Gestern waren sich die Fußballexperten von Bild.de und “Sport1” noch so sicher: David Wagner — ein guter Freund von Jürgen Klopp und aktuell beim englischen Zweitligisten Huddersfield Town angestellt — wird ganz bald als Trainer bei den Bundesligafußballern des VfL Wolfsburg auf der Bank sitzen:
Ja, gut, ein, zwei Details müssten vielleicht noch geklärt werden. Aber eigentlich sei alles fix — auch wenn der “Aufsichtsrat dementiert”. Was soll da schon noch anbrennen? Wagner kommt nach Wolfsburg!
Heute hat David Wagner klargestellt, dass er nicht wechseln wird:
Vor knapp fünf Stunden, als bekannt wurde, dass die Berliner Polizei daran zweifele, gestern Abend den Richtigen festgenommen zu haben, sagte ein Moderator von “N24” sinngemäß: Da sehe man mal, was passieren könne, wenn man ungeprüft Dinge verbreite.
Oh ja. Und die Berichterstattung gestern und heute zum Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz zeigt einmal mehr, wie heftig Journalisten in solchen Extremsituationen, die dann auch zu medialen Extremsituationen werden, Gerüchten hinterherjagen, sie in die Welt setzen und am Ende doch wieder zurückrudern müssen.
Man könnte an den vielen Artikeln und Live-Streams und TV-Beiträgen rund um das Geschehen am Breitscheidplatz sicher einiges kritisieren. Da wäre zum Beispiel ein Reporter der “Berliner Morgenpost”, der über Facebook Livebilder von Opfern und Helfern zeigte, obwohl die Berliner Polizei explizit darum gebeten hatte, dies nicht zu tun. Einige TV-Sender sollen ähnliche Aufnahmen vom Weihnachtsmarkt verbreitet haben, mit Zooms auf Opfer, die gerade behandelt wurden. Die “Berliner Morgenpost” hat ihr Video inzwischen gelöscht.
Bleiben wir aber mal bei dem einstigen Tatverdächtigen, der gerade erst wieder von der Polizei freigelassen wurde, und den Berichten über ihn. Die Spekulationen, Mutmaßungen und Ratereien über ihn zeigen, wie hysterisch Medien agieren, wie sie Halbwissen herausposaunen, sich widersprechen.
“Unbestätigte Informationen”, soso. Sowieso war Welt.de gestern und heute immer ganz vorne mit dabei, wenn es Neuigkeiten gab — egal, ob diese nun richtig oder falsch waren. Nur 16 Minuten nach der Tschetschenen-Meldung tauchten die nächste “unbestätigten Informationen” bei Welt.de auf:
Da war das Gerücht mit dem Tschetschenen aber schon raus und bei anderen Portalen aufgetaucht, auch weil “Welt”-Chefredakteur Ulf Poschardt die Falschinformation seines Teams über den Twitter-Account des “Zeit Magazins” verbreitete, wo er momentan Gast-Twitterer ist. Der Tweet des “Zeit Magazins” ist inzwischen gelöscht. Die Journalistin Lena Niethammer hat das Ganze aber dokumentiert:
Bild.de übernahm dann sowohl Pakistan als auch Afghanistan als Herkunftsland und erklärte den Festgenommenen direkt zum “Todes-Fahrer von Berlin”:
Die Onlineredaktion der “B.Z.” machte den Verdächtigen ebenfalls schon zum “Täter” und produzierte diese merkwürdige Überschrift:
Als heute, am frühen Nachmittag, bekannt wurde, dass die Ermittler sich nicht mehr so recht sicher seien, ob der festgenommene Mann aus Pakistan tatsächlich der Fahrer des Lkw ist, hatten zahlreiche Medien schon etliche Informationen über ihn verbreitet: Alter, Herkunft, dass er als Flüchtling gekommen sei, wo und wann er die Grenze nach Deutschland übertreten habe. Jetzt, wo es so scheint, als habe er nichts mit der Tat zu tun, stellt es sich als großes Glück heraus, dass bisher kein Foto von ihm veröffentlicht wurde.
In der Zwischenzeit haben auch die Medien Zweifel bekommen. Völlig egal, dass sie vorher schon vermeldet haben, dass der Verdächtige auch der Täter sei. Hierzum Beispiel Bild.de:
Das Gegenteil von all dieser Hysterie und dem Gerüchtehinterherlaufen wäre: abwarten, die ermittelnden Behörden ihre Arbeit machen lassen, dann berichten, wenn es gesicherte Fakten gibt. Das machen viele Redaktionen auch. Zu viele aber auch nicht. “Zeit”-Journalist Yassin Musharbash schlägt vor: “An einem Tag wie diesem heißt es geduldig sein.”
*Nachtrag, 21. Dezember: Ziemlich früh nach den ersten Meldungen zum Vorfall am Breitscheidplatz nannte die “heute”-Redaktion des “ZDF” bei Twitter den eigentlichen Fahrer des Lkw aus Polen als Verursacher. Die Redaktion bezog sich dabei auf eine angebliche Feuerwehrmeldung:
Wenige Minuten später schickte das “ZDF”-Team eine Korrektur raus:
1. Vertrauen gibt es nicht umsonst (taz.de, Peter Weissenburger)
Die “dpa”-Meldung „Türkische Behörden verbieten Weihnachten.“ sei nicht ganz präzise gewiesen, habe sich jedoch als Segen für die Fakenews-Debatte erwiesen, findet “taz”-Autor Peter Weissenburger: “Ein Gewinn ist diese Episode dennoch. Zwar ist es verunsichernd für JournalistInnen, dass in Zeiten nach Pegida, Köln und der US-Wahl ihre Arbeit regelmäßig angezweifelt wird. Andererseits ist zu begrüßen, dass die etablierten Medien so lernen, sich mehr nach außen hin zu erklären. Das kann verlorenes Vertrauen wieder aufbauen.”
2. Gericht verbietet Journalistenschule falschen Faktencheck (uebermedien.de, Stefan Niggemeier)
Die Kölner Journalistenschule KJS darf nicht mehr behaupten, dass „gut ein Viertel“ der von ihr in einem vermeintlichen „Faktencheck“ überprüften Talkshow-Aussagen von AfD-Chefin Frauke Petry zu beanstanden waren, so Stefan Niggemeier auf “Übermedien”. Petry hätte vor dem Oberlandesgericht Köln eine einstweilige Verfügung gegen das Projekt „Faktenzoom“ erwirkt. Für Niggemeier sicher keine große Überraschung. Er selbst hatte schon im Sommer über die Angreifbarkeit der Auswertung berichtet und auf konkrete Fehler hingewiesen.
3. Flüchtlingsforschung gegen Mythen 4 (fluechtlingsforschung.net)
Auch im vierten Teil der Serie “Flüchtlingsforschung gegen Mythen” kommentieren Mitglieder des Netzwerks Flüchtlingsforschung zweifelhafte Politikeraussagen zur Flüchtlingsthematik. Absolut lesenswert für jeden, der sich nicht damit abfinden will, dass wir (angeblich) in postfaktischen Zeiten leben.
4. Ex-Moderator postet Ku-Klux-Klan-Szene (tagesspiegel.de, Rosa Feigs)
Der ehemalige Radiomoderator Elmar Hörig äußert sich auf Facebook regelmäßig auf menschenverachtende und geschmacklose Weise. Nun hat die rheinland-pfälzische SPD-Landtagsabgeordnete Giorgina Kazungu-Haß den Social-Media-Pöbler angezeigt. Konkreter Anlass: Eine von Hörig mit Schokoladenweihnachtsmännern nachgestellte Ku-Klux-Klan-Hinrichtungsszene.
5. Digitale Dopingjagd (dasnetz.online, Martin Einsiedler)
Nach all den Dopingvorfällen der Vergangenheit ist vom “sauberen Sport”, zumindest im Hochleistungssport, nicht viel übrig geblieben. Sportjournalist Martin Einsiedler glaubt, dass neue Methoden des Journalismus bei der Jagd nach Betrügern helfen können. Als Beispiel führt er das von Hajo Seppelt mitgegründete Webportal “sportsleaks.com” an, über das Whistleblower Betrugsfälle im Sport melden und belastende Datensätze, Dokumente oder Ton- und Videoaufnahmen einreichen können. Natürlich unter Wahrung der Anonymität, wie man betont.
6. Zeitschriften, die sich nicht durchgesetzt haben (titanic-magazin.de)
Die Fachleute von der “Titanic” haben zum Jahresende eine Übersicht der Zeitschriften zusammengestellt, die sich auf dem Markt nicht durchsetzen konnten.