Archiv für Januar 22nd, 2014

Küss mich, wo die Sonne nie scheint

Peking und andere chinesischen Metropolen leiden mal wieder unter extremer Luftverschmutzung. Aber Smog Not macht ja bekanntlich erfinderisch:

Peking versinkt im Smog - Jetzt scheint die Sonne von Bildschirmen! - Am späten Nachmittag lässt die Regierung den Sonnenuntergang auf Bildschirmen untergehen

Smogalarm in Peking: Die 12-Millionen-Metropole versinkt in Abgasen. Sogar die Sonne kommt kaum durch den dichten Dunst. Die chinesische Regierung lässt bereits auf öffentlichen Bildschirmen und Displays die Sonne auf und untergehen.

Auch der “Express” berichtet …

Auf den großen Bildschirmen, die sonst für touristische Sehenswürdigkeiten werben, werden jetzt virtuelle Sonnenaufgänge gezeigt.

… ebenso wie Blick.ch

Damit die Bürger nicht vergessen, wie schönes Wetter aussieht, hat man nun auf den Bildschirmen am Platz des himmlischen Friedens in Peking die Bilder angepasst.

… die “Berliner Morgenpost”

So installierte die Regierung am Tiananmen-Platz eine riesige LED-Wand, um Licht ins derzeitige Dunkel der 20-Millionen-Einwohner-Metropole zu bringen.

… und “Spiegel Online”:

Ein gigantischer LED-Schirm auf dem Tiananmen-Platz in Peking zeigt einen virtuellen Sonnenaufgang. […] Die Menschen strömen mit Schutzmasken über Mund und Nase zu den großen Plätzen der Stadt, dorthin, wo große Bildschirme normalerweise touristische Sehenswürdigkeiten bewerben. Nur hier können die Chinesen in diesen Wochen einen Sonnenball erblicken.

Auch in internationalen Medien fand die kuriose Geschichte vom virtuellen Sonnenauf- bzw. -untergang (so ganz können sich die Journalisten da nicht einigen) reichlich Beachtung.

In die Welt gesetzt wurde die Meldung von der nicht gerade für ihre Zuverlässigkeit bekannte “Daily Mail”, was aber niemanden der abschreibenden Journalisten gestört hat. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass der “Daily Mail”-Reporter gar nicht in Peking sitzt, sondern in New York. Oder dass die Bildschirme schon seit 2009 auf dem Platz stehen. Oder das Logo der Touristen-Behörde der Provinz Shandong, das man bei etwas näherer Betrachtung unten rechts auf dem Bildschirm erkennen kann — und das nicht ohne Grund dort zu finden ist.

Denn das Sonnen-Video hat in Wirklichkeit einen ganz anderen Hintergrund, wie ein Journalist aus Peking berichtet:

Die Wahrheit ist, dass der Sonnenaufgang sicher weniger als zehn Sekunden zu sehen ist — als Teil einer Tourismus-Werbung für die chinesische Provinz Shandong. Die Werbung wird jeden Tag gespielt, das ganze Jahr über; unabhängig davon, wie schlimm die Verschmutzung ist. Der Fotograf hat das Foto einfach in dem Moment geschossen, als der Sonnenaufgang erschien.

(Übersetzung von uns.)

Der Autor verweist auf ein ähnliches Werbe-Video auf der offiziellen Tourismus-Website von Shandong, in dem ebenfalls viele Sonnenaufgänge zu sehen sind — und fährt fort:

Schande über alle Medien, die diese Farce verbreitet haben. China hat durchaus seine Probleme, doch die Medien haben bewiesen, dass sie viel zu sehr darauf aus sind zu kritisieren, nur um über den Schock-Faktor Klicks zu generieren. Pekings Verschmutzung ist schon schlimm genug ohne diese unehrliche Sensationsgier.

Time.com, “CBS News” und andere internationale Medien haben sich inzwischen korrigiert. Die deutschsprachigen Medien nicht.

Mit Dank an Lars A.

Nachtrag, 23. Januar: “Spiegel Online” hat den Text transparent korrigiert.

Blick, HNA, Freizeit Spass

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Warum merken die nichts?”
(topfvollgold.de, Moritz Tschermak)
Die Zeitschrift “Freizeit Spass” versucht, ein Statement der früheren Verlobten von Thomas Hitzlsperger einzuholen: “In 999.999 von einer Million Fällen geben die Regenbogenhefte ihren Berichterstattungsopfern null Chance zur Stellungnahme, bevor sie einen Kübel Schund über sie ausgießen. Und ausgerechnet dann, wenn sie jemanden mit ihren dämlichen Fragen am besten einfach in Ruhe lassen sollten, rufen sie an oder schreiben eine Mail.”

2. “‘Blick’ blitzt vor Bundesgericht ab”
(persoenlich.com)
“Blick” verliert in letzter Instanz gegen Sänger Michael von der Heide und muss ihm eine Genugtuung von 5000 Franken bezahlen: “Laut Gericht hat der ‘Blick’ von der Heide öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben und ihn als Homosexuellen sowie für seinen Misserfolg als Sänger verhöhnt.”

3. “Liebe Fans des BVB”
(facebook.com/BVBorussiaDortmund09)
Fußball: Borussia Dortmund dementiert verschiedene angebliche Zitate ihres Spielers Marco Reus: “Wir sind übrigens froh über jeden einzelnen Journalisten, der heute Morgen das Telefon in die Hand genommen und gefragt hat: ‘Könnt Ihr uns bestätigen, dass dieses Zitat so gefallen ist?’ Unsere Antwort war stets dieselbe: Nein.”

4. “Sit Back, Relax, and Read That Long Story—on Your Phone”
(theatlantic.com, Megan Garber, englisch)
Megan Garber beschäftigt sich mit dem Leseverhalten der Nutzer von Mobiltelefonen.

5. “Start-ups im US-Journalismus: Sei das Medium!”
(carta.info, Christian Fahrenbach)
Unterschiede zwischen Journalistenschulen in Deutschland und in den USA: “Der Gedanke, selbst das Medium zu werden, steht seltener auf dem Lehrplan – dabei ist gerade das leichter als je zuvor.”

6. “Anklage gegen HNA-Redakteure”
(lokalzeitungskritik.de, L. Kiepe)
Zwei Redakteure der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen sind angeklagt, unerlaubterweise aus Ermittlungsakten zitiert zu haben. Die beteiligten Journalisten seien zu loben, findet Lukas Kiepe: “Mit ungebrochenem Elan, Ausdauer und schier unerschöpflicher Geduld berichtet die Kasseler Lokalzeitung seit Jahren über Missstände in der Justizvollzugsanstalt Wehlheiden.”