Als die Österreicherin Natascha Kampusch im Sommer 2006 nach achtjähriger Gefangenschaft plötzlich wieder auftauchte, begann im deutschsprachigen Journalismus eine Jagd. Eine völlig groteske Jagd, die nur ein einziges Ziel hat: Die Antwort auf die Frage, ob Natascha Kampusch Sex mit ihrem Entführer hatte.
Die Jagd beginnt im Jahr 2006. Am 23. August erfährt die Welt, dass das Mädchen wieder aufgetaucht ist. Acht Jahre lang war sie verschwunden, gefangengehalten von Wolfgang Priklopil, der sich noch am Tag ihrer Flucht das Leben nimmt. Jetzt ist sie frei und wohlauf, es ist eine Sensation. Überall auf der Welt berichten Medien über den spektakulären Fall aus Österreich. Und bereits zwei Tage später wird deutlich, was einige daran am allermeisten interessiert:
(…) Vielleicht hat er das Mädchen zu seiner Sex-Sklavin gemacht, vermuten österreichische Medien.
“Bild”, 25.08.2006***
(…) HAT DER KIDNAPPER SEIN OPFER SEXUELL MISSBRAUCHT?
“Aus meiner Sicht, ja”, meint die Polizistin. “Aber Natascha ist das noch nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht.”
“Bild”, 25.08.2006***
(…) Die Beamtin geht auch davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden ist – “doch das ist ihr nicht bewusst, sie ist der Meinung, es freiwillig gemacht zu haben”. Natascha schilderte auch den Tagesablauf in Gefangenschaft: Sie frühstückte mit der Sex-Bestie, musste im Haushalt helfen.
“Kronen Zeitung”, 26.08.2006***
Seine Sklavin – Sie musste für ihn putzen. Er forderte auch Sex von ihr
(…) Was spielte sich im Keller ab? Eine Polizistin sagt, sie glaube, dass Priklopil Natascha zum Sex zwang: “Aber sie sagt, sie habe das immer freiwillig gemacht.”
“Express”, 26.08.2006***
Zum Sex gezwungen? Natascha und ihr Entführer hatten intime Kontakte
Die mehr als acht Jahre gefangen gehaltene Österreicherin Natascha Kampusch hatte der Polizei zufolge sexuellen Kontakt zu ihrem Entführer.
“Nürnberger Nachrichten”, 28.08.2006
Nun, bis hierher unterscheidet sich dieser Fall nicht wesentlich von anderen, in denen entführte Kinder wieder aufgetaucht sind. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier über den “sexuellen Kontakt” zwischen Opfer und Entführer spekuliert wird, ist im heutigen BoulevardJournalismus nichts Ungewöhnliches und zum Teil sicherlich unserem eigenen Voyeurismus geschuldet. Detaillierte Schilderungen der durchlebten Qualen sind zum Pflichtprogramm in der Berichterstattung geworden; wer über ein entführtes Kind berichtet, berichtet im selben Atemzug auch über das, was es durchmachen musste. Es scheint, als gehöre das dazu.
Und wenn heutzutage deutsche Journalisten – so wie im Fall von Stephanie R. vor ein paar Jahren geschehen – in einer großen Magazingeschichte die Leiden eines 13-jährigen Mädchens nachzeichnen, das “mehr als 100-mal” missbraucht wurde, gehört es offenbar auch dazu, dass geschildert wird, wo und wann und wie der Entführer das Mädchen vergewaltigt hat – und woran es dachte, “während er in ihr” war. Der “Spiegel” jedenfalls hatte 2006 kein Problem damit, solche Details zu veröffentlichen.