Archiv für Februar 19th, 2011

“Unvermeidlich” oder “unverhältnismäßig”?

Am Donnerstagabend um 22.07 Uhr erschien auf Handelsblatt.com ein Artikel, der als “Kommentar von Rüdiger Scheidges” ausgezeichnet war. Über dem Text hätte aber auch “Ein Blick in die Glaskugel” oder “Eine Fernanalyse” stehen können, denn Scheidges wagte steile Prognosen:

Der noch amtierende Verteidigungsminister weiß es: In der Frage des Plagiats geht es für ihn um Ehre und Anstand. Wer geistiges Eigentum stiehlt, setzt seine Ehre aufs Spiel. Wer als ertappt gilt, kann seinen Anstand nur mit einem beweisen: mit seinem Rücktritt vom öffentlichen Amt. Denn das beschädigt er. Eine andere Möglichkeit, die eigene Ehre zu retten und einen Rest Anstand zu wahren, gibt es nicht.

Die Deutschen, die den Baron verehren, werden darauf vertrauen könne, dass ihr Idol sich entsprechend verhält und den Hut nimmt. (…)

Seine Glaubwürdigkeit hat er in den ersten Worten seiner Doktorarbeit versenkt – für immer und auch beim Volk. Sie waren geklaut. Es ist kaum anzunehmen, dass der hochintelligente Baron diese unverzeihliche Missetat jetzt nicht begreift. Er wird zurücktreten müssen – wenn nicht heute, dann morgen. Denn auch die Gunst einer Angela Merkel ist wankelmütig. Und das wird er jetzt am eigenen Leib merken.

Als am Freitag klar wurde, dass sich diese Prognosen leicht von den Einschätzungen und Plänen des Bundesverteidigungsministers unterschieden, war der Text online nicht mehr verfügbar.

Doch der Grund dafür lag offenbar nicht in der schlechten Vorhersage, sondern ganz woanders, wie uns das “Handelsblatt” auf Anfrage mitteilte:

Der Kommentar wurde aus dem Programm genommen, weil er der Chefredaktion unverhältnismäßig schien. “Das Gebot der Fairness gebietet es, die laufende Untersuchung der Universität Bayreuth abzuwarten und sich nicht mit voreiligen Rücktrittsforderungen in Szene zu setzen. Ich habe den Kommentar, in dem von ‘unverzeihlichen Todsünden’ die Rede war, die zum ‘unvermeidlichen Rücktritt’ des Verteidigungsministers führen müssten, als unverhältnismäßig empfunden”, sagte Chefredakteur Gabor Steingart.

Mit Dank an Michel V.

Unheilig

Bild.de berichtet heute über ein dreijähriges Mädchen, das in Sydney von einem Bus überfahren wurde und nahezu unverletzt überlebt hat. Nach Angaben des Onlinemagazins handelt es sich dabei um ein ganz besonderes Kind:

Claires Eltern glauben an ein göttliches Wunder. Als Baby wurde die heute Dreijährige von Papst Benedikt XVI heilig gesprochen.

Zu den vielen Punkten, die bei einer Heiligsprechung erfüllt werden müssen, zählt vor allem einer: der Betreffende muss tot sein. Und das ist Claire ja glücklicherweise nicht.

Was Bild.de eigentlich meint, steht zu Beginn des Artikels: Claire wurde als Baby bei einem Besuch des Papstes in Australien von ihm gesegnet.

Mit Dank an Thomas A., Daniel und Miguel T.

Nachtrag, 20. Februar: Bild.de schreibt jetzt, das Kind sei “von Papst Benedikt XVI gesegnet” worden.

Das weist auf Vorsatz hin

Traditionell im Februar wird in den deutschen Medien darüber verhandelt, was ein Plagiat sei, was geistiger Diebstahl und was ein Remix. Nach der bunten Debatte um “Axolotl Roadkill” im vergangenen Jahr wird nun über die Doktorarbeit von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg verhandelt. Und nach zwei Tagen des Eingroovens sind die Journalisten jetzt offenbar bereit für die Meta-Ebene.

Der Online-Auftritt der “Rheinischen Post” berichtete gestern Morgen über ein “nicht gekennzeichnetes Zitat, das unserer Redaktion zugespielt wurde”: zu Guttenberg zitiert großzügig aus dem Arbeitspapier “Europa zwischen rechtlich-konstitutioneller Konkordanz und politisch-kultureller Vielfalt” von Prof. Stefan Schieren, nennt aber weder Autor noch Quelle an irgendeiner Stelle seiner Dissertation.

“RP Online” schreibt dazu:

Zu Guttenberg hat den Text an einer entscheidenden Stelle geändert. Bei einem in Klammern gesetzten Hinweis wurden die Initialen des Originalautors entfernt. Aus “(i. e. Art. 100a EGV, St.S.)” ist in der Guttenberg-Version “[i. e. Art. 100a EGV]” geworden. Das weist auf Vorsatz hin.

Auch blick.ch berichtete am Nachmittag über den “brisanten Fund”:

Zu Guttenberg hat den Text an einer entscheidenden Stelle geändert. Bei einem in eckigen Klammern gesetzten Hinweis wurden die Initialen des Originalautors entfernt. Aus «(i. e. Art. 100a EGV, St.S.)» ist in der Guttenberg-Version «[i. e. Art. 100a EGV]» geworden. Was bedeutet das? Es weist auf Vorsatz hin.

Nachtrag, 21. Februar: Blick.ch hat sich bei “RP Online” entschuldigt und weist im Text jetzt inkl. Fußnote Link auf den Artikel von “RP Online” hin.