Archiv für Januar 10th, 2012

Die Lümmel von der Bank

Es sieht nicht so aus, als ob sie sich bei “Welt Online” überhaupt Gedanken darüber hätten, ob sie die Angeklagten, die da im Ausland vor Gericht standen, anonymisieren sollten: Das Aufmacherfoto zeigt den Hauptangeklagten “beim Verlassen des Gerichts” bzw. beim nicht wirklich geglückten Versuch, sein Gesicht vor den Kameras zu verbergen. Unter dem Foto steht sein Name, der im Artikel noch weitere Male auftaucht, ebenso wie sein ehemaliger Arbeitgeber, sein Alter und die Namen, Altersangaben und Berufe der Mitangeklagten.

“Welt Online” schrieb im vergangenen August nicht über ein brutales Kapitalverbrechen, wo das Medium die identifizierende Berichterstattung noch mit dem immensen “öffentlichen Interesse” an dem Fall hätte rechtfertigen können, sondern über einen vergleichsweise unspektakulären Fall von “white collar crime” — Wirtschaftskriminalität, über die kaum ein anderes deutschsprachiges Medium berichtet hat.

Ein Leser des Artikels beschwerte sich beim Deutschen Presserat über die identifizierende Berichterstattung. Die Chefredaktion von “Welt Online” erklärte in ihrer Stellungnahme, “dass die Berichterstattung nicht die Intim-, Geheim- und Privatsphäre berühre, sondern allein die Sphären des Wirtschafts- und Berufslebens”. Die Berichterstattung betreffe “ausschließlich die Sozialsphäre”, in der das Persönlichkeitsrecht hinter dem Berichterstattungsinteresse der Öffentlichkeit (außer in Ausnahmefällen) zurückstehen müsse.

Die “Maßnahmen” des Presserates:

Hat eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein dazugehöriger Internetauftritt gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat aussprechen:

  • einen Hinweis
  • eine Missbilligung
  • eine Rüge.

Eine “Missbilligung” ist schlimmer als ein “Hinweis”, aber genauso folgenlos. Die schärfste Sanktion ist die “Rüge”. Gerügte Presseorgane werden in der Regel vom Presserat öffentlich gemacht. Rügen müssen in der Regel von den jeweiligen Medien veröffentlicht werden. Tun sie es nicht, dann tun sie es nicht.

Der Beschwerdeausschuss wollte sich dieser Meinung nicht anschließen: Zwar bestehe “ohne Zweifel” ein öffentliches Interesse daran, über die im Ausland erhobenen Vorwürfe gegen eine Frau und einen Mann aus Deutschland zu berichten. Im konkreten Fall finde die Berichterstattung jedoch ihre Grenzen in den Persönlichkeitsrechten der Angeklagten. Zur vollständigen und verständlichen Unterrichtung der Öffentlichkeit über die im Raum stehenden Vorwürfe seien die identifizierende Abbildung des Mannes und die Erwähnung beider Namen nicht notwendig gewesen. Mit Blick auf die Sozialsphäre und das persönliche Umfeld, welches die Angeklagten in Deutschland hätten, hätte “Welt Online” anonymisiert berichten müssen.

Insgesamt sah der Presserat den Verstoß gegen Ziffer 8 des Pressekodex durch “Welt Online” als so schwerwiegend an, dass er eine “Missbilligung” (s. Kasten) aussprach.

Feuilletons, Wulffplag Wiki, Fußgänger

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “Der Goldene Maulwurf 2011”
(umblaetterer.de, Paco)
“Tor in Fukushima!” von Marcus Jauer gewinnt den jährlichen Wettbewerb der “10 besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres” (Vorwort). Auf weiteren Plätzen finden sich Texte von Frank Schirrmacher, Roland Reuß, Judith Liere, Ulrich Stock, Tilman Krause, Samuel Herzog, Kathrin Passig, Ina Hartwig und Jürgen Kaube.

2. “Vom Glück, ‘Bild’ zu sein”
(stefan-niggemeier.de)
Stefan Niggemeier analysiert die Rolle von “Bild” in der Causa Wulff. “Wir haben in den vergangenen Wochen einiges Neues über den Charakter von Christian Wulff gelernt. Und nichts Neues über den Charakter der ‘Bild’-Zeitung.”

3. “Am Tropf von BILD”
(sprengsatz.de, Michael Spreng)
“Das Gefühl verstärkt sich von Tag zu Tag, dass auch die sogenannte seriöse Presse in der Wulff-Affäre die Besinnung verloren hat. Alle hängen irgendwie am Tropf von BILD und lassen sich täglich neu instrumentalisieren.”

4. “Wulffs Mailbox-Nachricht: Rekonstruiert via Crowdsourcing”
(onlinejournalismus.de, Fiete Stegers)
Das Wulffplag Wiki versucht “die möglichst genaue und objektive Auflistung der Vorwürfe gegen Christian Wulff”. Unter anderem wird eine “Rekonstruktion der Mailbox-Nachricht Wulffs” angestrebt.

5. “Kopfhörer und tödlich verunglückte Fußgänger”
(ad-sinistram.blogspot.com, Roberto J. De Lapuente)
Roberto J. De Lapuente prüft Zahlen von verunglückten Fußgängern, über die RTL “einigermaßen aufgescheucht” berichtet.

6. “Weihnachtsfernsehen: Im Herzen ein Engländer”
(wortvogel.de, Torsten Dewi)
“US-Blockbuster, Serienwiederholungen, unerträgliche Schlager-Specials und eine dröges Quiz nach dem anderen”, sieht Torsten Dewi im Weihnachtsprogramm von ARD und ZDF. “DAFÜR werden alljährlich Hunderte von Millionen Euro rausgehauen?”