Fangen wir ganz einfach und der Sache völlig unangemessen an: Wenn ein Junge ein vorbeifahrendes Auto sieht und denkt, es handelt sich um einen Opel, und zu seiner Mutter sagt: “Mama, da ist ein Opel”, und die Mutter dann hinschaut und sieht, dass es gar kein Opel ist, sondern ein BMW, dann könnte man sagen: Der vermeintliche Opel war in Wirklichkeit ein BMW.
Es geht um das Wort “vermeintlich”. In aller Regel deutet es auf eine Situation hin, in der irrtümlich etwas angenommen wird: Das vermeintliche Schnäppchen war tatsächlich gar kein Schnäppchen. Das vermeintliche Churchill-Zitat stammt gar nicht von Churchill. Und so weiter.
Schreibt eine Redaktion von “vermeintlichen Opfern” eines bekannten deutschen Regisseurs, dann legt sie sich damit fest, dass die erhobenen Vorwürfe nicht stimmen. Sie legt sich fest, dass die Frauen lügen, die Dieter Wedel derzeit beschuldigen, sie gedemütigt, misshandelt, vergewaltigt zu haben.
Heute in “Bild”:
Bereits gestern Abend bei Bild.de:
In einem dreiseitigen “Zeit”-Dossier kommen vier weitere vermeintliche Opfer und Schauspieler Michael Mendl (73) zu Wort.
Ist das nun Wortklauberei? Finden wir nicht. Wenn Frauen sich in vielen Fällen nicht trauen, über sexuelle Gewalt zu sprechen oder Vergewaltigungen anzuzeigen, weil sie Angst haben, dass man ihnen nicht glauben könnte; weil sie Angst haben, dass man sie nur als “vermeintliche Opfer” sehen könnte, ist eine Formulierung wie die der “Bild”-Medien Gift.
Ist das nun einfach nur fehlende Genauigkeit bei der Wortwahl des anonymen Autors? Könnte sein. Jedenfalls hat Bild.de die Stelle inzwischen in “vier weitere mutmaßliche Opfer” geändert. Aber warum darf bei den “Bild”-Medien jemand über ein solch heikles Thema schreiben, der den Unterschied zwischen “vermeintlich” und “mutmaßlich” nicht kennt?
Das Ende des “Bild”-Artikels über die neuen Anschuldigungen gegen Dieter Wedel ist ebenfalls bemerkenswert. Sowohl online als auch in der Print-Version gibt es diesen “Hinweis”:
Ein paar Gedanken zu dieser bis dato einmaligen Aktion:
- Ein solcher Kasten wäre in vielen, vielen Fällen, in denen “Bild” und Bild.de Menschen schon lange vor “ordentlichen Gerichtsverfahren” vorverurteilt haben, angebracht gewesen. Stattdessen haben “Bild”-Mitarbeiter üble Kampagnen gestartet und auf “journalistische Standards” keinerlei Wert gelegt.
- Interessieren sich “Bild” und Bild.de unter der Leitung von Julian Reichelt nicht immer weniger für “ordentliche Gerichtsverfahren” und deren Ergebnisse, sondern viel mehr für Urteile auf der Grundlage von eigenen Sympathien und Meinungen?
- Es ist schon interessant, wie die “Bild”-Redaktion den Umstand der Verjährung nicht als Problem der Frauen beschreibt, die nun nicht mehr rechtlich gegen Dieter Wedel vorgehen können, sondern als Problem Wedels, der sich nun nicht mehr verteidigen könne.
- Und natürlich kann Dieter Wedel sich gegen die Vorwürfe juristisch verteidigen. Die angeblichen Taten, die ihm vorgeworfen werden, mögen zum größten Teil verjährt sein, wenn auch nicht alle. Die Anschuldigungen aber stammen von heute. Wenn Wedel sich gegen sie wehren möchte, beispielsweise wegen Verleumdung, kann er das tun.