de, Susanne Schnabel)
Gestern ist in Köln der begehrte Grimme Online Award vergeben worden. Zu den Ausgezeichneten zählen unter anderem der “Krieg und Freitag”-Zeichner Tobias Vogel, das “Techniktagebuch”, die “Krautreporter” und “Wem gehört Hamburg”. Insgesamt gab es 1.200 Vorschläge und 28 Nominierte.
Weiterer Lesetipp: Das Grimme-Institut kritisiert das zu geringe Angebot von geeigneten Online-Angeboten für Kinder: Wenig Auswahl für junge Mediennutzer (deutschlandfunk.de, Annika Schneider).

2. Wer spielt denn schon mit Mädchen?
(faz.net, Axel Weidemann)
Vor ein paar Jahren bestand die Hoffnung, dass in Computerspielen Frauen nicht nur als schmückendes Beiwerk auftauchen, sondern tragende Rollen übernehmen. Von dem leisen Wandel ist jedoch nicht viel übrig geblieben, wie aus einem Bericht für das “Wired”-Magazin hervorgeht.

3. Das große Zittern
(taz.de, Ambros Waibel)
“Warum zum Teufel wollen fast 280.000 Leute etwa auf dem YouTube-Kanal von RT Deutsch sehen, wie Merkel zittert?” Ambros Waibel schreibt über den fragwürdigen Nachrichtenwert des kleinen Schwächeanfalls von Angela Merkel.

4. Verschärftes Vorgehen gegen Exil-Blogger
(reporter-ohne-grenzen.de)
Anscheinend will Bahrain auf der Rangliste der Pressefreiheit noch weiter nach hinten rutschen (derzeit Platz 167 von 180): Nach Angaben von “Reporter ohne Grenzen” geht das Land auch gegen im Exil lebende Bloggerinnen und Blogger vor. Das betreffe beispielsweise den in Deutschland lebenden Exil-Blogger Sajed Jusif al-Muhafdha. “Offensichtlich will Bahrain die letzten Nischen für Kritik an der Regierung schließen und sogar Bloggerinnen und Blogger im Exil mundtot machen. Bahrains Behörden gehen schon lange mit großer Brutalität gegen regierungskritische Medienschaffende vor. Jetzt nehmen sie die einfachen Internetnutzerinnen und -nutzer ins Visier. Künftig muss dort jeder und jede mit Verfolgung rechnen, die sich über soziale Medien aus unabhängigen Quellen informieren will.”

5. “Viele lesen Haaretz, weil sie keine Alternative haben”
(sueddeutsche.de, Alexandra Föderl-Schmid)
Die israelische Tageszeitung “Haaretz” ist dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. “SZ”-Korrespondentin Alexandra Föderl-Schmid hat dem Blatt einen Besuch abgestattet und mit dem Chefredakteur über Rolle, Funktion und Leserschaft der Zeitung gesprochen. Und es geht um die Ausrichtung des oftmals als politisch links wahrgenommenen Mediums. Wobei es nicht von der nach eigener Definition rechtesten Regierung Israels profitiere: “Wir haben keine Trump-Blase.”

6. Anwohner durfte Drohne mit Luft­ge­wehr abschießen
(lto.de)
Eine Meldung mit indirektem Medienbezug, denn Drohnen spielen in unserer Medienwelt eine immer größer werdende Rolle. Und werden auch dafür genutzt, gegen das geltende Recht Aufnahmen zu produzieren. Nun hat das Amtsgericht Riesa einen Mann freigesprochen, der die 1.500 Euro teure Drohne seines Nachbarn mit seinem Luftgewehr abgeschossen hat.

Qualität der Recherche? Fucking miserable.

Ende Mai ging eine Nachricht um die Welt. Angefangen beim “Guardian”, drehte sie schnell auch in deutschsprachigen Medien ihre Runde: Sie erschien unter anderem bei Stern.de, der “Berliner Zeitung”, dem “Kölner Stadtanzeiger”, dem “Berliner Kurier”, dem “Express”, der “Mopo”, bei “Focus Online”, Woman.at, Heute.at, Kurier.at, Kosmo.at, Wienerin.at, Diepresse.com, Bunte.de, Watson.de, Web.de, Businessinsider.de, Gmx.de, Yahoo.de, Infranken.de, Elle.de, Freundin.de, RTL.de — nämlich:

Collage aus Schlagzeilen: Frauen sind ohne Ehepartner und Kinder glücklicher; Unverheiratete und kinderlose Frauen sind die glücklichsten Menschen, sagt ein Verhaltensforscher; Unverheiratete, kinderlose Frauen sind am glücklichsten; Kinderlos glücklich: Frauen leben ohne Ehepartner und Kinder glücklicher; Frauen sind ohne Mann und Kind glücklicher; Experte erklärt: Frauen ohne Mann und Kind sind am glücklichsten, Singles aufgepasst: Ohne Mann und Kind sind Frauen am glücklichsten; Laut Studie: Frauen sind glücklicher ohne Ehemann oder Kinder; Von wegen Heirat und Kinder: Experte berichtet, warum Single-Frauen am glücklichsten sind; Frau, Single, kinderlos, glücklich!; Studie: Deshalb sind unverheiratete, kinderlos Frauen so glücklich; Laut Experte: Frauen sind ohne Kinder und Ehepartner glücklicher; Verhaltensforscher: Unverheiratete und kinderlose Frauen sind am glücklichsten; verhaltensforscher: Unverheiratete Frauen ohne Kinder sind am glücklichsten; Studie: Sind Single-Frauen ohne Kinder am glücklichsten?; Studienauswertung zeigt: Kinderlos und unverheiratet? Gut - denn dann bist du glücklicher als andere Frauen!; Verhaltensforschung enthüllt: Diese Frauen sind am glücklichsten; Verhaltensforscher: Frauen sind ohne Kinder oder Ehepartner glücklicher

In den Artikeln geht es um Aussagen des Verhaltensforschers Paul Dolan. Der bewirbt gerade sein neues Buch und wirft deshalb bei jeder Gelegenheit mit knackigen Thesen um sich. Vor allem mit jener, dass unverheiratete, kinderlose Frauen am gesündesten und glücklichsten seien. Verheiratete Frauen hingegen seien weniger glücklich und würden sogar früher sterben. Außerdem:

Verheiratete Menschen sind glücklicher als andere Bevölkerungsuntergruppen, aber nur dann, wenn ihr Ehepartner im Zimmer ist, wenn sie gefragt werden, wie glücklich sie sind. Wenn der Ehepartner nicht anwesend ist: verdammt elend.

Oder im Original:

Married people are happier than other population subgroups, but only when their spouse is in the room when they’re asked how happy they are. When the spouse is not present: fucking miserable.

Spätestens an dieser Stelle wurde ein anderer Forscher, Gray Kimbrough von der American University’s School of Public Affairs, stutzig.

Kimbrough hat in seiner Arbeit oft mit den Daten des “American Time Use Survey” (ATUS) zu tun — den gleichen Daten, aus denen Dolan auch seine knackigen Thesen abgeleitet hat. Und so fiel Kimbrough sofort auf, dass Dolan einen peinlichen Fehler gemacht hatte: In der ATUS-Umfrage gibt es eine Kategorie, die “spouse absent” (“Ehepartner abwesend”) heißt. Daraus wurde dann bei Dolan (und schließlich in den Medien), dass verheiratete Menschen nur dann glücklich seien, wenn ihr Ehepartner während der Befragung “im Zimmer ist”, und dass es ihnen “fucking miserable” gehe, wenn er nicht im Zimmer ist. Das ist aber völliger Blödsinn. “Spouse absent” ist einfach die Kategorie für Befragte, die zwar noch verheiratet sind, aber nicht mehr im selben Haushalt leben.

Dolan selbst hat den Fehler inzwischen eingeräumt, der “Guardian” hat ihn nun auch korrigiert. Die deutschsprachigen Medien nicht.

Diese Stelle war jedoch nicht das einzige Problem. Auch die anderen Thesen Dolans “fallen schon nach einem flüchtigen Blick auf die Daten auseinander”, kritisiert Kimbrough. So ergibt sich aus den ATUS-Daten beispielsweise diese Tabelle:

Tabelle: Mean happiness rating on a scale of 0 to 6 - Men Never Married No Kids: 4.1, Men Never Married Kids: 4.2, Men Married No Kids: 4.3, Men Married Kids: 4.3, Women Never Married No Kids: 4.2, Women Never Married Kids: 4.4, Women Never Married Kids: 4.4, Women Married No Kids: 4.4, Women Married Kids: 4.4

Und wie man sieht, sind nicht die unverheirateten, kinderlosen Frauen am glücklichsten. Auch nach ihrem Alter betrachtet liegen Verheiratete auf der Happiness-Skala nahezu durchgehend über den Nie-Verheirateten:

Das ist so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Dolan und mit ihm etliche Medien behaupten. Dolan selbst ist immerhin ein kleines bisschen zurückgerudert. Von den Journalisten aber, die, statt selber zu recherchieren, einfach voneinander abgeschrieben haben, hat vermutlich nicht mal jemand gemerkt, was für einen Quatsch sie da verbreiten.

Mit Dank an Benjamin für den Hinweis!

Siehe auch:

Nachtrag, 20. Juni: Stern.de hat den Artikel nun komplett überarbeitet.

Rezo-Interview, Endstation für “Endstation”, Warnstreik bei dpa

1. A!386 – Rezo-Folge
(aufwachen-podcast.de, Tilo Jung & Stefan Schulz, Audio/Video: 5:40 Stunden)
Die “Aufwachen”-Podcaster Stefan Schulz und Tilo Jung warten in der neuesten Ausgabe mit einem prominenten Gast auf: Dem Youtuber Rezo, dessen “Zerstörung der CDU” mittlerweile mehr als 15 Millionen mal angeschaut wurde. In der insgesamt mehr als fünfstündigen Podcast-Produktion geht es volle 90 Minuten um Rezos Werk, seine Entstehungsgeschichte, die Produktion und die Zeit danach.

2. «Die New York Times versetzte der Meinungsäusserungsfreiheit einen herben Schlag»
(medienwoche.ch, Eva Hirschi)
Die “New York Times” hat am 10. Juni verkündet, in ihrer internationalen Ausgabe keine täglichen politischen Karikaturen mehr zu veröffentlichen. Vorausgegangen war eine vielfach kritisierte Karikatur eines portugiesischen Pressezeichners, für das das Blatt um Entschuldigung bitten musste. Von der grundsätzlichen Abkehr vom Genre Karikatur unmittelbar betroffen: Der Schweizer Pressezeichner Patrick Chappatte, der am selben Tag mit einer Art von Manifest antwortete. Im Interview mit der “Medienwoche” erzählt er, warum er die Entscheidung nicht nachvollziehen kann: “Mit den Pressezeichnungen verstummt eine der Stimmen der Meinungsäusserungsfreiheit. Eine Pressezeichnung ist die direkteste, ehrlichste und kritischste Stimme. Dass die New York Times nun wegen einer einzelnen Zeichnung ein ganzes Genre aus der Zeitung verbannt, ist für mich nicht nachvollziehbar. Sie hat doch auch schon Artikel publiziert, für die sie sich später geschämt und deren Publikation sie bereut hat. Zum Beispiel hat die New York Times die These, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gibt, während langer Zeit in ihrer Berichterstattung bestätigt. Und was ist passiert, als sich dies als Fehler herausgestellt hat? Hat man deswegen die gesamte Auslandberichterstattung verbannt? Natürlich nicht.”
Weiterer Lesetipp: Illustrator Christoph Niemann: “Ich bin hin- und hergerissen” (monopol-magazin.de).

3. Youtube sperrt bayerische Info-Seite gegen Rechtsextremismus
(br.de, Christian Schiffer)
Es scheint sich um einen typischen Fall von Overblocking zu handeln, bei dem eine Plattform etwas sperrt, was sie eigentlich nicht sperren müsste: Youtube hat das Konto von “Endstation Rechts Bayern” gekündigt, einem Informationsportal über Rechtsextremismus. Damit sind die Beobachtungsvideos über die rechtsextreme Szene nicht mehr auf Youtube verfügbar. Die Twitter– und Facebook-Konten existieren jedoch weiterhin.

4. Der Boom der Audios steht gerade erst am Anfang
(universal-code.de, Christian Jakubetz, Audio: 26:55 Minuten)
Christian Bollert ist Geschäftsführer des Internetradios und Podcastlabels detektor.fm und kann auf nahezu zehn Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet zurückblicken. Im Interview mit Christian Jakubetz redet Bollert unter anderem über personalisiertes Radio und das Problem der Reichweitenmessung, singt das Loblied auf die Nische und verrät, warum Podcasts kein vorübergehender Hype sind.

5. Warnstreik für mehr Einkommen
(djv.de, Hendrik Zörner & Cornelia Berger)
Bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) kam es gestern zu einem Warnstreik: Rund 100 Beschäftigte des Berliner Newsrooms legten in einer “aktiven Mittagspause” die Arbeit nieder. Gewerkschaft und Journalistenverband fordern Lohnerhöhungen von mindestens zwei Prozent für die bundesweit rund 800 Beschäftigten. Die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (ver.di) Cornelia Berger kommentiert: “Es ist der erste Warnstreik in der langen Geschichte der dpa und er zeigt, wie wütend und entschlossen die Beschäftigten sind, ein Angebot zurückzuweisen, das für viele Reallohnverluste bedeuten würde.”

6. Wenn der Chefredakteur 200 mal klingelt
(deutschlandfunk.de, Michael Borgers, Audio: 5:36 Minuten)
Lokaljournalismus heißt, zu den Menschen zu gehen. Der Chefredakteur des “Mindener Tageblatts”, Benjamin Piel, beherzigt dies auf eine besonders eindrückliche Art: Er kann auf mittlerweile 200 Interviews mit in der Region lebenden Menschen zurückblicken. Beim 199. Besuch hat Piel einen Landwirt besucht und sich dabei vom “Deutschlandfunk” begleiten lassen.

Für Tatsachen braucht Bild.de keine Belege

Im Nahen Osten ist sowieso immer und zurzeit besonders größere Vorsicht geboten. Jeder Fehltritt kann zu einer weiteren Eskalation führen, etwa im Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Da sollte man genau arbeiten, auch und gerade Redaktionen, und nicht noch zündeln. Und schon sind wir bei Bild.de.

Am vergangenen Sonntag veröffentlichte das United States Central Command, kurz Centcom, ein Statement, in dem es hieß, eine iranische SA-7-Rakete habe eine amerikanische MQ-9-Drohne verfehlt. Eine Analyse der Vorfälle deute darauf hin, dass es ein Versuch gewesen sei, die Drohne abzuschießen oder die Überwachung des Angriffs der Iranischen Revolutionsgarde auf zwei Tanker zu stören. Beweise führte das Centcom dafür bislang nicht an.

Interessant ist, wie Medien anschließend mit so einem Statement des Centcom, also einer der beteiligten Parteien, umgehen.

In der “Süddeutschen Zeitung” von gestern etwa hieß es:

Das US-Zentralkommando Centcom brachte indes neue Vorwürfe gegen Iran vor. So hätten iranische Revolutionsgarden erfolglos versucht, eine US-Drohne über dem Golf von Oman abzuschießen. Belege dafür gab es zunächst keine.

Auch CNN ordnete den Vorgang mit einfachen rhetorischen Mitteln im Titel so ein, wie man es eben macht, wenn eine Behauptung nicht belegt ist: “Iranians fired missile at US drone prior to tanker attack, US official says”, heißt es in der Überschrift des Online-Artikels. Ein Komma und drei Worte, die einen großen Unterschied machen.

Anders sieht es bei Bild.de aus. Die Redaktion titelte am Sonntag:

Screenshot Bild.de - Neue Vorwürfe gegen Teheran - Iraner schossen Rakete auf US-Drohne

Kein “sollen”, kein “angeblich”. Nur die vollendete Tatsache.

Nun wird man in den nächsten Tagen oder Wochen wohl sehen, ob die USA Beweise für die Anschuldigung vorlegen können. Und natürlich kann am Ende rauskommen, dass die Vorwürfe tatsächlich so stimmen. Aktuell weiß das aber auch die Bild.de-Redaktion nicht so sicher, wie sie in der Überschrift tut. Und auch wenn sie die Situation im Artikel differenzierter darstellt — wer, wenn nicht “Bild”, weiß, welche Wirkung Überschriften haben?

Auch rechtsextreme Tatverdächtige sind Tatverdächtige

Im Fall des getöteten CDU-Politikers und früheren Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gibt es einen Tatverdächten: Stephan E., ein Neonazi, der für verschiedene rassistische Verbrechen verurteilt wurde, seit 2010 allerdings auch nicht mehr durch Straftaten aufgefallen ist. Eine DNA-Spur auf der Leiche führte zu ihm.

So gut wie alle Medien, die über die Festnahme von E. und die Ermittlungen gegen ihn berichten und Fotos oder Videos von ihm zeigen, verpixeln das Gesicht oder setzen einen Balken über die Augen. Die “Bild”-Medien tun das nicht. Auf der Titelseite der “Bild”-Zeitung, im Blatt und auf der Startseite von Bild.de ist Stephan E. heute unverpixelt zu sehen:

Ausriss Bild-Titelseite - Kopfschuss-Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke - Die Terrorakte des verhafteten Neonazis - schon mit 20 legte Stephan E. eine Bombe am Asylheim
Ausriss Bild-Zeitung - So lebte Neonazi Stephan E.
Screenshot Bild.de - Die Terror-Akte des verhafteten Neonazis
Screenshot Bild.de - Kopschuss-Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke - Sol lebte Neonazi Stephan E. Der Rasen ist sattgrün und akkurat gestutzt, Hecken und Büsche sauber geschnitten
(Alle Unkenntlichmachungen in diesem Beitrag durch uns.)

So beunruhigend der Fall und so schrecklich die Tat und so eklig der Hass ist: Solange E.s Schuld nicht geklärt ist, finden wir das unverpixelte Zeigen der Aufnahmen nicht in Ordnung. Sollte es ein Geständnis geben oder eine Verurteilung, könnte das schon wieder anders aussehen: Durch die immense Bedeutung des Falls könnte Stephan E. dann eine Person der Zeitgeschichte sein. Aber aktuell ist Stephan E. nur Verdächtiger.

Das soll Medien natürlich nicht davon abhalten, groß und auf Titelseiten über den Fall und mögliche Hintergründe und Rechtsterrorismus zu berichten. Aber wenn wir hier im BILDblog immer wieder betonen, dass Tatverdächtige eben genau das sind: Tatverdächtige, dann gilt das auch für Menschen, deren Gesinnung wir verachten. Oder kurz gesagt, so schwer es auch fallen mag: Auch Neonazis haben Rechte.

Dazu auch:

Blättern:  1 ... 191 192 193 ... 1142