Archiv für Mai 10th, 2011

Leichenschau

Beim Giro d’Italia, einem der wichtigsten Radsport-Etappenrennen der Welt, kam es am Montag zu einem schweren Unfall, bei dem einer der Teilnehmer tödlich verunglückte. Und weil bei großen Events jede Menge Kameras laufen und deshalb auch das passende Bildmaterial vorhanden ist, treten mit Bild.de und dem Online-Auftritt der “Hamburger Morgenpost” zwei der üblichen Verdächtigen den Pressekodex mit Füßen.

Unter Ziffer 11 — Sensationsberichterstattung, Jugendschutz heißt es:

Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.

Aus dem Pressekodex

Richtlinie 11.1:
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird.

Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.

Unter der Überschrift “Tod beim Giro” zeigt Bild.de eine Bildergalerie mit insgesamt drei Fotos, auf denen Rettungskräfte letztlich vergeblich versuchen, den sterbenden Radprofi wiederzubeleben.

Dazu schreiben die beiden Autoren:

Weylandt (…) soll auf der Abfahrt vom Passo del Bocco (957 m) etwa 25 km vor dem Ziel mit der rechten Pedale an der Felswand hängengeblieben und danach 20 m durch die Luft geflogen sein.

Weylandt knallte brutal auf das Pflaster, blutete stark aus Mund und Nase. “Wouter Weylandt war schon bewusstlos, als wir eintrafen. Wir haben 40 Minuten versucht, ihn zu reanimieren. Aber es war nichts mehr zu machen”, teilte Giro-Arzt Dr. Giovani Tredici mit.

Und von wegen Jugendschutz — heute schaffte es eines der Fotos des sterbenden oder bereits gestorbenen Radprofi sogar auf die Startseite von Bild.de:

Schwangere Freundin trauert um toten Rad-Star
(Unkenntlichmachung von uns)

Auch mopo.de hat keine Skrupel, ein Foto des Verunglückten zu zeigen — inklusive Lupensymbol, damit man sich den Sterbenden per Klick noch ein wenig genauer ansehen kann.

In einem zweiten Artikel auf mopo.de — ebenfalls mit Foto — heißt es ironischerweise sogar:

Aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen und die Teamkollegen hatte das italienische Fernsehen RAI keine Bilder vom direkten Unfallhergang gezeigt.

Soviel Feingefühl kann man leider nicht von jedem erwarten.

Mit Dank an die Hinweisgeber.

Katja Kessler, Neven DuMont, Gegenwart

6 vor 9

Um 6 Minuten vor 9 Uhr erscheinen hier montags bis freitags handverlesene Links zu lesenswerten Geschichten aus alten und neuen Medien. Tipps gerne bis 8 Uhr an [email protected].

1. “betr. Interview mit Katja Kessler”
(planet-interview.de, Jakob Buhre)
Fast die Hälfte der Antworten eines Interviews mit Katja Kessler, Autorin und Ehefrau von “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann, werden bei der Autorisierung wieder gestrichen. “Zu ihrer journalistischen Laufbahn befragt, sagte Frau Kessler: ‘Bild war mein großes Glück’. Dieses Zitat hat sie freigegeben. Dass sie mehrere Antworten zu diesem Medium, sowie Antworten zu den Fotos in ihrem Buch und zu Paparazzi-Fotos ersatzlos gestrichen hat, bedauern wir.”

2. “Wissenschaftsjournalismus für Dummies”
(wahrheitueberwahrheit.blogspot.com, Thomas)
Sechs Regeln zum Wissenschaftsjournalismus mit konkreten Beispielen: “Wichtiges kommt aus den USA! Machen sie es nicht kompliziert! Assoziieren sie! Meiden Sie Wikipedia! Recherchieren sie NIE!”

3. “Der tägliche Medienpranger im Fall Stefanie P.”
(kobuk.at, Marc Christian Halper)
Kobuk listet auf, was österreichische Medien im anlaufenden Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder einer Studentin vermissen lassen.

4. “Gegenwartsversessenheit”
(nzz.ch, Dieter Thomä)
Dieter Thomä konstatiert die Zeitkrankheit Gegenwartsversessenheit. Genauer analysiert werden der “Bann des Besitzstands, die Wut des Vergleichens und die Sucht des Synchronen.”

5. “Hasidic Paper Removes Hillary Clinton From Osama Picture”
(failedmessiah.typepad.com, englisch)
“Der Tzitung” schneidet Frauen aus einem vom Weißen Haus veröffentlichten Bild.

6. “Ich oder du, Alfred”
(magda.de, Philipp Maußhardt)
Philipp Maußhardt beschreibt, wie er seinen Job als Lokalchef des Kölner Stadt-Anzeigers verlor, weil er ein Foto des Verlegers Alfred Neven DuMont abdruckte: “Auf diesem Bild hatte der als äußerst eitel bekannte Neven DuMont nach etlichen ‘Glas Kölsch’ die Kontrolle über seine Gesichtszüge verloren, in der rechten Hand hielt er eine Zigarre, in der linken ein Kölschglas, dessen Inhalt auszukippen drohte. Die ansonsten wie Beton gegossene Frisur war verrutscht, die Haare hingen ihm in die Stirn. Alfred Neven DuMont lächelte selig und entrückt.”