Archiv für Oktober 19th, 2015

Galgen und Pranger

Dieses Foto hat vergangene Woche viel Empörung ausgelöst.

“Bild” schickte gleich jemanden auf die Jagd nach dem “Galgen-Mann”, und siehe da:

Ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss. Alles wirkt trist. Der BILD-Reporter klingelt – nach wenigen Sekunden öffnet Bernd A. in Jogginghose und T-Shirt.

Und genau so — in Jogginghose und T-Shirt an seiner Wohnungstür — präsentierte “Bild” den Mann am Samstag groß und unverpixelt in der Bundesausgabe (und online gegen Bezahlung).

(Unkenntlichmachung von uns.)

Die Fotos wurden der Perspektive nach aus Hüfthöhe aufgenommen. Den Namen des Fotografen geben “Bild” und Bild.de nicht an.

In einem Interview mit dem rechtspopulistischen Magazin “Compact” (ab Minute 6:00) sagt der Mann, die Fotos seien “still und heimlich” gemacht worden und obwohl es “eindeutig untersagt war, dass da Fotos gemacht werden”.

Bevor hier Missverständnisse aufkommen (Herr Reichelt, gut aufpassen): Es geht nicht um den Galgen, der war schäbig und hatte mit “Satire”, wie es der Mann nennt, nichts zu tun. Es geht darum, dass auch besorgte Flachzangen Grundrechte haben.

Die ungenehmigte Veröffentlichung von Fotos, die den Abgebildeten in seinem Privatbereich zeigen, verletzt grundsätzlich dessen Persönlichkeitsrecht. Das gilt auch für Personen, die aufgrund ihres Ranges oder Ansehens, ihres Amtes oder Einflusses, ihrer Fähigkeiten oder Taten besondere öffentliche Beachtung finden. (Udo Branahl: Medienrecht, 2009, siehe auch: § 201a StGB)

Ein öffentliches Informationsinteresse an seinem Aussehen besteht ohnehin nicht, zumal “Bild” und Bild.de schon am Mittwoch Fotos von der Demo veröffentlicht hatten, auf denen sein Gesicht zu sehen war.

Die “Bild”-Medien zeigen aber nicht nur Fotos, sie schreiben auch, wo der Mann wohnt, welchen Beruf er ausübt, welche Seiten er bei Facebook “mit ‘Gefällt mir’ angeklickt” hat, welche Musik er mag, welche Kommentare er geschrieben und welche Fotos er gepostet hat. Sie stellen ihn bloß, in Jogginghose und T-Shirt, als wäre ein medialer Pranger zielführender als ein symbolischer Galgen.

Nachtrag, 12. April 2016: Der Presserat hat die Veröffentlichung der Fotos für unzulässig erklärt.

Germanwings, Stephen Glass, Zeitungsvorleser

1. Hinter dem Flatterband
(tagesspiegel.de, Thomas Gehringer)
Vergangene Woche haben sich verschiedene Journalisten zusammengesetzt, um über die Berichterstattung zum Germanwings-Unglück zu sprechen. Motto der Veranstaltung, zu der unter anderem der Presserat eingeladen hatte: “Was lernen wir daraus?” Doch am Ende, so Thomas Gehringer, “stellte sich das ungemütliche Gefühl ein, dass die Medienvertreter der Meinung sind, es gäbe nichts zu lernen, denn: Es war doch eigentlich nicht so schlimm.”

2. Sind Sie ein Diktator?
(taz.de, Saskia Hödl)
Der finnische Präsident Sauli Niinistö war auf Staatsbesuch in der Türkei. Und mit ihm unter anderem der Journalist Tom Kankkonen vom finnischen öffentlich-rechtlichen Sender “YLE”. Der “fragte Erdoğan gerade heraus, ob er ein Diktator sei.” Das türkische Staatsoberhaupt war nicht gerade begeistert.

3. to go or to stay?
(wirres.net, Felix Schwenzel)
Felix Schwenzel will ausdrücklich “keine antwort auf diesen facebook-eintrag von mathias richel” schreiben, sondern vielmehr versuchen, “die gleichen gedanken […] anders zu formulieren”. Im Wesentlichen geht es um diese Fragen: Wie und wo erreichen Medien heutzutage ihre Leser? Sollten sie sich immer noch auf ihre Homepage konzentrieren oder ihre Inhalte möglichst breit gestreut auf allen möglichen Kanälen verteilen — und sich dabei von dem Ziel verabschieden, die Nutzer von sozialen Medien mit Links auf die eigene Webseite zu locken?

4. Radionachrichten: Zu wenig Mut. Zu viele Handtücher
(radio-machen.de, Rita Vock)
“Wir Nachrichtenmacher […] haben bestimmte redaktionelle Standards und manchmal auch Scheuklappen.” Das sagt Rita Vock, Nachrichtenredakteurin beim “Deutschlandfunk”. Mit sechs Thesen versucht sie, diese festgefahrenen Strukturen aufzubrechen und Radionachrichten neu zu denken.

5. Stephen Glass Repays Harper’s $10,000 for His Discredited Work
(nytimes.com, Ravi Somaiya, englisch)
Stephen Glass war Ende der 90er-Jahre einer der großen Nachwuchsstars im US-Journalismus. Bis sich herausstellte, dass mindestens die Hälfte seiner Artikel komplett oder teilweise erfunden waren. Jetzt hat Glass sich zurückgemeldet — mit einer Entschuldigung an seinen einstigen Auftraggeber “Harper’s” in Form eines 10.000-Dollar-Schecks.

6. Sie lesen stundenlang Zeitungen vor
(nzz.ch, Viola Schenz)
Das Programm des australischen Radiosenders “2RPH” ist leicht außergewöhnlich: Es gibt dort ausschließlich vorgelesene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zu hören, den ganzen Tag, jeden Tag. Das Kürzel “RPH” steht für “Radio for the Print Handicapped” und gibt die klare Zielgruppe des gemeinnützigen Senders vor: all jene, die nicht lesen können.